Lernprozess machen sie individuell durch. Es gibt kein Ziel, das eine Lerngruppe oder Schulklasse gemeinsam erreichen muss.
Es gibt Ausnahmen, die allerdings nicht die ganze Gruppe betreffen: wenn man zum Beispiel innerhalb einer Lerngruppe Projektgruppen oder Transfergruppen bildet. Diese Gruppen erfüllen dann durchaus die Kriterien der oben aufgeführten Definition.
Daher stellt sich die Frage, was man als Lehrperson tun kann, damit eine Klasse oder Lerngruppe zu einer Gruppe im oben definierten Sinne werden kann.
Das übergeordnete Ziel für eine Lerngruppe oder Klasse: die Lernkultur
Damit eine Lerngruppe oder Klasse ein übergeordnetes Ziel bekommt, empfiehlt sich die Schaffung einer gemeinsamen Lernkultur. Diese wird mittels eines Contractings zur Diskussion gestellt (z.B. Steins, 2014; Ulich, 1974; besonders Stanford, 2017).
Steins (2014) weist eindrücklich die Zusammenhänge zwischen Verhaltensstandards, Zusammenhalt unter den Lernenden und der Produktivität nach. Durch Normen kann der Zusammenhalt unter den Lernenden gefördert werden, was sich dann positiv auf die Lernleistung auswirkt.
Ulich schlägt als Gruppenziel vor, mittels eines interessanten Unterrichts das gemeinsame Lernen zu fördern und gleichzeitig sozial-emotionale Bedürfnisse (wie z.B. Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Anerkennung, Kompetenzerfahrung etc.) abzudecken.
Die Wirkung eines Ziels
Ein gemeinsames Ziel gibt einer Lerngruppe beziehungsweise Klasse eine Richtung. Im nächsten Kapitel, «Vom Zielpool zum Gruppenvertrag», wird der Aspekt des gemeinsamen Ziels vertieft.
Teil 2: Mit Dynamik unterwegs
Vom Zielpool zum Gruppenvertrag – Contracting
Abstract
Wenn Menschen zusammenkommen, dann haben sie ganz unterschiedliche Ziele. Stahl beschreibt dies als Zielpool. Es gibt darin vier Arten von Zielen: gesetzte öffentliche Ziele, wählbare öffentliche Ziele, gesetzte nicht öffentliche Ziele, gesetzte nicht öffentliche Ziele. Um hier der Gruppe eine innere Zielstruktur zu geben, empfiehlt es sich, eine Zusammenarbeitsvereinbarung mit der Gruppe abzuschließen. Ich nenne diese schriftliche oder mündliche Vereinbarung zwischen den Teilnehmenden und der Lehrperson Contracting4. Viele Probleme treten auf, weil diese, unterschätzte gruppendynamische Intervention nicht durchgeführt wird. Man mag sie nicht für notwendig halten oder man ist sich der präventiven Wirkung dieser Intervention nicht bewusst. Ein gutes Contracting ist die Basis für die Zusammenarbeit und beugt gleichzeitig Problemen vor. Bei einem Contracting muss darauf geachtet werden, dass nicht von der Lehrperson einseitig verordnet wird, was gelten soll. Ein richtiges Contracting beinhaltet eine echte Mitsprache und Mitbestimmung der Teilnehmenden. Welche konkreten Punkte verhandelt werden, hängt von den Umständen ab.
«Frage nicht, was dein Land für dich tun kann. Frage, was du für dein Land tun kannst.»
Dieses berühmte Zitat von John F. Kennedy mag in diesem Zusammenhang etwas befremdlich klingen. Aber es geht nicht um das Thema «Land», sondern um die Haltung, die dahintersteckt. Die Haltung lautet: Ich gebe etwas. Sie kann gut auf Lehr-Lern-Prozesse übertragen werden: «Frage nicht, was deine Lehrperson für dich tun kann. Frage, was du zu deinem Lernen beitragen kannst.»
Es geht nun nicht darum, dass die Lernenden und Teilnehmenden allein für ihren Lernerfolg verantwortlich sind. Im Bereich der Berufsfachschulen, der Weiter- und Erwachsenenbildung (hier sind es letztlich die Anforderungen aus der Arbeitswelt) geht es auch um die Förderung der Selbstverantwortung. Mit dem Gruppenvertrag oder Contracting verfügen Lehrpersonen über ein Instrument, um eine Lehr- und Lernkultur zu implementieren, die auf geteilter Verantwortung beruht.
