Karin Holenstein

Gehirn-gerechtes Sprachenlernen (E-Book)


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die beiden Seiten (Katheten) eines rechtwinkligen Dreiecks dar. Die dem rechten Winkel gegenüberliegende Seite ist die Hypotenuse, welche im Modell des Lernpythagoras dem Kompetenzfaktor entspricht. Das Modell des Lernpythagoras sieht also folgendermaßen aus: W2 + K2 = KF2. In der langen Form: Wissen2 + Können2 = Kompetenzfaktor2. Aus dem Resultat die Wurzel zu ziehen, ersparen wir uns, weil das Ergebnis eine hervorragende Metapher für die Kompetenz als Ganzes darstellt.

      Die Fläche, die sich je nach Länge der Katheten ergibt, sagt etwas darüber aus, wie kompetent jemand ist. Je länger die zwei Seiten sind, desto größer wird das Quadrat. Oder anders formuliert: »Viel Wissen« und »viel Können« führt zu »viel Kompetenz«.

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      Betrachten wir das am Beispiel des perfekt ausgebildeten Fahrradtheoretikers, der nahezu alles über das Fahrradfahren weiß – jedoch noch immer nicht Fahrradfahren kann. Sie werden mit mir einig sein: Es braucht Wissen und vor allem auch Können, um schließlich erfolgreich Fahrrad zu fahren. Mit dem Pythagoras lässt sich dies visualisieren, indem die beiden Katheten in die fünf Kategorien Einsteiger (E), Fortgeschrittene 1 (F1), Fortgeschrittene 2 (F2), Profi (P) und Meister (M) eingeteilt werden. So entsteht eine Skala mit Werten von 1 bis 5. Diese können nun in die Formel eingesetzt werden.

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      Ich lasse meine Schülerinnen und Schüler ab und zu ihre eigene Englischkompetenz einschätzen. Wenn sich eine Lernende beim Wissen (Wissen über themenbezogene Inhalte in der Fremdsprache sowie vorhandenes Regelwissen) 1.8 Punkte und beim Können (Englisch sprechen und schreiben können) 3 Punkte gibt, errechnet sie eine Kompetenz von 12.24 Punkten (1.82 + 32 = 12.24). Dieser Wert lässt sich nun mit jenem von anderen Schülerinnen und Schülern vergleichen. Natürlich beruht das Resultat auf der Basis einer Selbsteinschätzung, bietet aber durchaus einen Anhaltspunkt für die tatsächliche Kompetenz.

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      Vielleicht möchten Sie Ihre eigenen Kompetenzen in einem bestimmten Bereich visualisieren? Hier haben Sie Gelegenheit dazu:

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      Sprechen wir von Kompetenz, dann meinen wir damit nicht ein einzelnes Element in den Bereichen Wissen und Können, sondern vielmehr das Resultat des Zusammenspiels der beiden Bereiche. Sie werden zu Handlungsfähigkeit verknüpft, die im »wahren Leben« relevant ist. Wie dies im Bereich des Sprachenlernens genau funktioniert, werden Sie am Ende dieser Buchlektüre wissen.

      Intelligenz

      Bevor Sie auf den folgenden Seiten weiterlesen, legen Sie nun bitte Notizpapier bereit. Beantworten Sie dann die drei Fragen weiter unten. Sie dürfen als Antwort Ihre Annahmen notieren oder auch einfach mit »k. A.« (keine Ahnung) antworten. Auf die Lösungen stoßen Sie bei der weiteren Lektüre dieses Buches. Sollten Sie die Beantwortung der Fragen auslassen, bringen Sie sich gerade um eine wichtige Lernerfahrung, denn es gibt nur ein erstes Mal.

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      –Wie intelligent schätzen Sie sich selbst auf einer Skala von 1 bis 10 ein?

       (1 = gar nicht intelligent, 10 = sehr intelligent/genial)

      –Wann erscheint uns jemand besonders intelligent?

      –Wovon hängt es ab, wie schnell jemand etwas ganz Neues lernt?

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      Bei den Fragen im Vorfeld haben Sie sich dazu Gedanken gemacht, wie intelligent Sie sind. Die meisten Menschen stellen sich hier vor, sie müssten eigentlich erst einen »Intelligenztest« machen, und teilen sich gefühlsmäßig dort ein, wo sie glauben, in etwa hinzugehören. Vera F. Birkenbihl sagte zum Thema Intelligenzquotient: »Der sogenannte IQ gibt nicht an, wie intelligent jemand ist, sondern wie gut er mit unserem Schulsystem klarkommt.« Was macht einen intelligenten Menschen nun aus? Wann erscheint uns jemand besonders intelligent? An unseren Seminaren antworten die Teilnehmenden häufig:

      Intelligent erscheint uns beispielsweise jemand, der

      –über ein breites Allgemeinwissen verfügt oder

      –sich gut und schnell ausdrücken kann oder

      –etwas auf verständliche Weise erklären kann oder

      –eine Brille trägt.

