Um in Zukunft über aktuelle Zahlen zu verfügen, wird 1997 der «Lehrstellenbarometer» lanciert, der in der Folge zweimal jährlich den Lehrstellenmarkt analysiert. [1997c] Das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit wird 1998 aufgelöst und das «Bundesamt für Berufsbildung und Technologie» geschaffen, unter neuer Leitung. [1998e] Die vom Parlament verlangte Revision des Berufsbildungsgesetzes wird in Angriff genommen, siehe hier.
Lehrstellenbeschlüsse
Entgegen den Willen des Bundesrates verabschiedet das Parlament im April 1997 den Lehrstellenbeschluss I. Vom geplanten Impulsprogramm zur Ankurbelung der Wirtschaft werden 60 Millionen Franken für die Förderung des Lehrstellenangebots reserviert. [1997a]
Die Beschäftigung des Parlaments mit Fragen der Berufsbildung zeigen auf, dass auch strukturelle Schwächen bestehen. 1999 wird der Lehrstellenbeschluss II verabschiedet (Kreditsumme: 100 Mio Fr.), um diese Probleme anzugehen und den Übergang bis zur Inkraftsetzung des revidierten Berufsbildungsgesetzes sicherzustellen. [1999c]
All das Geleistete wird vergessen
Bei der oft geäusserten Kritik an der Tätigkeit der Bundesbehörde in den 1990er-Jahren geht oft vergessen, was alles lanciert und vorwärtsgebracht wurde:
• 1996 wird der Lehrplan für den allgemeinbildenden Unterricht mit grundlegenden Veränderungen verabschiedet. [1996f]
• 1997 nehmen die Fachhochschulen ihren Betrieb auf, nachdem 1993 die Berufsmaturität lanciert wurde. [1993i; 1997f]
• Aufbauend auf dem 1976 gestarteten Nationalen Forschungsprogramm «Education et vie active» [1976b], der Schweizerischen Gesellschaft für angewandte Berufsbildungsforschung (SGAB) [1987b] und dem Ausbau des SIBP [1991b] wird die angewandte Berufsbildungsforschung aufgebaut.
• Gespräche im Rahmen der europäischen Gemeinschaften helfen mit, der Schweizerischen Berufsbildung ihren Platz in Europa zu sichern. (Natsch 2000)
• Und vor allem wird − wenn auch eher gegen den Willen des Bundesrats − im Rahmen der «Nachführung» der Bundesverfassung 1999 der Berufsbildung eine zukunftsoffene Grundlage als Teil des Bildungswesens geschaffen, siehe unten.
Mehr zu Fachhochschulen in Kapitel 30, zu BM in Kapitel 25, zu der Ausbildung von Erwachsenen in Kapitel 19
Bundesverfassung: Bildungsraum Schweiz statt Gewerbeförderung
Die 1990er-Jahre enden für die Berufsbildung mit einem grossen Schritt nach vorn: Die Kompetenz des Bundes, Regelungen über die Berufsbildung zu erlassen, basierten während des ganzen 20. Jahrhunderts auf Art. 34ter der 1908 verabschiedeten Version der Bundesverfassung, siehe hier. Dieser lautet: Der Bund ist befugt, über das Gewerbewesen einheitliche Vorschriften aufzustellen. [1908a]
Der Gültigkeitsbereich des 1930 erlassenen Bundesgesetzes beschränkt sich somit auf das Gewerbe, wobei der Begriff sehr breit ausgelegt wird. 1947 wird er anlässlich einer Verfassungsrevision präzisiert und nochmals etwas erweitert: Der Bund ist befugt, Vorschriften aufzustellen: […] über die berufliche Ausbildung in Industrie, Gewerbe, Handel, Landwirtschaft und Hausdienst. [1947a]
Auf dieser Basis beruhen die Versionen 1963 und 1978 des Berufsbildungsgesetzes und auch die einschlägigen Vorschriften im 1951 erlassenen Landwirtschaftsgesetz. [1951a]
1995 wird eine «Nachführung» der 125-jährigen Bundesverfassung in Angriff genommen. Breite Kreise wünschen eine Ausweitung des Geltungsbereichs, was gegen den Widerstand des Bundesrates durch das Parlament erfolgt: Neu heisst es in Art. 63: «Der Bund erlässt Vorschriften über die Berufsbildung.» [1999a] Neu ist auch auch die Platzierung der Regelung der Berufsbildung in Abschnitt 3 der Verfassung, die sich mit Bildung, Forschung und Kultur befasst.
