Die Plateau-Phase wird spürbar. Sobald jedoch die neue, nun breitere Straße eröffnet wird, geht es plötzlich wieder merklich besser vorwärts. Es gibt den erwähnten steilen Anstieg auf der Lernkurve des Könnens, denn jetzt passt dank der verbesserten Verbindungen natürlich wieder mehr Verkehr hindurch.
Die Plateauphasen und die steilen Anstiege wechseln sich immer wieder ab. Mal sind die Kurven steiler – manchmal sind die Plateaus länger – dies verändert sich immer etwas. Wichtig ist: Sie müssen auch in der Plateau-Phase weiter trainieren, um den Lernreiz aufrechtzuerhalten und dadurch einen neuen steilen Anstieg zu erreichen. Wenn nicht mehr geübt wird, wachsen die Pfade bald wieder zu. Das Gehirn funktioniert nach dem bekannten Prinzip: »Use it or lose it.« Jeder und jede wird hierzu passende Beispiele aus dem eigenen Erfahrungsschatz beisteuern können.
Dank bildgebender Verfahren können Hirnforscher heute darstellen, welche Gehirnregionen bei bestimmten Tätigkeiten besonders aktiv sind und dass verschiedene Regionen bei derselben Tätigkeit aktiv sein können. Ebenso offensichtlich ist, dass Können und Wissen im Gehirn völlig unterschiedlich verarbeitet und gespeichert werden. Dies bemerken Sie rasch, wenn Sie jemandem, der noch nie ein Fahrrad gesehen hat, alles nachlesbare Wissen zum Thema Fahrradfahren vermitteln: Die verschiedenen Typen und Größen von Fahrrädern, die Namen der einzelnen Teile, die Berechnung der Übersetzung, die Statik des Rahmens, den Reifendruck und den daraus resultierenden Abrollwiderstand, die Materialeigenschaften der eingesetzten Werkstoffe, die Hebelwirkung der Bremsgriffe und die Kraft, welche die Bremsbacken dadurch ausüben, sowie die daraus resultierende Bremswirkung, den optimalen Neigungswinkel beim Fahren von Kurven mit unterschiedlichen Radien bei verschiedenen und so weiter. Der Lernende weiß vielleicht bald alles über Fahrräder – aber wird er auch Fahrradfahren können? Kreuzen Sie die richtige Antwort an.
◽Ja
◽Nein
Sollten Sie auf diese Frage mit einem überzeugten »Ja« geantwortet haben, sind Sie vielleicht davon ausgegangen, dass unser Musterschüler heimlich Fahrradfahren geübt hat. Freuen Sie sich: Sie sind auf dem richtigen Weg. Wenn Sie jedoch tatsächlich davon ausgegangen sind, dass unser Proband sich ohne zu üben auf das Fahrrad gesetzt hat und sofort hervorragend fahren konnte: Suchen Sie sich doch vielleicht eine der obigen Beschreibung entsprechende Versuchsperson, führen Sie den beschriebenen Versuch durch und lesen Sie hier unbedingt weiter.
Die richtige Antwort lautet nein. Stellen Sie sich vor, dass unser ganzes Wissen im Gehirn auf dem »Dachboden« abgelegt wird. Dort stapeln sich die Kisten, Truhen und Schubladen. Und stellen Sie sich nun vor, dass alles, was das Können (also Tätigkeiten) betrifft, im Keller unseres Gehirns erarbeitet und aufbewahrt wird, denn da stehen unsere Trainingsgeräte. Wie Sie vielleicht schon wissen, werden Tätigkeiten durch Training gelernt und schließlich perfektioniert. Dies betrifft die Fußballspielerin ebenso wie den Klaviervirtuosen.
Beantworten Sie bitte die folgende Frage, bevor Sie weiterlesen: In welchen Bereich gehört das Sprachenlernen vor allem? Wissen oder Können?
◽Wissen
◽Können
Der folgende Hinweis wird Ihnen sofort Klarheit verschaffen: Sagen Sie üblicherweise »Ich weiß Englisch« oder doch eher »Ich kann Englisch«?
