Dr. Regina Hunter

minimal lernen (E-Book)


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zu können in möglichst kurzer Zeit, möglichst angenehm.

      Das Lernen muss also verändert werden, indem man gerade die Vorbehalte und die Bequemlichkeit sowie den Wunsch, nicht zu viel zu machen, nutzt.

      Lernen müsste nicht eine Last sein, denn »Lernen ist buchstäblich kinderleicht«.10 Das Gehirn »kann nichts besser und tut nichts lieber« als lernen. Als Babys haben wir sehr gern und ausdauernd gelernt. Wir sind Tausende Male umgefallen und wieder aufgestanden, um laufen zu lernen, und das Ganze war lustig – was man sieht, wenn man sich die Fotos anschaut.

      »Lebewesen, die Natur und deren Strukturen, Prinzipien überhaupt, unser Zusammenleben und wie alles entstanden ist und wo wir herkommen – das ist alles höchst spannend. Es bedarf im Grunde schon erheblicher Anstrengungen, um Kindern das Fragen nach diesen Inhalten abzugewöhnen«,11 denn Motivation und Kooperation scheinen neurobiologisch verankert zu sein.12 Man müsste also eigentlich nicht motivieren,13 sondern Motivation ist generell verfügbar. Gehirne sind »wahre Lernmaschinen, Informationsaufsauger, Regelgeneratoren und zudem Motivationskünstler«.14 Das Lernen ist »nach der Liebe und Nahrungsaufnahme das Wichtigste im Leben eines Kindes«.15

      Das Gehirn steht laufend einer riesigen Menge an einstürmenden Eindrücken und Informationen gegenüber. Diesem Datenüberfluss gegenüber bedient sich das Gehirn einer effizienten Informationsverarbeitung und -speicherung durch radikale Reduktionsprozesse. Gedächtnisinhalte werden dabei in einer Form gespeichert, die das Wesentliche einfängt und Einzelheiten wenig festhält. Es wird nach den Regeln einer minimalen Mustererkennung vorgegangen. In der Gesichtserkennung z. B. werden Prototypen gespeichert, und in der Folge wird nur noch auf deren Abweichungen hingewiesen. So besteht ein natürlicher Drang des Gehirns, Muster, Regeln, Kategorien und Allgemeines zu erkennen. 70 % der neuronalen Aktivität im Gehirn wird denn auch von regelverarbeitenden Neuronen geleistet.16 Der Zugang zu den untergeordneten Informationen und Details wird über herausragende, wichtige Informationen, über markante Orientierungspunkte gelegt. Diese markanten Informationen wirken wie Leuchttürme, die in den vielen Informationen und Verbindungen Orientierung und Halt bieten und das Abrufen von ganzen Gebieten leiten und ermöglichen. Dabei werden aufgrund von minimalen Hinweisen und Regeln Zuordnungen vorgenommen, und diese führen zu einem Netz von neuronal aktivierbaren weiteren Inhalten. Wie im Gebiet der Sprache wird in einem generativen Prozess mit einer sehr kleinen Anzahl von Grundregeln und Elementen eine unendliche Anzahl von Sätzen und Ideen möglich.

      Lernen besteht dann im Setzen von minimalen Begriffen, die einen später wie Leuchttürme wieder durch das gelernte Gebiet führen werden.

      In verschiedensten Gebieten wird Minimalismus als sinnvolles Prinzip und zu erreichendes Ziel erkannt und angestrebt. So nimmt z. B. in der Architektur und der Kunst das Minimale als Stilrichtung bedeutenden Raum ein.

      Pflanzen, Organsysteme, genetische Codierungen und Sozialsysteme können nicht nur über ihre hochkomplexen geometrischen Formen beschrieben werden, sondern in der Fraktaltheorie durch die Wiederholung einfacher Regeln sogenannter Iterationen. »Was bei diesen Iterationen weiter auffällt, ist deren Einfachheit: Mandelbrot […] schreibt, dass der Algorithmus, um Fraktale zu erzeugen, normalerweise so ausserordentlich kurz ist, dass er geradezu dumm scheint.«17

      Diese Kürze und Einfachheit gilt ja z. B. auch für Einsteins Formel der Relativitätstheorie, und es könnte vielleicht gleichzeitig ergänzt werden, dass diese Einfachheit auch wunderschön ist. Einstein selbst schreibt: »Eine Theorie ist desto eindrucksvoller, je größer die Einfachheit ihrer Prämissen ist, je verschiedenartigere Dinge sie verknüpft und je weiter ihr Anwendungsbereich ist.« Und: »Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden, aber nicht einfacher.«18

      Informationsreduzierende Strategien sind notwendig, um ein Grundproblem der menschlichen Informationsverarbeitung und Kommunikation zu bewältigen. »Angesichts der begrenzten Kapazität unseres Arbeitsspeichers […] ist das menschliche kognitive System auf effektive informationsreduzierende und -organisierende Strategien angewiesen.«19 Aus der Fülle an Information muss das jeweils Wesentliche ausgewählt und verarbeitet werden.