      Und was hatten Sie notiert? Lassen Sie uns im nächsten Schritt einen Blick darauf werfen, was unter Intelligenz verstanden und wie der Begriff definiert werden kann.

      Bedeutung des Intelligenzbegriffs nach Perkins

      Am meisten beeindruckt hat mich immer die Definition von David Perkins, Professor an der Harvard Graduate School of Education, wonach Intelligenz lernbar ist. Er schlägt vor, dass wir die Intelligenz in drei Faktoren aufteilen.

      Teil eins steht für die neuronale Geschwindigkeit. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen ohne Vorkenntnisse in einem Vortrag über Astrophysik, in dem Ihnen der Referent etwas völlig Neues erklärt. Wie schnell können Sie das Vorgetragene einordnen? Gehören Sie eher zu den Schnelldenkern oder eher zu den langsamen Denkern? Oder liegen Sie irgendwo in der Mitte? Egal, wo Sie sich aus Ihrer Erfahrung heraus sehen, die Geschwindigkeit, mit welcher die Neuronen im Gehirn feuern, ist erblich bedingt und somit grundsätzlich vorgegeben. Sind Sie also eher ein Schnelldenker, haben Sie einfach Glück gehabt. Sie konnten mit Ihren Turbo-Neuronen in der Schule auch isolierte Lerninhalte schnell einordnen und hatten wahrscheinlich wenig Lernprobleme (waren sogar eher unterfordert). Langsame Lerner brauchen länger, um neue Inhalte zu verarbeiten. Sie sind darauf angewiesen, dass sie genügend Zeit haben, um neues Wissen einzuordnen und zu verankern und neue Tätigkeiten zu trainieren. In unserem Schulsystem fühlen sie sich oft dumm. Dabei sind sie einfach nur langsamer als andere und können die Lerninhalte ebenso gut lernen wie ihre schnellen Mitschülerinnen und Mitschüler – es dauert nur länger. Übrigens kann es auch Vorteile haben, langsamer zu sein. Stellen Sie sich vor, jemand braust mit seinem Sportwagen über die Autobahn. Ein anderer radelt mit dem Fahrrad an sein Ziel. Wer nimmt mehr Details von der Landschaft wahr? Oft haben langsame Denker den Vorteil, dass sie Dinge wahrnehmen, die den Schnelldenkern beim Vorbeibrausen entgehen. Ihre Langsamkeit zwingt sie sozusagen dazu, den Dingen genauer auf den Grund zu gehen, um sie zu verstehen. Neuronal langsam zu sein, hat also auch Vorteile. Sie kennen sicher Menschen in Ihrem Umfeld, welche insbesondere auch diese beiden Extreme belegen.

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      Perkins sagt, dass der zweite Bestandteil der Intelligenz unser bestehendes Wissensnetz ist. Wissen Sie über viele Themen Bescheid und wie groß ist Ihr jeweiliges Wissensnetz innerhalb jedes Themas? Wir könnten den Wissensbereich beinahe endlos erweitern. Sie erinnern sich an unseren Musterschüler, der sich eingangs mit dem Thema »Fahrrad« beschäftigt hat? Unser Gehirn ist, wie die Forschung seit längerem weiß, kein statisches Konstrukt, sondern bis ins hohe Alter sehr plastisch und anpassungsfähig. Es ist das einzige Organ, das wächst, ohne mehr Raum zu benötigen. Wir müssen also nie befürchten, dass es in unserem Schädel keinen Platz mehr hat. Diesen Teil der Intelligenz können wir beeinflussen und weiter ausbauen, indem wir unser Wissen erweitern.

       Das Wissen besteht aus unzähligen verschiedenen Bezirken und Arealen, die durch eine Vielzahl von Verbindungen und Verknüpfungen miteinander vernetzt sind. Es gibt dichtere und dünnere Stellen; gewisse Bezirke kann man sich wohl strukturiert denken, einige Areale wiederum eher chaotisch. Das Wissensnetz verändert sich ständig; es wird darin laufend eingebaut, umgebaut und verändert,