sind es Handwerker und Bauern, die den Schritt wagen, in Fabriken zu arbeiten bzw. infolge mangelnder oder schlecht bezahlter Arbeit dazu gezwungen werden. [1819a] Sie müssen nicht nur neue Fertigkeiten erwerben, sondern sich an eine neue Kultur anpassen: feste Arbeitszeiten, klare Trennung zwischen Freizeit und Arbeit (ein Schwatz oder eine Rauchpause sind nicht mehr erlaubt), Akkordarbeit etc.
Für anspruchsvollere Arbeiten werden bewährte Handwerker geholt, denen aber die veränderte Kultur oft Probleme bereitet, alle übrigen werden «angelernt». Das heisst, sie werden für einige wenige Verrichtungen qualifiziert, wobei in den 1920er-Jahren Psychologen beigezogen werden, um die Anlernung so zu gestalten, dass die Angelernten möglichst rasch eine möglichst hohe Produktivität erreichen.
Aber nicht alle Angelernten führen «Primitiv- und Repetitivarbeiten» aus. (Jeangros 1955, 23) Im 20. Jh. entwickeln sich manche zu erfahrenen Spezialarbeitern, die «von Weniger viel Mehr wissen und können» als gelernte und erfahrene Handwerker (ebd.) und die zu Unrecht als «Arbeiter zweiter Klasse» betrachtet werden. Es wird sogar diskutiert, ob nicht die Anlernung für die Industrie eine sinnvolle Alternative zur Berufslehre sein könnte, die sich eher an den Bedürfnissen des Gewerbes orientiert.
Es kommt anders: Nachdem einzelne Grossfirmen wie Sulzer bereits Mitte des 19. Jh. begonnen haben, jungen Männern eine Berufslehre zu vermitteln, wird diese Form der Vorbereitung auf die Industriearbeit bis Ende des 20. Jh. zum Normalfall. Allerdings: Dies geschieht anders als im Gewerbe. Angesichts der streng getakteten, arbeitsteilig organisierten Industriearbeit «stören» Anfänger die Abläufe, und niemand hat Zeit, sie einzuführen. Ab 1870 richten Industriefirmen «Lehrwerkstätten» ein, in denen die Lehrlinge die ersten Monate, ja oft sogar zwei Jahre verbringen, bevor sie in die Produktion wechseln. [Betriebl. Lehrwerkstätten] Dies gilt besonders für die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie, später aber auch für die chemische Industrie (Lehrlabors, Pilotwerke) und für den Handel (Übungsbüros).
Abbildung 7 In der industriellen Schuhproduktion arbeiten in erster Linie angelernte Arbeiterinnen und Arbeiter. Manche von ihnen erwerben sich ein grosses, hochspezialisiertes Erfahrungswissen. Sie werden zu Spezialarbeiterinnen und Spezialarbeitern mit allen Vor- und Nachteilen einer spezialisierten Ausbildung (Vamus, Industriekultur)
Nicht nur der Lernort ändert, auch die Zielsetzung der beruflichen Grundbildung ändert sich, denn neue Arbeitsformen verlangen andere Qualifikationen. Zum Beispiel die Fähigkeit, zu planen und die eigene Arbeit zu kontrollieren, in Teams zu arbeiten, sich den dynamisch ändernden Fertigungsverfahren anzupassen. Und vor allem: Je mehr industrielle Arbeit automatisiert wird, umso mehr ändert sich die Zielsetzung der Berufslehre. Sie bereitet nicht mehr auf eine Berufsarbeit vor, sondern auf ein Studium in der Tertiärstufe. Denn gesucht sind nicht mehr Arbeiter, sondern es wird auf Tertiärniveau technisch und betriebswirtschaftlich geschultes Personal gesucht, das aber auch eine praktische Ausbildung vorweisen kann.
Mit der Einrichtung von Lehrwerkstätten und vergleichbaren Lernorten wurde im 19. Jahrhunderts die Einführung in die Praxis aus der Produktion hinaus verlagert. Im Rahmen der Bemühungen um die Konzentration auf Kernfunktionen («Outsourcing») verlagern viele Unternehmen seit Ende des 20. Jahrhunderts Organisation und Management der Lehrlingsausbildung aus den Unternehmen hinaus in spezielle Organisationen. Es entstehen «Ausbildungsverbünde», die diese Funktionen für eine Gruppe von Betrieben in deren Auftrag und zu deren Lasten übernehmen.[2] Den Beginn machten 1993 die Firmen SIG und Georg Fischer Schaffhausen [1993b]. Ihnen sind seither die meisten grossen Unternehmen der MEM-Industrie und der Chemie sowie Verkehrsbetriebe gefolgt. [Ausbildungsverbund]
Berufsbildung in industriellen Betrieben: siehe Kapitel 14
Weiterbildung wird zum Thema
Für die Nachkriegszeit wurde eine grosse Arbeitslosigkeit befürchtet. Es kommt anders, die Wirtschaft entwickelt sich dynamisch, bald schon klagt sie über einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Die in den 1930er-Jahren aufgebauten Berufslager werden mit der «beruflichen Förderung von Arbeitslosen und Heranbildung von Qualitäts- und Spezialarbeitern» beauftragt. Erstmals lanciert also der Bund Weiterbildungsmassnahmen zur Nachqualifizierung von Erwachsenen ohne oder mit einer veralteten Berufsausbildung. Manche Berufsschulen beginnen, Weiterbildungskurse anzubieten, und Berufsverbände gründen Fachschulen als Träger von beruflicher Weiterbildung und zur Vorbereitung auf die Höheren Fachprüfungen (Meisterprüfungen). 1953 wird bereits auf 75 Titel vorbereitet.
