Im Jahr 1989, noch während der Hochkonjunktur, schlägt der Bundesrat «Sondermassnahmen zugunsten der beruflichen und universitären Weiterbildung sowie zur Förderung neuer Technologien im Fertigungsbereich (CIM)» vor, um den Mangel an Schweizer Fachkräften zu mildern. [1990b] Im Rahmen der sogenannten Weiterbildungsoffensive werden für die berufliche Weiterbildung 150 Mio. Fr. vorgesehen, verteilt auf sechs Jahre. Damit sollten in erster Linie die Höheren Fachschulen (Ingenieurschulen) gefördert werden. Erwähnt werden aber auch die Weiterbildung gelernter Berufsleute (Vorbereitung auf Berufs- und Höhere Fachprüfungen), die Weiterbildung von Lehrpersonen an Berufsschulen, die Nachholbildung für Ungelernte und der Wiedereinstieg von Frauen. [1990b]
Massnahmen für Stellenlose
Bildung wird bereits in den 1930er-Jahren und dann wieder nach dem «Ölschock» 1973 als Hilfsmittel zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit eingesetzt. Unter anderem wird ab 1983 ein modulares System zur Förderung von Informatikkenntnissen realisiert. [1983c] Auf dieser Basis und auf Massnahmen zur Standortbestimmung werden ab 1991, zu Beginn der zweiten grossen Arbeitslosigkeit des Jahrhunderts, Bildungsmassnahmen im breiten Stil angeboten, basierend auf Bestimmungen des Arbeitslosenversicherungsgesetzes. Träger sind grossenteils neu geschaffene Bildungsinstitutionen. Die etablierten Anbieter von beruflicher Aus- und Weiterbildung (Berufsschulen, Lehrwerkstätten, Handelsmittelschulen) beteiligten sich wenig daran. Es entsteht ein eigenes Bildungssystem mit wenig Kontakten zur Berufsbildung nach BBG, was der Durchlässigkeit abträglich ist. (Wiebel 1997) [BG-Arbeitsmarkt; AMM]
Volksinitiativen
Die politische Linke steht der Berufslehre immer wieder kritisch gegenüber. Unter anderem hat das mit der Tatsache zu tun, dass im Gegensatz zum öffentlich-rechtlichen Bildungssystem Unternehmen bestimmen, wie viele Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen. 1982 wurde die eidgenössische Volksinitiative «Für eine gesicherte Berufsbildung und Umschulung» eingereicht. Mit der Einrichtung von Lehrwerkstätten und anderen Ausbildungsstätten, finanziert von den Arbeitgebern und der öffentlichen Hand, sollte eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen sichergestellt werden. Die dazu notwendige Ergänzung der Bundesverfassung wird vom Volk 1986 abgelehnt, genau wie ähnlich lautende Vorstösse auf kantonaler Ebene. [1982a] 1999 wird die «Lehrstellen-Initiative» eingereicht, lanciert von der Jugendorganisation des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Verlangt wird ein Recht auf eine ausreichende berufliche Ausbildung. Dazu sollten Bund und Kantone für ein genügendes Angebot im Bereich der beruflichen Ausbildung sorgen, finanziert über einen von allen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern gehäuften Berufsbildungsfonds. 2003 wird auch diese Volksinitiative abgelehnt. [1999f]
Rückgang der Lehrlingszahlen, gefolgt von Lehrstellenmangel
Grafik 1 (siehe hier) zeigt es: Erstmals in diesem Jahrhundert gehen die Lehrlingszahlen zwischen 1985 und 1995 längere Zeit und in grösserem Ausmass zurück, um rund 40 000 Berufslernende. Tabelle 1 gibt Hinweise auf die Gründe: Es gibt 60 000 Jugendliche im Alter von 15 bis 18 Jahren weniger und 10 000 Schülerinnen und Schüler mehr an allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe II. Der Rückgang der Lehrlingszahlen hat also einerseits demographische Gründe, anderseits ist er eine Folge der Bevorzugung der Mittelschulen. Letzteres beunruhigt die Vertretungen der Berufsbildung.
