Kinder, die z. B. laufen lernen, tun dies nicht in einem Defizitdenken. In ihrem Kopf spielt sich nicht ab: »Ich muss laufen lernen, mit dem Blick auf die Erwachsenen, die das perfekt, sogar auf einem Bein, rückwärts usw., beherrschen.« Sie vergleichen den Stand ihrer Leistung nicht dauernd mit dem der Erwachsenen. Die Kleinen machen es einfach, ohne das Ziel im Auge zu haben. Und sie scheinen Spaß und Freude zu haben – auch an dem, was nicht klappt. Sie gehen dabei genau nach der Devise der Computerspiele vor: »Es kommt überhaupt nicht darauf an; jede Bewegung ist später mal zu irgendetwas zu gebrauchen, und wenn es doch zu nichts führt, ist das auch interessant, dann mach ich das anders, und wir fangen sowieso einfach wieder von vorne an.« Der Wissens- bzw. Kompetenzerwerb wird also nicht laufend als sich in einem Minus befindend taxiert. Und dass dieses Vorgehen für das Erlernen eines so hochkomplexen Bewegungssystems überaus erfolgreich ist, und zwar fast immer und überall, zeigt ja die Tatsache, dass wir fast ausnahmslos alle perfekt gelernt haben, zu laufen.
Dies gilt aber nicht nur für motorische Fähigkeiten. Kleine Kinder lernen auch eine neue Sprache so leicht, denn »sie sind aufgeschlossener, treten der Sprache unbefangener gegenüber und haben keine Angst, Fehler zu machen. Sie wiederholen und assoziieren, sie hören aufmerksam, kopieren und imitieren.«70
Daraus kann ganz generell für ein Mastering geschlossen werden, dass es hilfreich und erforderlich ist, eine Atmosphäre nicht nur der Fehlertoleranz, sondern explizit der Fehlerfreundlichkeit zu schaffen. Fehler allein ermöglichen das Erkennen eines Unterschiedes. Von daher kann man sagen, dass Fehler für ein effektives Lernen und kreatives Wissen notwendig sind. Nur sie ermöglichen es, zu erkennen, zu differenzieren und mit Möglichkeiten zu spielen. Wenn ich beim Singen einen Ton, der außerhalb einer Melodie schwierig zu treffen ist, lernen will, muss ich ihn zu hoch und zu tief singen. Ich muss mir sagen, dies wären auch Möglichkeiten für den Komponisten oder die Komponistin gewesen. Wenn ich ihn zu hoch singe, kann ich meinem Gehirn sagen: »Das war zu hoch, so klingt der Ton zu hoch.« Dazu notwendig ist nicht nur ein Tolerieren, d. h. ein gelassenes Ertragen von Fehlern, sondern das aktive Aufsuchen von Fehlern als Erfahrung und Hinweis auf das, wozu man sich nicht entscheiden will. Und unter Umständen werde ich mich in einem fortgeschrittenen Stadium gerade für einen Fehler, für eine spannende Dissonanz entscheiden wollen. Lernen wird dann zu einem spannenden Spiel mit verschiedenen Möglichkeiten und nicht zu einer angstbesetzten Geschichte von Versagen und Ausgrenzung. Wird diese Fehlerfreundlichkeit gelebt, kann Lernen spannend sein und Spaß machen und es geschieht das einzig Wichtige beim Lernen, nämlich dass man dabeibleibt und lernt.
Verschiedene Autoren (wie z. B. Stedtnitz) meinen, dass Fehler und Rückschläge nicht nur gelassen hinzunehmen, sondern gegenüber dem Kind immer wieder als Lernmöglichkeiten umzudeuten sind.71 Köhler spricht davon, »dass Schule ein Ort sein sollte, wo Fehler, wo das Misslingen als Quelle des Schöpferischen gelobt und zugelassen wird, wo die Schüler lernen, dass Lernen auch immer durch Misserfolge zum Erfolg führt, dass Lernen ein Versuchen ist«.72
So haben Grundschülerinnen und Grundschüler, die nach einer Textlektüre eine bewusst teilweise verfälschte Concept Map über einen Text korrigieren und ergänzen durften, in ihrem erreichten Wissen effektiver abgeschnitten als Schülerinnen und Schüler, die selbst eine solche Map konstruierten.73
Das Ziel wäre, Fehler und möglichst viele Fehler als positiv und bereichernd willkommen zu heißen. Ist diese Fehlerfreundlichkeit und Gelassenheit etabliert, kann manchmal auch ein massives Über-die-eigenen-Möglichkeiten-Hinausgehen und eine momentane Überforderung zu großen Schritten oder quantitativen Sprüngen führen. Dies geschieht dann nicht in einem Rahmen, der bedrohlich wäre.
Wird diese Fehlerfreundlichkeit gelebt, kann weiter auch dem etablierten Wissen mit einer Haltung von Mut und Entdeckergeist entgegengetreten werden. Dann darf angenommen werden, dass Erkenntnisse noch unvollkommen und vielleicht auch teilweise falsch sein können. Dazu sei an alle früheren Lehrsätze erinnert, die durch neues Wissen über Bord geworfen werden konnten: So wurde z. B. als Lehrsatz doziert, dass das zentrale Nervensystem als unveränderbar anzusehen sei. Heute jedoch ist klar, dass das Gehirn stark veränderbar ist und sich sogar je nach Nutzung anders strukturiert.74 Diese kritische und lustvolle, entdeckerische Begegnung und Haltung ist jedem Wissen gegenüber notwendig und angebracht. Sie ermöglicht dann auch die Infragestellung und Erneuerung von bereits vorhandenem Wissen.