Schwerpunkte zur Weiterbildung und höherer Berufsbildung finden sich in den Kapiteln 31, 19, 29
Abbildung 8 In den 1930er-Jahren wurde viel in die berufliche Nachholbildung investiert. Dazu wurden Lehrwerkstätten eingerichtet und diese mit Unterkunftsmöglichkeiten kombiniert, die sogenannten Berufslager. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden einige von ihnen in Fachschulen umgewandelt, so z. B. das Berufslager Hard in die Schweizerische Technische Fachschule Winterthur (Bilddatenbank W'thur)
Fehlt es an Arbeitskräften, liegt es nahe, sie im Ausland zu suchen, zumal die Schweiz im ganzen 20. Jh. ein vergleichsweise attraktiver Arbeitsort darstellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind es in erster Linie Italienerinnen und Italiener, die angeworben werden. Die meisten sind ungelernt, viele haben die Volksschule – wenn überhaupt – nur fünf Jahre besucht. Italienische Emigrationsorganisationen entwickeln in der Schweiz ein eigenes, für italienische Arbeiterinnen und Arbeiter bestimmtes Weiterbildungsprogramm, umfassend berufsorientierte und allgemeinbildende Kurse, später auch Programme zur Integration der zweiten Generation – erste Massnahmen im Rahmen der interkulturellen Pädagogik.
Vergleiche dazu Kapitel 32, Berufsbildung für Migrant/-innen
Die Förderung der Weiterbildung durch den Bund begann aber nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern wie diejenige der Grundbildung 1884. Gefördert wurde damals die Weiterbildung durch «Wandervorträge», in denen Neuerungen wie die Anwendung von elektrischem Strom oder neue Düngemethoden vorgestellt wurden. Gefördert wurden zudem Periodika mit berufskundlichen Beiträgen und die «Modell- und Mustersammlungen», in denen Handwerker anhand von «Mustern» aus dem Ausland Anregungen für die Verbesserung der eigenen Produkte finden konnten. Diese Sammlungen entwickeln sich zu Gewerbemuseen weiter, einige später zu Kunstgewerbemuseen und dann zu Museen für Gestaltung.
Gewerbemuseen sind Thema von Kapitel 20
Erste Revision des Berufsbildungsgesetzes
Mitte der 1950er-Jahre wird von verschiedenen Seiten darauf hingewiesen, dass das 1930 erlassene Gesetz veraltet sei. Es regle nur die berufliche Ausbildung, von Weiterbildung sei nur am Rande die Rede.
1958 wird eine Kommission eingesetzt, die das 1930 erlassene Gesetz revidieren soll. Sie wird von Fürsprecher Hans Dellsperger geleitet, der im gleichen Jahr die Leitung der Abteilung Berufsbildung im BIGA übernommen hat. Der 1962 vorgelegte Entwurf enthält gemäss allgemeiner Meinung nicht allzu viel Neues. Immerhin ermöglicht die 1963 verabschiedete Version eine stärkere Förderung der Weiterbildung und bringt die Umbenennung der Techniken in «Höhere Technische Lehranstalten», deren Absolventen sich nun «Ingenieur-Techniker HTL» nennen können. Weitere wichtige Neuerungen sind gemäss Bundesrat die Regelung der Berufsberatung und die Aufwertung der Berufsschule.
Mehr zum BBG 1963 in Kapitel 06, zur Berufsberatung in Kapitel 33, zu den Berufsschulen in Kapitel 22
Lehrerbildung
Die Notwendigkeit des Ausbaus und der Systematisierung der Vorbereitung von Lehrpersonen an Berufsschulen wird seit den 1880er-Jahren diskutiert. Immer wieder finden einzelne Kurse für Lehrpersonen statt.
1972 geht es nun einen grossen Schritt weiter: Im Frühjahr beschliesst der Bundesrat die Gründung des «Schweizerischen Instituts für Berufspädagogik» (SIBP)