Emil Wettstein

Berufsbildung (E-Book)


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1908 erhielt der Bund auch die Kompetenz, «über das Gewerbewesen einheitliche Vorschriften aufzustellen». Das Volk stimmte einer diesbezüglichen Ergänzung der Bundesverfassung zu und entsprach damit einer langjährigen Forderung des Gewerbeverbands. [1908a] Aber erst 1930 erlässt er – als erster (weil vergleichsweise am wenigsten umstrittener) Teil der Gewerbegesetzgebung – das «Bundesgesetz über die berufliche Ausbildung» (BbA). Es legt fest, dass ein schriftlicher Lehrvertrag zu unterzeichnen ist, dass die Lernenden neben der Ausbildung in Betrieben fachlichen Unterricht besuchen und gegen Schluss der Lehre die Lehrabschlussprüfung ablegen müssen. Es sieht neben der beruflichen Grundbildung bereits die Meisterprüfung vor, erste Angebote der höheren Berufsbildung. Der Gültigkeitskreis des Gesetzes bleibt aber auf das Gewerbe beschränkt, weil es auf dem Gewerbeartikel der Verfassung fusst. Immerhin bekommt es dank einer breiten Auslegung des Begriffs «Gewerbe» auch Gültigkeit für Industrie, Handel und später zusätzlich für einen Teil des Dienstleistungssektors.

      Entstehung und Inhalt des ersten Bundesgesetzes zur Berufsbildung: Kapitel 05

      Die land- und milchwirtschaftliche Berufsbildung wird, wie oben dargelegt, ab 1951 in einem Gesetz zur Förderung der Landwirtschaft geregelt. Die Kompetenz zur Regelung der Ausbildung von Berufen des Sozial- und Gesundheitswesens sowie der Kunst erhält der Bund erst bei einer weiteren Revision der Bundesverfassung 1999, siehe hier.

      Wegen der Wirtschaftskrise kann das 1930 beschlossene Berufsbildungsgesetz erst 1933 in Kraft treten. 1929 ist das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) geschaffen worden, dessen Sektion Berufsbildung für den Vollzug des Gesetzes zuständig ist. Es hat seine Kräfte aufzuteilen: Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit hat in den 1930er-Jahren hohe Priorität, denn die Wirtschaft leidet unter der grössten Depression des Jahrhunderts. Erstmals versucht man, sie auch mit Aus- und Weiterbildung von Stellenlosen zu bekämpfen. Umschulungsmassnahmen, z. B. zur Ausbildung von Konfektionsschneiderinnen und Maurern, bewähren sich nicht. [1932b] Viel Erfolg haben die sog. Berufslager, Ausbildungsstätten in Verbindung mit Unterkunftsmöglichkeiten, z. B. das Berufslager für arbeitslose Metallarbeiter in der Hard bei Winterthur, eröffnet 1935. Ihr Ziel ist der Erhalt und der Ausbau erworbener Kompetenzen. 1936 finden über 200 Kurse mit gegen 7000 Teilnehmenden statt. [1935f; 1936d]

      Der Depression folgt schon bald der Zweite Weltkrieg. Wieder muss der Vollzug des Berufsbildungsgesetzes im BIGA gegenüber anderen Prioritäten zurückstehen. Immerhin – bis Kriegsende sind Ausbildungs- und Prüfungsreglemente für 154 Berufe genehmigt, womit etwa 90 Prozent aller Lehrverhältnisse erfasst werden [1953a]. 475 gewerbliche, kaufmännische und Handelsschulen bieten beruflichen Unterricht an, hauswirtschaftliche Bildung findet an 1100 Schulen statt.

      Bis 1950 erlassen 24 Kantone Einführungsgesetze, Basis für den Aufbau der nötigen Behörden bei den Kantonen. Ihre Koordinationsorgane, die DBK und die CRFP, werden nach und nach von Erfahrungsaustauschgruppen der Amtschefs zu aktiven Koordinationsorganen. Nachdem anfänglich vor allem der Schweizer Gewerbeverband den Bund bei Vollzugsaufgaben wie der Gestaltung von Lehrverträgen und der Organisation von Abschlussprüfungen unterstützte, übernehmen nun die kantonalen Behörden und ihre Koordinationsorgane viele dieser Aufgaben.

      Trotzdem − es dauert bis in die 1950er-Jahre, bis genehmigte Ausbildungs- und Prüfungsreglemente für 98 Prozent der Ausbildungsverhältnisse bestehen. Auch die Entwicklung von Normallehrplänen für die Berufsschulen verzögert sich bis weit in die 1940er-Jahre hinein.

