Zeit, etwas über die Architektur des Doms zu lernen, und studierte ausgiebig die angebotenen Broschüren. Je vertrauter ihm die unzähligen religiösen Kunstwerke dadurch wurden, desto häufiger entdeckte er versteckte Querverweise zu anderen Weltreligionen. Gegen den Auftrag ihrer katholischen Kirchenväter hatten die Künstler diese über die Jahrhunderte heimlich in ihre Werke eingeflochten.
Da Paul schon kurz nach dem Abitur aus der Kirche ausgetreten war und sich seinen eigenen Glauben aus christlichen, buddhistischen und anderen spirituellen Strömungen gebildet hatte, genoss er die verborgene Vielfalt der Aura dieser heiligen Halle der Religion.
Im Lauf der Jahre seiner psychologischen Studien verbrachte er seine Zeit im Dom immer öfter mit dem Versuch, im stillen Nachdenken das menschliche Wesen besser verstehen zu lernen.
Der Glaube spielte dabei stets eine große Rolle: Was führt und treibt Menschen schließlich mehr an als ihr Glaube an etwas, ihre Liebe zu etwas oder ihre Furcht vor etwas.
Paul legte das Geld für seine Melange auf den Tisch, schloss seinen gefütterten Trenchcoat bis hoch zum Hals und machte sich auf den Weg.
Auch in den späten Herbstmonaten war der Dom zwar bis neun Uhr abends geöffnet, doch hatte sich der Besucherstrom zu seiner Beruhigung bereits verflüchtigt. Er trat durch das große Petersportal, ging einige Schritte bis ans hintere Ende der Bankreihen und blieb beeindruckt stehen. Seit seinem letzten Besuch waren gut drei Jahre vergangen. Umso mehr überwältigte ihn nun die Ehrfurcht einflößende Atmosphäre. Langsam schritt er weiter durch das mächtige Mittelschiff, blickte von den zahllosen bemalten Glasfenstern zu den üppigen Heiligendarstellungen und war einmal mehr fasziniert vom so detaillierten, gotischen Schmuckwerk.
Er setzte sich in eine Reihe nahe an der Mitte der Kathedrale und genoss die reiche Stille, die von einzelnen Trittgeräuschen und dem Flüstern der wenigen Abendbesucher kaum noch gestört wurde.
Sein Blick glitt von der Mailänder Madonna über den Dreikönigenschrein bis hin zum Gero-Kreuz. Vor Jahren wusste er zahlreiche Details der kostbaren Artefakte zu benennen. Mittlerweile jedoch waren die Erinnerungen verschwommen, gingen ineinander über und bildeten vor seinem geistigen Auge nur vage historische Szenerien ihrer Entstehungsgeschichte und langen Reise hierher.
Tiefe Ruhe breitete sich allmählich in ihm aus.
Er lauschte seinem Atem und es wurde so still, dass er seinen eigenen Herzschlag hören konnte.
Ein Tempel irgendwo in der Welt, in dem Meister in acht Stationen die Anteile des Charakters lehren.
Gewaltige Berge und tiefe Täler, von Flüssen zu Schluchten in die Landschaft gerissen.
Ein Himmel mit Blick auf die Unendlichkeit.
Der Atem geht schwer.
Einen Schritt vor den anderen setzen.
In der Ferne wie hinter Schleiern die Silhouette eines vertrauten Gebäudes.
Die Augen brennen von Trockenheit.
Die Rucksackgurte schneiden schmerzhaft in die Schultern.
Ruhen wollen.
Nur noch ausruhen wollen.
„Entschuldigen Sie.“ Der Mesner hatte seine Hand auf Pauls Schulter gelegt. „Sie müssen aufwachen. Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
Paul fuhr erschrocken hoch.
„Ist alles in Ordnung?“, wiederholte der graubärtige Kirchendiener und sah Paul dabei sanftmütig an.