Welches Ziel kann bei einer Lerngruppe oder Klasse implementiert werden, wenn es nicht um ein individuelles Lernziel geht? Wichtige Hinweise dazu gibt Ulich: «Im Vergleich zu anderen Arbeitsgruppen besteht die hervorstechendste Besonderheit der Lerngruppe darin, dass hier die soziale Differenzierung und Strukturierung nicht im Zug einer zielbestimmten Arbeitsteilung, sondern im Zuge sozialer Auseinandersetzung stattfindet» (1974, S. 64).
Der Zielpool
Die Teilnehmenden haben ihre individuellen Ziele
Wenn wir uns zu Gruppen zusammentun, fügt jeder der Beteiligten seine persönlichen Ziele in den großen gemeinsamen Topf, in den Zielpool der Gruppe (Stahl, 2017).
Die in dieser Gesamtheit befindlichen Ziele bilden wie Fische im Aquarium ein System. Sie stehen untereinander in Beziehung, wirken aufeinander ein und lassen so im Verlauf der gemeinsamen Aktivität ein unverwechselbares Beziehungsgeflecht entstehen. Der Zielpool setzt sich nach Stahl aus vier Zieltypen zusammen (siehe Abbildung 4).
Vier Zieltypen im Zielpool
Dabei ist es wichtig, die gemeinsamen Ziele für alle transparent zu machen. Dabei lassen sich die Typen von Zielen unterscheiden:
Die gesetzten öffentlichen Ziele sind die Kursauschreibungen. Sie werden manchmal vorgegeben mit Überzeugung, Zwang oder Druck, ein Lernziel oder einen Abschluss zu erreichen. Es sind auch die Lernziele, die von der Kursleitung bekannt gegeben werden.
Die wählbaren öffentlichen Ziele sind persönliche Entwicklungsziele oder Wünsche, die im Kurs genannt werden.
Nicht öffentliche wählbare Ziele stammen von den Lernenden: Ich will mich rausziehen und nicht aktiv mitmachen. Ich will mit möglichst wenig Engagement das Zertifikat erhalten. Ich will mal etwas wagen, was ich noch nie gemacht habe. Ich will neue Leute kennenlernen. Ich will mich persönlich weiterentwickeln. Ich will mehr Sicherheit im Thema gewinnenAus verschiedenen Gründen werden diese Ziele nicht öffentlich deklariert: Man hat nicht daran gedacht, man findet etwas selbstverständlich, oder man schweigt aus Scham oder Verdrängung. Oder ein persönliches Ziel ist mit den allgemeinen Zielen der Gruppe unvereinbar und man traut sich nicht, darüber zu reden.
Die gesetzten nicht öffentlichen Ziele sind die Ziele der Kursleitung: Die Teilnehmenden sollen brav sein. Sie sollen sich anpassen. Sie sollen keine kritischen Fragen stellen. Ich will eine gute Beziehung zwischen mir und den Teilnehmenden. Ich wünsche mir großen Einsatz von den Teilnehmenden. Ich will, dass sie Verantwortung übernehmen. Diese Ziele werden aus Flüchtigkeit, Taktik und Rücksichtnahme auf institutionelle Tabus oder dem Wunsch nach Zugehörigkeit verschwiegen.
Der Gruppenvertrag: Contracting
Ein Gruppenvertrag, Contract, ist ein wirksames Mittel, um für die Zusammenarbeit Klarheit zu schaffen. Dabei ist es wichtig, die Lernenden als eigenständige Vertragspartei ernst zu nehmen und die Bedingungen nicht einseitig zu diktieren.
Ein Vertrag kann wie folgt entstehen:
1 Die Lernenden werden ausführlich über die Inhalte, Themen, Methoden und Bedingungen informiert, damit sie sich ein Bild machen können, was auf sie zukommt.
2 Die Lernenden entwickeln ihre eigenen Entwicklungsziele.
3 Die Lehrperson deklariert, was für sie für eine gute Zusammenarbeit wichtig ist. Damit erhalten die Lernenden Orientierung zum Umgang untereinander und mit der Lehrperson.
4 In einem weiteren Schritt beschreiben nun die Teilnehmenden, was sie brauchen, um gut lernen zu können. «Was braucht ihr, um die Lernziele und eure persönlichen Entwicklungsziele gut erreichen zu können a) von euch selbst, b) von der Gruppe und c) von der Leitung?» Die Antworten werden zuerst in Einzelarbeit, danach in Gruppen erarbeitet.