»Das allen sehr vertraute ›Rotstift-Milieu‹ bewirkt eine geistige Defizitorientierung, die schleichend zu einer Haltung werden kann, die nicht nur geistige Kapazitäten blockiert, sondern auch die Seele einengt«. Diesen von Bach nicht nur für die Schüler-, sondern auch für die Lehrerseite beschriebenen Mechanismus gilt es zu verlassen und zu ersetzen.75 Alternativen formuliert Müller: »Schriftlich formulierte Vergleichswerte bilden eine der Grundlagen für eine kompetenzorientierte (im Gegensatz zu einer selektionsorientierten) Lernkultur. Lernen findet dann eben nicht in einem verminten und fallendurchsetzten Gelände von Noten und Prüfungen statt.«76 Wissen und Lernen können so auch zu einem andauernden Experiment werden, an dem wir teilhaben können.
Mastering umgesetzt
Gefühle von Beherrschung und Erfolg prägen uns schon sehr früh. Arnold verweist auf eine Studie von Brinck (2007) zur elterlichen Kommunikation und zu deren schichtspezifischer Abhängigkeit, die die Anzahl Ermunterungen bzw. Entmutigungen, die Kinder bis zu einem bestimmten Alter erfahren haben, erfasst: »Bis zum dritten Lebensjahr hatten die Mittel- und Oberschichtkinder 500 000 Ermunterungen und 80 000 Entmutigungen gehört. Die Kinder von Sozialhilfeempfängern erlebten es umgekehrt: Sie hörten von ihren Eltern 75 000 Ermunterungen und 200 000 Entmutigungen.«77 Wenn zusätzlich zu den Ermutigungen zu Hause Wissen zur Verfügung steht und vorgelernt wird, erfährt man nachher in der Schule, dass man einiges schon weiß: Es entstehen Erfolgsgefühle und das Erleben: »Das ist ja gar nicht schwer.« Dieser Vorsprung der bildungsnahen Schichten vergrößert sich in der Schule immer weiter. Lernen wird dann als einfach, erfolgbringend und angenehm vom Gehirn erlebt und verarbeitet. Bei Kindern aus bildungsnahen Schichten führt ein Vorsprung im Wissen so zu Mastering. Tatsächlich haben Kinder, die mit deutlichen Vorkenntnissen die Schule beginnen, nachweislich den größten Schulerfolg in den betreffenden Fächern.78 Inhaltliches Vorwissen als Lernvoraussetzung spielt ganz generell für den weiteren Wissenserwerb eine herausragende Rolle.79 Diese positive Lerngeschichte führt zu einer steten Aufwärtsspirale bezüglich des Schulerfolgs, aber auch bezüglich der positiven Beziehung zu Lehrkräften und Klassenkameraden. »Deshalb kann dem Aufbau einer möglichst positiven Lerngeschichte besonders in den ersten Schuljahren gar nicht genug Bedeutung beigemessen werden.«80
In internationalen Vergleichstests in Mathematik sind Kinder aus China, Japan und Korea westlichen Kindern regelmäßig überlegen.81 Da chinesische Zahlwörter, z. B. »si« für 4 und »qi« für 7, sehr viel kürzer sind als »vier« und »sieben« im Deutschen (oder »four« und »seven« im Englischen), können Kinder, die chinesischer, japanischer oder koreanischer Muttersprache sind, sich Ziffern einfacher und schneller merken und sie leichter aneinanderreihen. Chinesische Kinder können sich z. B. Zahlenfolgen von sieben Ziffern merken, was nur die Hälfte der westlichen Kinder schafft. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, »dass wir die Zahlen zwischen 13 und 99 nicht in der Reihenfolge aussprechen, in der wir sie schreiben: Wir schreiben 14, 15, 18, aber wir sprechen vier-zehn, fünf-zehn, acht-zehn. Im Deutschen ist das Zahlensystem also äußerst unregelmäßig. Anders im Chinesischen, Japanischen und im Koreanischen, die ein vollkommen logisches Zahlensystem besitzen: 11 ist zehn-eins, 12 ist zehn-zwei, 24 ist zwei-zehner-vier und so weiter.«82 Wenn ein deutschsprachiges Kind dann siebenunddreißig und zweiundzwanzig addieren soll, muss es diese Zahlen zuerst im Kopf in die richtigen Ziffern verwandeln, also in 37 + 22. Erst dann ist es möglich, die entsprechende Rechenoperation durchzuführen. Ein asiatisches Kind muss hingegen nur drei-zehner-sieben und zwei-zehner-zwei addieren, das heißt, die Rechenaufgabe ist in der sprachlichen Formulierung bereits enthalten. Während wir weiter beim Bruchrechnen von drei Fünfteln sprechen, heißt es im Chinesischen bildlich »von fünf Teilen nimm drei«, was eine Erklärung des Bruchs ergibt und die eindeutige Unterscheidung zwischen Zähler und Nenner ermöglicht. Fuson meint, dass das asiatische