die humanitäre Hilfe für Entwicklungsländer organisierte. Diese Arbeit hatte sie dann auch nach Nepal geführt.
Ihr Exehemann und Vater der Söhne war schließlich bereit gewesen, seinen Teil der Verantwortung für die Kinder zu übernehmen, und hatte die beiden für die Wochen von Ruths Reise zu sich genommen.
„Das liegt vor allem bei Ihnen“, antwortete Paul in seiner routiniert offenen Art, nachdem er eine Weile überlegt hatte. „Allerdings höre ich in Ihrer Formulierung noch eine gewisse Unsicherheit mitschwingen. Kann das sein?“
Ruth überlegte und nickte schließlich etwas zaghaft.
„Im Allgemeinen“, fuhr er fort, „sollte man sich, um eine Therapie zu beenden, tatsächlich ganz sicher und gefestigt fühlen. Ich möchte auf keinen Fall, dass Ihre so erfolgreichen, neu etablierten Lebensstrukturen erst wieder unnötig ins Wanken geraten.“ Er hielt kurz inne und sah sie mit sanftem Blick an. „Da ich Sie heute aber ausnahmsweise bitten wollte, mir mehr von eben dieser Reise zu erzählen, gibt Ihnen das vielleicht bis zu unserem nächsten Termin noch mal Zeit, ihre Entscheidung zu überprüfen. Für heute würden natürlich keine Kosten anfallen. Wären Sie damit einverstanden?“
In der verbliebenen Stunde erzählte Ruth davon, wie sie in die Abteilung für Netzwerkentwicklung der Hilfsorganisation aufgenommen wurde.
Schon nach wenigen Tagen der Arbeit in dem engagierten Team hatte sie eine tiefe Befriedigung im Wissen gespürt, mit ihrer Tätigkeit Not leidenden Menschen unmittelbar helfen zu können.
Bald darauf hatte eine kleine nepalesische Schwesterorganisation ein Hilfsprojekt für nach Nepal geflohene Tibeter gestartet. Ruth war spontan bereit gewesen, zur damit einhergehenden Reise in dieses sagenumwobene Land aufzubrechen.
Die Aussicht auf Wochen ohne geringsten Komfort, umgeben von bitterster Armut hatten sie nicht abgeschreckt. Sie hatte gehofft, dadurch nicht nur räumlich, sondern auch geistig einen Abstand zu ihrer Vergangenheit in der Hightechwelt herstellen zu können. Mit der Aussicht darauf hatte sie es auch geschafft, den Mut und die Kraft zu sammeln, um ihren Exmann in seine Pflicht zu rufen.
Was sie danach in Nepal erlebt hatte, beschrieb sie nun als das tief greifendste und schönste Erlebnis seit der Geburt ihrer Kinder.
Zu Beginn der zweiten Woche in Nepals Hauptstadt Kathmandu, voll nervenaufreibender Vermittlungsarbeit zwischen Ämtern und Volksvertretern, war sie zu einer Trekkingexpedition eingeladen worden. Das Schwesterunternehmen hatte ihr Arjun Kapur, einen erfahrenen Verhandlungspartner, zur Seite gestellt. Arjun war zugleich einer der verlässlichsten Bergführer mit eigener Agentur für diese bei Touristen beliebten Wanderungen.
Nach einer fast zehnstündigen, beschwerlichen Busfahrt zu einem kleinen Dorf am Fuß der mächtigen Achttausender hatte am folgenden Tag der Aufstieg begonnen. Arjun, der ein äußerst zuvorkommender Hindu der obersten Kaste war, hatte sie ortskundig, mit zahlreichen Hilfestellungen, um der Höhenkrankheit zu entgehen und ihre Kräfte einzuteilen, immer höher und höher geführt. Hin und wieder waren sie auf andere Trekkingtouristen getroffen, hatten in kargen Zimmern übernachtet und waren stets freundlich aufgenommen worden. Die schlichten Mahlzeiten hatten vorwiegend aus Reisgerichten bestanden.
Die körperlichen Strapazen des Aufstiegs waren zunehmend von euphorischen Stimmungen begleitet gewesen, die auf den sinkenden Sauerstoffgehalt der Atemluft beruhten.
Und dann war es geschehen: Auf über fünftausend Metern war wie aus dem Nichts eine bis dahin unbekannte innere Stimme in den Dialog mit ihr getreten. Die Stimme hatte ihr sanft und zugleich voll Stärke Mut zugesprochen und ihr uneingeschränktes Vertrauen geschenkt.
