Michael Weger

Octagon


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bald ihre Unterlagen aus dem Tagungsbüro geholt und sich zum Aufbruch bereit gemacht. Es wäre zu früh, hatte sie nur noch erklärt, sich aus ihrer Beziehung zu lösen und auf einen anderen Mann einzulassen. Wenn die Zeit reif wäre, würde sie Paul schon finden oder das Schicksal würde sie wieder zusammenführen. Mit diesen Worten hatte sie sich verabschiedet, ihm noch einen Kuss auf die Lippen gehaucht und war in ihr nahe gelegenes Hotel gefahren. Die beiden hatten nicht einmal ihre Telefonnummern ausgetauscht.

      Paul war noch eine Weile auf der Terrasse geblieben, dann auf sein Zimmer gegangen und schnell eingeschlafen. Die Anforderungen des Tages hatten ihn sehr erschöpft.

      Als er am darauffolgenden Morgen erwacht war, hatte er sich beeilen müssen, um rechtzeitig in Salzburg anzukommen und den Retourflug nach Köln zu erreichen.

      Wie so oft in den letzten Tagen saß er nun in einer Pause zwischen den Therapiestunden an seinem Schreibtisch. Das antike Möbel aus der Zeit der Jahrhundertwende war das Einstandsgeschenk seines Mentors gewesen. Paul hatte sich kurz nach seinem Abschluss dessen Team anschließen dürfen. Carl Seyfried hatte von Beginn an große Hoffnungen in ihn gesetzt und war vom Lehranalytiker bald zum väterlichen Freund geworden. Nach kurzer Zeit schon hatte sich Paul in der Praxis heimisch gefühlt.

      Nun saß er da, betrachtete den schimmernden Stein und verlor sich einmal mehr in Gedanken an Lena.

      Die Erinnerung an sie, die Vertrautheit, ihre liebevollen Augen und ihr direktes Wesen ließen ihm keine Ruhe. Auch der Tempel aus ihrer Erzählung hatte sich so lebendig in seinem Bewusstsein abgebildet, dass es ihm beinahe schien, als wäre er bereits dort gewesen.

      Konnte das sein? Konnte es tatsächlich irgendwo auf der Welt einen geheimen Ort geben, an dem annähernd jene Form der Charakterbildung betrieben wurde, die er in seinem Buch in Grundzügen vorschlug?

      Als wissenschaftlich geschultem Therapeuten stand Paul eine Reihe von Methoden und Techniken zur Verfügung, um die Seelennöte seiner Klienten zu mildern und sie bei der Lösungsfindung zu unterstützen. Doch allzu oft erlebte er seine Bemühungen als gescheitert oder zumindest als unzureichend.

      Vor allem schwebte ihm eine in die Gesellschaft und das Ausbildungswesen integrierte Form der Persönlichkeitsbildung vor, die von Kindheit an den Menschen im Umgang mit sich selbst schulte. Es sollte erst gar nicht zu den komplexen Verstrickungen und Störungen der Psyche kommen müssen, die er jeden Tag bei seinen Klienten erlebte. Dabei maß er dem wahrhaftigen Ausdruck der Gefühle durch Sprache, Stimme und Körper die größte Bedeutung zu. Diese Schulung des Ausdrucks war in der Methodik der wissenschaftlichen Psychologie allerdings nicht oder nur in Ansätzen enthalten.

      Dass er damit einen Nerv der gegenwärtigen Gesellschaft getroffen hatte, bewiesen auch die zahlreichen Reaktionen auf sein Buch. Der Erfolg seines Werkes war überwältigend und er hatte nach wenigen Monaten schon einige Tausend Exemplare verkaufen können.

      Die Feldstudien, die er noch während seines Studiums begonnen und erst mit der Fertigstellung des Buches beendet hatte, ergaben einen belegbaren Zusammenhang zwischen der Erhaltung der Gesundheit und persönlicher Authentizität. Einfach gesagt lebte man umso länger und gesünder, je mehr man sich treu bleiben durfte. Für die meisten Menschen, die unter psychischen Nöten litten und sich isoliert fühlten, schien der Ursprung ihrer Seelenqual genau darin zu liegen: Sie konnten ihr wahres Selbst nicht ausdrücken, geschweige denn es im Lebensalltag verwirklichen.

      Doch so sehr Zahlen und Recherchen diese Thesen auch bestätigten, halfen sie nicht dabei, das Problem zu lösen. War die Persönlichkeit erst einmal geprägt, stieß sie immer wieder an dieselben Grenzen. Bekannte Therapieformen schufen zwar ein großes Bewusstsein über die Ursachen der eigenen Störungen, doch letztendlich hoben sie diese nicht oder nur teilweise und oft viel zu langsam auf.