2006 wird dieser Abschnitt der Verfassung bereits wieder überarbeitet. Dabei erhält der Bund bezüglich der Berufsbildung zwei wichtige zusätzliche Aufträge: Die Förderung eines breiten und durchlässigen Angebots im Bereich der Berufsbildung (Art. 63 BV) und den Einsatz für eine gleichwertige gesellschaftliche Anerkennung von allgemeinbildenden und berufsbezogenen Bildungswegen (Art. 61a Abs. 3 BV). [2006a]
Reformen der Bundesverfassung siehe Kap. 08
Dritte Revision des Berufsbildungsgesetzes
Allein die Revision der Verfassung hätte eine Revision des BBG nötig gemacht, sind doch nun auch Ausbildungen in den Bereichen Gesundheit, Soziales, Kunst, Land- und Forstwirtschaft einzubeziehen, die − wie aufgezeigt − andere Strukturen für ihre Aus- und Weiterbildung entwickelt hatten.
Aber auch in andere Bereichen des Bildungswesen hat sich seit den 1970er-Jahren manches verändert: Mittelschulen und berufliche Grundbildung werden immer mehr als zwei Teile der Sekundarstufe II betrachtet, vgl. Grafik 4, hier. Die höheren Fachschulen und die Vorbereitung auf Berufs- und Höhere Fachprüfungen sind nicht mehr Teil des Bereichs Weiterbildung (heute als nonformale Bildung definiert), sondern – wie die Hochschulen – Teil des Tertiärbereichs. Vor allem aber haben sich auch die Ansprüche der Gesellschaft und speziell der Arbeitswelt an die Berufsbildung verändert. Begriffe wie Nachhaltigkeit oder überfachliche Qualifikationen kamen in der Version 1978 noch nicht vor. Die Forderung nach Durchlässigkeit ist nun sogar Teil der Verfassung (Art. 61a Abs. 1 BV).
Das Vorgehen bei der Revision unterscheidet sich von demjenigen bei früheren Revisionen: Der Bundesrat setzt 1998 eine Expertenkommission ein, geleitet vom Chef des zuständigen Bundesamtes, die einen Entwurf auszuarbeiten hat. Dieser wird 2000 in Vernehmlassung gegeben und anschliessend überarbeitet. Die Kommissionen für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) der beiden Räte befassen sich ausführlich mit dem Entwurf. Das Parlament selbst wendet auch dieses Mal relativ wenig Zeit für das Geschäft auf und verabschiedet das Gesetz 2002. Das Referendum wird dieses Mal nicht ergriffen, sodass das neue Gesetz 2004 in Kraft treten kann.
Mehr zum BBG 2002 in Kapitel 09
Umsetzung der neuen Bestimmungen
Da die dritte Revision wesentlich mehr Neuerungen beinhaltet als die beiden vorherigen, nimmt die Umsetzung der neuen Regelungen auch wesentlich mehr Zeit in Anspruch. Dies umso mehr, als die Qualitätsansprüche an die Verordnungen (und damit leider auch deren Umfang) massiv zugenommen haben.
Integration neuer Berufsbildungsbereiche
Der vordringlichste Teil der Umsetzung ist die Integration derjenigen Ausbildungen, die bisher nicht der Bundesgesetzgebung zur Berufsbildung unterstanden, also Landwirtschaft, Gesundheit, Soziales und Kunst.
In den Bereichen Soziales und Kunst lag der Schwerpunkt bei kantonal geregelten Ausbildungen auf Tertiärstufe: höhere Fachschulen, Konservatorien und Hochschulen. Die Ausbildung in der Landwirtschaft (einschl. Milchwirtschaft), bundesweit geregelt im Landwirtschaftsgesetz, umfasste feste Strukturen auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe, die im Landwirtschaftsgesetz geregelt waren, siehe hier. Auch die Pflegeausbildung verfügte über eigene Strukturen, parastaatlich geregelt vom SRK, siehe hier. Beide Bereiche müssen sich im Rahmen der Integration weitgehend den in Gewerbe und Industrie üblichen Strukturen anpassen, die bestehenden Bildungseinrichtungen werden «abgewickelt». Das Ziel wird erreicht: In allen vier Bereichen entstehen Berufslehren mit den vom BBG vorgeschriebenen drei Lernorten, daneben teilweise auch schulisch organisierte Vorbereitungen auf das eidgenössische Fähigkeitszeugnis.
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