Ganz friedlich erklärte Ruth: „Noch nie zuvor war ich so sehr eins mit allem und von allem zugleich so unendlich beschützt und behütet.“ Sie hielt eine Weile inne, blickte Paul an und ergänzte mit Bedacht: „Seit diesem Augenblick begleitet mich die Erinnerung daran und gibt mir Sicherheit. Sie müssen wissen, Doktor Stenson: Das alles wäre ohne Sie nie möglich gewesen. Ich bin Ihnen unendlich dankbar.“
Paul war so gerührt, dass ihm die Tränen kamen und er selbst zu den Taschentüchern greifen musste, die eigentlich für seine Klienten bestimmt waren.
Er konnte nicht genau benennen, was an Ruths Schilderung ihn so bewegte. Neben ihrer aufrichtigen Dankbarkeit war da noch etwas Tieferes. Es schien so, als wäre auch in seinem Inneren eine leise Stimme erwacht, die ihre Wünsche nun durch Tränen zum Ausdruck brachte.
„Ich wollte Sie nicht zum Weinen bringen, bitte verzeihen Sie“, meinte Ruth gleich etwas verunsichert.
„Keine Sorge“, erwiderte Paul sanft und schluchzte, während er zugleich lächeln musste, „es gibt Tränen der Trauer und Tränen der Erlösung. Diese zählen eindeutig zur zweiten Kategorie.“
Nachdem Ruth ihm einige weitere Fragen beantwortet und ihm dabei zahlreiche praktische Tipps für eine Reise nach Nepal gegeben hatte, kam er schließlich noch auf die Tempelschule zu sprechen.
„Dort gibt es unzählige Tempel“, meinte sie, „aber an einen derartigen kann ich mich nicht erinnern. Es hat auch, soweit mir bewusst ist, niemand anderer davon berichtet.“
Paul nickte nachdenklich, ging zu seinem Schreibtisch und holte den Shila. „Eine letzte Frage noch“, sagte er hoffnungsvoll, „sind Ihnen solche oder ähnliche Steine bei Ihrem Aufstieg begegnet?“
„Oh ja“, antwortete sie rasch mit freudigem Lächeln, „von denen kann man dort einige finden. Sie werden aber auch von den Einheimischen zum Kauf angeboten. Einen so schönen hab ich allerdings noch nie gesehen. Sie sollen besonders wertvoll und heilsam sein.“
„Ein Freund hat mir bereits etwas Ähnliches erzählt. Aber es freut mich, dass Sie es bestätigen können.“
Nachdem ihm Ruth noch notiert hatte, wie er mit Arjun per E-Mail in Kontakt treten konnte, vereinbarten die beiden zum Ausklang der Therapie schließlich einen letzten Termin.
Bei der Verabschiedung umarmten sie einander.
Paul konnte gar nicht anders, als sich diese Intimität einer Klientin gegenüber ausnahmsweise zu erlauben. Ruth war ihm in dieser Stunde zu einer Freundin geworden.
7
Das leichte und wärmende Glücksgefühl begleitete ihn den restlichen Tag über.
Die Sitzungen vergingen schnell und als er am Abend die Praxis verlassen wollte, begegnete ihm Carl auf dem Flur.
„So spät bist du doch sonst nicht mehr in der Praxis?“, sprach Paul ihn erstaunt an.
„Es wird Winter und die Golfplätze sperren zu“, antwortete Carl mit seiner sonoren Bassstimme und einem Augenzwinkern, „also bleibt mir abends wieder Zeit, mich im Gegensatz zu Golf mit den unwesentlichen Themen des Lebens zu beschäftigen, wie Terminplanung, Klientengespräche oder der unsäglichen Archivierung meiner Notizbücher.“ Der groß gewachsene, mittlerweile gealterte Herr strahlte schelmisch. „Lass uns noch was trinken gehen“, fügte er hinzu, „haben wir ohnedies schon zu lange nicht mehr getan und gleich um die Ecke hat ein neuer schottischer Pub eröffnet. Die führen gesegnete Single Malt Whiskys.“
Nachdem der Kellner mit schottischem Akzent eine für Paul erschreckend lange Liste unverständlicher Namen von Whiskysorten aufgezählt hatte, war er dankbar, dass Carl kurzerhand für sie beide die Entscheidung traf.
„Zur Feier des Tages genehmigen wir uns einen 18 Jahre alten Macallan. Das ist der Ferrari unter den sanft rauchigen Sorten der Speyside, dem Herzland des schottischen Whiskys“, erklärte er stolz und fügte hinzu: „Wusstest du, dass der keltische Ursprung des Wortes übersetzt Wasser des Lebens bedeutet?“
„Ich wusste nicht mal, dass du ein Kenner bist!“
„Das Ergebnis der Golfreise im letzten Sommer. Mein Golfspiel war grausam, aber der Whisky war großartig.“ Carl lachte auf.
„Und was genau haben wir zu feiern?“, fragte Paul.
„Also“,