      Oder, wie Carl ihm einmal in einer abendlichen Nachbesprechung in vertrauter Atmosphäre gestanden hatte: „Weißt du, ich bin meine eigenen Neurosen bis heute nicht ganz los. Nach Hunderten Stunden der Eigentherapie während der Ausbildung vor gut dreißig Jahren und noch mal so vielen Stunden der Supervision während meiner beruflichen Laufbahn plagen mich immer noch Selbstzweifel und Versagensängste. Der Unterschied ist: Mittlerweile weiß ich immerhin, warum ich sie habe.“

      Paul nahm den Stein in die Hand und war abermals erstaunt, wie viel Wärme und Ruhe von ihm ausgingen. Die glatte Oberfläche des schweren Materials fühlte sich sanft und wohltuend an.

      Über eine interne Sprechanlage meldete sich die Sprechstundenhilfe der Gemeinschaftspraxis und unterbrach seine Überlegungen. Sie teilte Paul mit, dass sein nächster Klient aus familiären Gründen eben abgesagt hätte. Paul bedankte sich bei ihr und trug eine kurze Notiz in die Akte des Mannes ein. Er würde ihn in der kommenden Sitzung darauf ansprechen. So kurzfristige Absagen verbargen manchmal tiefere Ursachen. Da dies seine letzte Therapiestunde für heute gewesen wäre, stand ihm nun unerwartet ein freier Spätnachmittag zur Verfügung. Er beschloss, einen kleinen Herbstspaziergang in die Innenstadt zu unternehmen.

      Sein Weg führte ihn einmal mehr in die Hohe Straße.

      Der gleichmäßige und unpersönliche Menschentrubel in der berühmten Kölner Einkaufsstraße hatte eine durchaus beruhigende Wirkung auf Paul. Im Vorbeischlendern konnte er die Menschen beobachten und sich ihre Geschichten ausmalen. Schon in der Kindheit, als er seine Mutter, die vor einigen Jahren verstorben war, beim Einkauf begleiten durfte, gehörte dieses Kopfkino zu seinen liebsten Beschäftigungen. Nebenbei ermahnte er sich, den nächsten Anruf bei seinem Vater nicht wieder auf die lange Bank zu schieben. Der ehemalige Rechtsanwalt verlebte seinen Ruhestand mittlerweile auf den Kanarischen Inseln.

      Wie von selbst steuerte Paul das Café Jansen an, das in den letzten Wochen zum lieb gewonnenen Aufenthaltsort für seine Ruhephasen geworden war.

      Im typischen Wiener Flair des Cafés fühlte er sich Lena näher. Er entschied sich an diesem Nachmittag jedoch für einen Platz im straßenseitigen Gastgarten, um der für ihn amüsanten Beobachtung der Passanten weiterhin nachzugehen und die letzten Sonnenstunden vor dem nahenden Winter zu genießen. Schon nach wenigen Minuten verfiel er in einen Tagtraum.

       Lena kommt mit offenen Haaren und einem hellen weit fallenden Sommerkleid direkt auf ihn zu. Sie lächelt ihn an, als würde sie zum alltäglich vereinbarten Treffen erscheinen. Mit einer anmutigen Kopfbewegung wirft sie ihre Haare über die Schultern, stellt ihre Tasche auf einen der Sessel und drückt Paul einen Kuss auf die Lippen. Alles ist vertraut und wie lange gewohnt, ohne jedoch an Reiz und Verbundenheit verloren zu haben.

      Paul lächelte verträumt vor sich hin. In den ersten Tagen seiner Rückkehr ins Kölner Alltagsleben war er mit Therapiestunden und der Beantwortung von Anfragen rund um seine Publikation eingedeckt gewesen. Es blieb kaum Zeit, die Stimme aus seinem Unterbewusstsein wahrzunehmen, die zwar leise, doch beständig nach Lena rief.

      Erst als sich der Terminstress etwas gelegt hatte, fand er sich täglich in Gedanken mit ihr beschäftigt.

      Er hätte übers Netz ihre Kontaktdaten herausfinden können. Doch das wäre ihm wie ein Eindringen in ihre Privatsphäre erschienen.

      Zudem empfand er es ebenso wie sie: Wenn die Zeit reif wäre und das Schicksal es vorgesehen hätte, würden sie einander gewiss wieder begegnen.

      4

      Pauls Blick fiel auf die beiden Türme des nahe gelegenen Kölner Doms, die hoch über die Dächer aufragten.

      Schon lange war er nicht mehr dort gewesen. Während seiner Studienzeit an der Kölner Uni zog es ihn oft in die stille und hohe Weite dieses architektonischen Meisterwerks. Da sich die Bauzeit auf mehr als fünf Jahrhunderte erstreckt hatte, vereinte der Dom sämtliche Bauelemente und Schmuckwerke der spätmittelalterlichen gotischen Architektur. Das machte wohl auch seinen besonderen Reiz aus und ihn darum zur meist besuchten Sehenswürdigkeit Deutschlands.

      In den Wintermonaten jedoch kam der Strom der Touristen weitestgehend zum Erliegen. So fand sich Paul oft nur von wenigen Gläubigen umgeben, die jene meditative Stille verbreiteten, nach der er sich im Ausgleich zum Lärmpegel in der Universität sehnte. Auch zur Beengtheit seiner damaligen