„Ich muss wohl eingeschlafen sein. Bitte entschuldigen Sie. Wie spät ist es?“
„Kurz nach neun. Ich mache gerade meine letzte Runde, bevor ich abschließe. Sie müssen jetzt leider gehen.“
„Natürlich, ja, ich hatte nicht vor, hier zu übernachten“, erwiderte Paul mit einem Lächeln. „Entschuldigen Sie und vielen Dank.“
„Weder das eine noch das andere tut not. Der Herr zeigt denen, die ihn suchen, stets einen Weg.“
Paul stutzte: „Warum sagen Sie das?“
„Es hat so ausgesehen“, erklärte der Mesner, „als würden Sie träumen und eine schwere Last tragen. Das ist mir nur eben dazu eingefallen. Haben Sie noch einen schönen Abend. Möge der Herr mit Ihnen sein.“
„Danke. Ja. Ich gehe dann.“
Paul wandte sich dem Ausgang zu. Bevor er durch das Portal trat, hob er noch kurz den Kopf und blickte auf das, nach seinem Künstler benannte, Mildefenster. Es reichte bis hoch an das Deckenkonstrukt und Paul erinnerte sich, wie er zum ersten Mal darunter gestanden war. Auch jetzt konnte er den Blick nicht davon lösen. Die achtzehn Malereien der Hauptgläser führten dem Betrachter eindringlich die guten und schlechten Taten des Menschen, wie sie im Alten und Neuen Testament gelehrt wurden, vor Augen. Immer wieder erstaunte ihn die märchenhaft anmutende Doktrin der katholischen Kirche. Ein Kanon, in dem die Welt in Schwarz und Weiß, Gut und Böse eingeteilt wurde und der die Menschheit in einem kindlichen Entwicklungsstadium gefangen hielt.
Nun stand er noch etwas benommen da und blickte hoch bis zum oberen Bogenfeld der im späten Abendlicht schimmernd illuminierten Glasmalerei. Mit großem Erstaunen nahm er zum ersten Mal das Achteck wahr, das konzentrisch angeordnete Lichtbahnen vom äußeren Rand zu seiner Mitte zeigte. Er erinnerte sich an seinen Traum von eben, an die vagen Umrisse des Gebäudes und musste lächeln.
Der Herr zeigt denen, die ihn suchen, stets einen Weg.
Und er meint es offensichtlich auch gut mit jenen seiner Kinder, die es nicht ganz so gut mit ihm meinen.
Paul beschloss noch im selben Moment, seinen Weg zum geheimnisvollen Tempel zu suchen und zu finden.
5
„Dem Gewicht und der Zeichnung des Ammoniten nach ist er echt.“ Doktor Erik Riemann hielt den Stein hoch und wog ihn in seiner Hand.
„Tatsächlich ein Shaligram Shila!“, sagte er erstaunt. „Noch dazu ein besonders seltener und wertvoller. Wo hast du ihn her?“ Paul war nicht überrascht, dass sein guter Freund aus Studientagen den Stein so schnell zuordnen konnte. Sie befanden sich im Institut für Geologie und Mineralogie der Uni Köln. Die Fakultät lag nur wenige Häuserblocks von den Fakultätsgebäuden der Psychologie entfernt.
An einem Winterabend vor gut zehn Jahren waren die beiden jungen Männer in einer der beliebten Studentenkneipen ins Gespräch gekommen. Daraus hatte sich eine jahrelange Freundschaft entwickelt.
Nachdem Paul sich nun entschlossen hatte, den Weg zum Tempel zu finden, war sein erster Gedanke, die Spur des Steins zu verfolgen und die Gelegenheit zu nutzen, um seinen alten Freund aufzusuchen. Sie hatten einander ohnehin viel zu lange nicht gesehen und vereinbarten zwei Tage nach Pauls Anruf ein gemeinsames Mittagessen.
Kurz vor Mittag war er in Eriks Labor erschienen, der mittlerweile eine Professur als Mineraloge innehatte. Nur wenige Jahre waren vergangen, doch sah sich Paul zu seiner Überraschung nicht mehr dem hageren, vergeistigten Wissenschaftsassistenten gegenüber, sondern einem gestandenen Professor. Erik hatte deutlich an Gewicht zugelegt und ließ sich einen Vollbart stehen. Das schelmische Blitzen in den Augen war ihm geblieben.
Die Wiedersehensfreude war entsprechend groß und nach dem Austausch der wichtigsten Neuigkeiten und der gegenseitigen Versicherung, dass es beiden im Leben gut erginge, hatte Paul etwas ungeduldig den Stein in Eriks Hand gelegt.
„Ich hab ihn von einer jungen Ärztin geschenkt bekommen.“ Er lächelte beim Gedanken an Lena. „Vor zwei Monaten auf einer Tagung, bei der ich mein Buch vorstellen durfte.“
„Davon habe ich gehört. Hast es also geschafft?!“, rief Erik anerkennend aus. „Das Buch ist fertig und schon veröffentlicht? Gratuliere, ist ja toll! Musst mir unbedingt davon erzählen! Und natürlich