      Kommt hinzu, dass in unserer Zeit der Globalisierung, der Beschleunigung und der im Westen hohen Verfügbarkeit an Waren Beschränkung eine Überlebensnotwendigkeit wird. Dies manifestiert sich im psychischen Bereich in einer Reihe von Schwierigkeiten. Den Überblick zu behalten in einer Zeit des sich immer schneller produzierenden Überflusses, ist nur möglich durch Strukturierung und Beschränkung.

      Für einen sinnvollen und produktiven Umgang mit dem unermesslichen Wissen, das wir durch das Internet erhalten können, brauchen wir zwei Dinge: erstens eine Wissensbasis und zweitens die Fähigkeit, Wichtiges auszuwählen und Unwichtiges wegzulassen bzw. zu vergessen. Wir müssen von minimalem Wissen aus funktionieren. Dazu ist es auch notwendig und angebracht, sich zu verabschieden davon, dass Bildung etwas Feststehendes, Großes, Unbewältigbares sei.

      Der Ökonom Pareto hat die nach ihm benannte Regel gefunden, die festhält, dass mit 20% an Aufwand 80% Ertrag erbracht werden kann.20 Minimalismus scheint also sinnvoll zu funktionieren. Es ginge dann darum, 80% an Lernstoff wegzulassen und die 20% an Wichtigem für den Lernerfolg zurückzuhalten.

      Schon Seneca (4 v. Chr. bis 65 n. Chr.) meinte: »Ein Jammer, dass auch die Römer die eitele Sucht ergriffen hat, sich mit überflüssigem Lernstoff zu belasten«, und die Griechen kritisierte er mit den Worten: »Es war ein krankhaftes Bestreben der Griechen, zu untersuchen, wie viele Ruderknechte Ulixes gehabt habe, was früher abgefasst sei, die Ilias oder die Odyssee, überdies, ob der Verfasser beider der nämliche sei, und noch manches andere dieser Art, das, wenn man es bei sich behält, als stiller geistiger Besitz uns nichts hilft, oder, wenn man es veröffentlicht, uns mehr lästig als gelehrt erscheinen lässt.«

      Wird minimal gelernt, kann das Gelernte als bewältigbar und einfach erfahren, erfasst und gespeichert werden. So können Lust, Erfolg und Beherrschung des Gelernten entstehen.

      Diese Minimierung ermöglicht auch, dass im Gehirn Raum und Kapazität entsteht für Neuverknüpfungen, die notwendig sind für das Lösen ähnlicher und andersartiger Aufgaben und die erst Kreativität ermöglichen. Dies ist nur möglich über einfache, minimale Konzepte oder in vereinfachte Kategorien übergeführte Konzepte. Diese gelernten Konzepte können auf den Kopf gestellt, neu verbunden werden – und daraus kann Neues geschaffen werden. Man kann nicht zu innovativen Erkenntnissen und Leistungen gelangen, indem man nur auf schon Bekanntes und Gewohntes aufbaut. Neue Erkenntnisse entstehen, indem man Komplexes in Einfaches zerlegt und daraus Neues kreiert.

      Dazu braucht es ein minimales Lernen, damit nicht zu vieles und zu Kompliziertes den Kopf zustellt und die Freude und Lust am Probieren und Spielen nimmt.

      Es geht nicht darum, möglichst viel oder alles zu lernen. Die Aufgabe ist vielmehr, Lernen von »viel und schwierig« zu »minimal und bewältigbar« zu verändern. In den nächsten drei Kapiteln werden die drei Bedingungen für ein Gelingen von Lernen dargestellt und anhand von Beispielen erläutert.

      1 Gladwell, 2008; Stedtnitz, 2007

      2 Stedtnitz, 2008, S. 90, 95

      3 Stedtnitz, 2008, S. 21

      4 Stedtnitz, 2008, S. 15

      5 Steiner, 2000, S. 125, 130; Herrmann in Caspary, 2006, S. 92 f.; Storch & Riedener, 2006, S. 69; Jäncke, 2009, S. 23, 309

      6 Spitzer, 2007, XVI, 1; Bergmann, 2008, S. 139

      7 Spitzer, 2007, S. 10.

      8 Spitzer, 2007, S. 182

      9 Erickson, 1995, S. 263

      10 Spitzer 2007, S. 14; auch in Messmer, 2005, S. 9, 61

      11 Spitzer, 2007, S. 194

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