Sprache wird jedoch häufig so vermittelt und gelernt, als ginge es um das reine Wissen zu einem Thema. Deshalb werden Vokabeln gebüffelt und das Anwenden bestimmter Grammatikregeln für die Prüfung gelernt. Es ist kein Zufall, dass in Internetforen gefragt wird, ob und wie man 1000 Vokabeln in einer Woche lernen kann. Und all die auswendig gelernten Vokabeln landen – bildlich gesprochen – auf dem Dachboden und setzen dort recht schnell Staub an. So wissen wir dann vielleicht gerade noch, dass Tisch »table« heißt. Da wir dieses Wort aber erst bewusst vom Dachboden holen müssen (was hieß noch gleich Dachboden auf Englisch?), ist eine bestimmte und vielleicht sehr wichtige Situation schon längst vorbei, bis wir uns dazu hätten äußern können. Denn wir stehen im Keller bei den unbenutzten Trainingsgeräten – aber da ist nichts. Wir haben alle Wörter einzeln abgepackt und in Schubladen auf dem Dachboden eingelagert. Remo Largo schreibt in seinem Buch »Wie Kinder lernen«:
Kindgerechtes Lernen, das zu nachhaltigem Begreifen führt, wird in der Schule leider zu wenig gefördert. Hier wird viel zu viel auswendig gelernt und innerhalb kürzester Zeit auch wieder entsorgt, wodurch der Unterrichtsstoff nie wirklich als bleibendes Wissen verinnerlicht wird. Viele Eltern und Lehrer glauben irrtümlicherweise, Auswendiglernen führe zu guten Noten und bestandene Prüfungen garantierten Kompetenzen. Nachhaltiges Lernen besteht jedoch darin, dass durch eigenständige Erfahrungen neues Wissen und neue Fähigkeiten mit vorhandenem Wissen und vorhandenen Fähigkeiten verknüpft werden. (Largo 2010, S. 65)
Ich selbst hatte immer gute Noten in Französisch und Englisch. Ich erinnere mich aber auch noch sehr gut an meine Ängste im Schulzimmer. Im Französischunterricht haben wir alle jeweils die Sätze abgezählt, damit wir rechtzeitig wussten, mit welchem Satz der Grammatikübung wir später an der Reihe waren, um bloß keinen Fehler zu machen. Die übrigen Sätze hatten wir in der Anspannung dann vollständig ausgeblendet. Ich konnte sehr gut Vokabeln auswendig lernen und schnitt in Prüfungen auch bei der Anwendung der prüfungsrelevanten Grammatikregeln stets gut ab. Doch die Sprache sprechen konnte ich trotzdem nicht. In meinem Zwischenjahr in Lausanne habe ich wochenlang kaum gesprochen. Ich wusste, dass ich kaum Französisch sprechen konnte und war während der Schulzeit in der Ansicht bestärkt worden, dass ich keine Fehler machen darf. Lag der Fehler bei meinen Lehrern? Als ausgebildete Lehrerin sehe ich dies heute folgendermaßen: Wir Lehrpersonen lehren so, wie wir es selbst in unserer Schulzeit erfahren haben und wie es uns während unserer Ausbildung gezeigt wurde. Wir imitieren das, was wir in unserer eigenen Schulzeit im Klassenzimmer erlebt haben. Und als Lehrpersonen sind wir sogar besonders lange zur Schule gegangen. »Studenten werden später so Schule halten, wie sie unterrichtet worden sind« (Largo 2010, S. 153). Seit Konfuzius wissen wir: »Wer einen Fehler gemacht hat und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten.« Wer also überzeugt am Irrtum des sinnvollen Paukens festhält, verbreitet ihn weiter. Lassen Sie uns aus diesem Teufelskreis ausbrechen und endlich gehirn-gerecht lernen!
3. Frage: | Warum verbietet die Birkenbihl-Methode das Pauken von Vokabeln? |
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Schlagen Sie die Antwort hinten im Buch nach (S. 143) |
Modell des Lernpythagoras
Modell des Lernpythagoras
Sie kennen inzwischen die beiden Lernkurven für Wissen und Können sowie die dazugehörigen Metaphern. Vera F. Birkenbihl hat diese Grafiken häufig gezeichnet und immer wieder erklärt, da die Unterscheidung von Wissen und Können für ihre Methoden zentral sind. Der diplomierte Erwachsenenbildner und zertifizierte Birkenbihl-Trainer Stefan Holenstein hat sich mit ihr oft darüber ausgetauscht und sich mit der Frage beschäftigt, wie die beiden Bereiche beim Lernen zusammenspielen. Stellen Sie sich noch einmal das Haus vor, in dem sich auf dem Dachboden Wissen stapelt und im Keller die Trainingsgeräte stehen. Sie bewegen sich in den Räumen dazwischen. Es sind Ihre Kompetenzen, die Sie stetig ausbauen, indem Sie sich unter dem Dach mit dem nötigen Wissen bedienen und im Keller fleißig Ihre Fertigkeiten trainieren. Das Verhältnis von Können und Wissen beeinflusst die Kompetenz. Um dies zu veranschaulichen, entwickelte Stefan Holenstein das Modell des Lernpythagoras. Er präsentierte es im September 2012 im Rahmen eines Birkenbihl-Lehrer-Pilottreffens erstmals einem größeren Publikum. Die Rückmeldungen der Teilnehmenden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz waren sehr positiv.
Das Modell[1] basiert auf dem bekannten Satz des