Abbildung 13 Die Linke versucht zweimal mit Volksinitiativen, das Berufsbildungssystem zu ändern, hier das diesbezügliche Plakat zur Abstimmung 1982
Tabelle 1 Gründe für den Rückgang der Lehrlingszahlen 1985–1995
Lehrlinge | Wohnbevölkerung, 15–18 Jahre | Schüler/-innen in allgemeinbildenden Schulen | |
1985 | 189 675 | 381 117 | 76 754 |
1995 | 148 680 | 319 533 | 88 499 |
Differenz | −40 995 | −61 584 | 11 745 |
in % | −22 % | −16 % | 15 % |
Quellen: BfS, BIGA, eigene Berechnungen
Aber nicht dieser Rückgang löst Mitte der 1990er-Jahre die grosse Unruhe aus, sondern der Mangel an Lehrstellen, der sich in dieser Zeit aufbaut. Obwohl die Zahl der Lernenden zurückgegangen ist, fehlt es bereits 1996 an Lehrstellen. Das hat einerseits demographische Ursachen: Innert drei Jahren (1995 bis 1998) steigt die Zahl der Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren um 9500 Jugendliche an. Nun haben die Betriebe ihre Ausbildungstätigkeit jedoch in den Vorjahren zurückgefahren, siehe Tabelle 2. Zudem ist der Sektor Produktion geschrumpft, der mehr Lehrstellen anbietet als Dienstleistungsbetriebe.
Tabelle 2 Indikatoren zur Ausbildungsaktivität der Betriebe, 1985 und 1995
Quellen: BfS, Betriebszahlung (Dumont 1998) zit. in Galley Meyer 1998
Im Frühjahr 1996 weist die Zürcher Berufsberatung darauf hin, dass nach ihren Schätzungen die Zahl der Zürcher Lehrstellen die Nachfrage seitens der Jugendlichen nicht deckt. Diese Meldung löst in den Medien ein grosses Echo aus, obwohl die Behörden zu beschwichtigen versuchen. [1996a] Dies gelingt ihnen nicht, denn ihnen fehlen konkrete Zahlen zum Lehrstellenmarkt. Über Monate hinweg wird die Situation am Lehrstellenmarkt zu einem zentralen Thema in den Medien.
Der Lehrstellenmarkt ist auch Thema von Kapitel 11
Die Politik reagiert. «In den Jahren 1996/97 wurden schätzungsweise drei Dutzend Vorstösse aus allen politischen Lagern und aus den Kommissionen eingereicht, die alle auf irgendeine Weise den Handlungsbedarf des EVD respektive des BIGA akzentuierten.» (Strahm 2008, 317)
Kantonalisierueng der Berufsbildung?
Unter dem Titel «Neuer Finanzausgleich» läuft zur gleichen Zeit ein grosses Programm mit dem Ziel, die vielfältigen finanziellen Verknüpfungen zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden zu reduzieren. Als eines von vielen Themen steht die «Kantonalisierung der Berufsbildung» zur Diskussion. Berufsschulen sollten − genau wie Mittelschulen − den Kantonen unterstellt werden, koordiniert durch die EDK. Den Verantwortlichen ist offenbar nicht bewusst, dass die Berufsschulen Teil eines Systems sind mit Betrieben und regionalen Ausbildungszentren als weiteren Lernorten. Der Vorschlag stösst bei den Berufsverbänden und bei den Parlamentariern auf einhellige Ablehnung und wird sofort gestrichen. (Ebd. 317 f.)
Behördenschelte − der Bundesrat wird aktiv
Bereits 1987 fordert das Parlament den Bundesrat auf, eine Bilanzierung der Situation der Berufsbildung und eine problemorientierte Zukunftsschau vorzulegen. Ende 1995 sind 19 parlamentarische Vorstösse zum Thema hängig, u. a. zu einem Gutachten der OECD, die die Schweizer Berufsbildung stark kritisiert. [1990a]
Im Sommer 1996 wird der 1987 angeforderte «Bericht des Bundesrates über die Berufsbildung» endlich dem Parlament vorgelegt − und stösst inner- und ausserhalb des Parlaments auf vehemente Kritik. [1996c] Es sei bestenfalls eine Auslegeordnung. Der Handlungsbedarf werde kleingeredet, es fehle an einer Strategie und am Willen, die notwendigen Reformen an die Hand zu nehmen.
Abbildung 14 Fremdsprachenunterricht wird auch an Berufsschulen immer wichtiger. Im Laufe der Jahre werden verschiedene Wege gesucht, die äusserst beschränkten Zeit, die im Rahmen einer Betriebslehre zur Verfügung steht, möglichst effektiv zu nutzen. Hier das «Sprachlabor»» des Centro Italo-Svizzero Formazione Professionale, um 1990 (SSA Zürich)
Lehrstellenmangel,