      Mehr zum Vollzug und zur Finanzierung in Kapitel 10

      Hat sich die Zahl der Lehrverhältnisse seit 1933 nur wenig entwickelt, so beginnt sie ab 1942 zu steigen und verdoppelt sich innert 20 Jahren siehe Grafik 1. Von den rund 350 000 Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren besuchen 1935 57 000 eine Berufslehre, 15 300 eine der sechs Jahre dauernden Oberen Mittelschulen (Gymnasien) oder ein Lehrerseminar und 11 000 eine «berufliche Bildungsanstalt» (Handelsschule, Technikum, gewerbl. Fachschule). Knapp 2 000 erwerben eine Maturität (2,8 Prozent des Jahrgangs), 18 000 (26 Prozent) schliessen die Berufslehre erfolgreich ab und schätzungsweise 3 500 eine berufliche Vollzeitschule (5 Prozent). Zwei Drittel aller Jugendlichen treten somit ohne erfolgreich absolvierte Ausbildung ins Erwerbsleben über. (Stat. JB 1936, Betriebszählung, eigene Berechnungen)[1]

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      Grafik 1 Lernende in Berufslehren und in Mittelschulen (Quellen: BfS, BIGA)

      Diese Zahlen zeigen: Die Berufslehre ist keineswegs der einzige Weg, sich für die Erwerbstätigkeit zu qualifizieren. Viel üblicher − vor allem in Landwirtschaft, Industrie und Hausdienst − ist die informelle Einführung in die aktuell anfallende Arbeit, als «Anlernung» bezeichnet. Das neue Gesetz enthält deshalb auch eine Bestimmung, wonach Angelernte sich zur Lehrabschlussprüfung melden können, ohne eine Berufslehre besucht zu haben, vgl. hier.

      Nachdem der Bund 1884 mit der Subventionierung der gewerblichen, kaufmännischen, land- und hauswirtschaftlichen Fortbildungsschulen beginnt, wächst ihre Zahl massiv. Zeitweise wurde an über 600 Orten landwirtschaftliche Berufsbildung betrieben, an über 1000 Hauswirtschaft vermittelt. Mit dem Ziel, berufsreine Klassen bilden zu können, sind die Behörden im ganzen 20. Jh. bestrebt, die vielen Schulen zu grösseren Einheiten zusammenzulegen. Die Zahl der gewerblich-industriellen Berufsschulen sinkt deshalb von 1930 bis 2000 von rund 360 auf 130, die kaufmännischen innert sechzig Jahren von 200 auf 60. (BdBR, BfS, eigene Berechnungen)

      Während viele Berufsschulen in kleinen und mittleren Städten bis nach dem Zweiten Weltkrieg noch im Untergeschoss oder in einem Nebengebäude einer Volksschule untergebracht sind, haben grössere Städte, z. B. Basel, Bern und Zürich grosse repräsentative Bauten geschaffen, denen oft Werkstätten angegliedert wurden.

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      Abbildung 6 In den 1930er-Jahren erhält die Berufsschule Zürich am Sihlquai ihr erstes eigenes Schulhaus, in das auch die Kunstgewerbeschule mit ihrem Museum einzieht [1893l]. Die Orientierung am Bauhausstil trägt dazu bei, dass es einem modernen Fabrik- oder Bürohaus gleicht. Die Jahrzehnte früher gebauten Gymnasien orientierten sich eher an Palastbauten (e-pics. ETHZ/BAZ)

      Die Schulleitungen verstehen in den 1920er- und 1930er-Jahren ihre Aufgabe nicht nur in der Vermittlung der Theorie, sondern auch im Schliessen von Lücken in der praktischen Ausbildung. Der Bund sieht dies anders, nicht zuletzt wegen den hohen Kosten dieser Werkstätten. Mit den neuen Kompetenzen ausgestattet, weist er ab 1933 die Schulen an, sich auf die Theorie zu konzentrieren und statt Praxisübungen Unterricht zu berufsübergreifenden Themen wie Rechnen, Korrespondenz und Buchführung anzubieten. So setzt sich die seither übliche Arbeitsteilung durch, wonach der Lehrbetrieb für die praktische Ausbildung und die Berufsschule für den berufskundlichen und geschäftskundlichen bzw. (ab den 1960er-Jahren) allgemeinbildenden Unterricht zuständig ist.

      Berufsschulen sind auch Thema der Kapitel 21 bis 23

      Im 19. Jahrhundert wächst die Zahl der Erwerbstätigen, die in der Industrie tätig sind, von 1000 auf 277 000. 1960 wird der Höhepunkt mit 830 000 erreicht, mit 33 Prozent aller Erwerbstätigen, siehe Grafik 2.

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      Grafik 2 Erwerbstätige in der Industrie, absolut und relativ zur Wohnbevölkerung. (Elsasser