Karin Holenstein

Gehirn-gerechtes Sprachenlernen (E-Book)


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Perkins ist unsere Methoden-Kompetenz. Kennen wir und unsere Lernenden verschiedene Methoden und Strategien zum Lernen oder nur eine einzige (z. B. monotones Auswendiglernen)? Hier liegt meiner Ansicht nach ein sehr großes Potenzial. Als Lehrerin ist es mein Bestreben, meinen Schülerinnen und Schülern möglichst viele verschiedene gehirn-gerechte Lernmethoden mit auf den Weg zu geben. Unsere Lernenden sollten ein großes Repertoire an geeigneten Methoden aufbauen können, indem sie verschiedene Lernmethoden während ihrer eigenen Lernphasen anwenden und ausprobieren dürfen. Schon sehr bald können sie die für sie persönlich passende und auf die jeweiligen Lerninhalte abgestimmte Methode selbstständig auswählen. Aber eben wirklich nur, wenn sie auch eine entsprechende Auswahl haben.

      An den Rädchen von Teil zwei (Wissensnetz) und Teil drei (Methoden und Strategien) können wir also drehen. Durch Üben können wir indirekt auch am ersten Rädchen drehen. Denn auch jemand, der neuronal langsam ist, kann durch Training auf der Wirkungsseite so flink werden wie ein neuronal schneller Mensch.

      Ob jemand neuronal schnell oder langsam ist, zeigt sich also, wenn auf einen Menschen etwas ganz Neues zukommt. Wenn der Mensch mit einem ganz neuen Thema (Astrophysik) oder einem ganz neuen Bewegungsablauf (Tanzschritt) konfrontiert wird. Um dies aufzuzeigen, machen wir in unseren Seminaren oft folgende Übung: Zuerst lassen wir die Teilnehmenden die Wochentage der Reihe nach aufsagen. Laut sagen sie diese vor sich hin: »Montag, Dienstag, Mittwoch …«. Dies geht erfahrungsgemäß sehr flott, alle Teilnehmenden halten locker mit und rufen laut die Wochentage. Das Aufsagen der Wochentage ist für alle Sprechenden nichts Neues und so gibt es auch keine großen Tempo-Unterschiede. Jeder kennt die Wochentage auswendig und hat für die Nennung dieser bereits eine »Autobahn« im Kopf angelegt. Entsprechend leicht fällt diese Übung – egal ob jemand neuronal schnell oder langsam ist.

      Nach diesem Einstieg lassen wir die Teilnehmenden die Wochentage rückwärts aufsagen, mit Dienstag beginnend. Hier merken alle, dass das Tempo automatisch etwas niedriger ist und auch die Lautstärke etwas nachlässt. Das geht nicht mehr so flüssig, denn die Teilnehmenden müssen bei jedem Wochentag kurz überlegen, welcher Tag davor war. Trotzdem geht das noch ziemlich zügig, weil wir im Alltag auch wissen müssen, welcher Tag gestern war. Wir können das also gut re-konstruieren.

      Die dritte Übung löst als Erstes immer Gelächter aus. Wir fordern die Teilnehmenden auf: »Sagen Sie nun noch einmal die Wochentage auf, diesmal bitte alphabetisch geordnet!« Versuchen Sie es selbst. Der erste Tag ist übrigens der Dienstag. Dazu hat nun wirklich niemand auch nur einen schmalen »Trampelpfad« im Gehirn. Da ist nichts im Gehirn, was die Wochentage in alphabetischer Form gespeichert hätte. Die Reihenfolge muss erst konstruiert werden. Hier zeigt sich nun, wer eher ein Schnelldenker ist und Neues rasch verarbeiten kann und wer eben einfach mehr Zeit benötigt, um die Wochentage alphabetisch auf die Reihe zu kriegen. Falls diese Reihenfolge in unserem Alltag Sinn machen würde und wir tagtäglich mit der alphabetischen Reihenfolge zu tun hätten, könnten wir diese bald alle genauso schnell aufsagen, wie wir es mit der normalen Reihenfolge Montag, Dienstag, Mittwoch … gewohnt sind.

      Wir als Lehrpersonen sollten uns diese Übung immer wieder vor Augen führen und den langsameren Lernern in unserem Schulzimmer einfach mehr Zeit geben. Langsam darf nicht gleichgesetzt werden mit dumm! Im Rahmen unserer Seminare haben wir schon so oft erlebt, dass Erwachsene zu uns kommen und in der Pause erzählen, dass sie ihr ganzes bisheriges Leben lang immer geglaubt hätten, dass sie dumm sind. Eine etwa 45-jährige Frau kam einmal mit Tränen in den Augen zu mir und sagte zu mir: »Wissen Sie, alle habe zu mir immer ›die dumme Manuela‹ gesagt. In der Familie war ich schon immer ›die Dumme‹ und auch in der Schule war das so. Jetzt verstehe ich, dass ich einfach langsamer bin als andere. In meiner ganzen Schul- und Ausbildungszeit war es für mich immer so, als würde ich einem fahrenden Zug hinterherrennen, und ich wusste aber auch, dass, so sehr ich mich auch anstrenge, ich keine Chance haben würde, auf den Zug aufzuspringen!«.

      Ich weiß heute, dass diese Geschichte kein Einzelfall ist. In fast jeder Klasse gibt es Schüler, die langsamer lernen. Leider erlebe ich immer wieder, wie schnell diese Kinder für immer als »dumm« abgestempelt werden. Trauen wir den Kindern etwas zu und vor allem: Hinterfragen wir die Methoden und nicht die Kinder. Jede Woche darf ich erfahren, dass sogenannte »dumme« oder »schwache« Schüler aufblühen, wenn sie gehirn-gerecht Lernen dürfen, wenn man ihnen dazu genügend Zeit lässt und sie gleichzeitig mit geeigneten Methoden unterstützt.

      Die neun Intelligenzen bei Gardner

      Im Rahmen unserer Kinder-Eltern-Seminare lassen wir jeweils die Kinder und ihre Eltern ihre Stärken auf der Basis der von Howard Gardner (Gardner, 2002) beschriebenen Intelligenzen bestimmen. Die Teilnehmenden kreuzen ihre zwei am ausgeprägtesten Intelligenzen an. Was würden Sie ankreuzen?

      ◽Sprachliche Intelligenz

      ◽Logisch-mathematische Intelligenz

      ◽Musikalisch-rhythmische Intelligenz

      ◽Räumliche Intelligenz

      ◽Körperlich-kinästhetische Intelligenz

      ◽Naturalistische Intelligenz

      ◽Interpersonale, soziale Intelligenz

      ◽Intrapersonale Intelligenz

      ◽Existenzielle Intelligenz

      Was denken Sie, wie die Verteilung auf diese neun Formen von Intelligenz nach einigen hundert Teilnehmenden aussieht? Es hat sich gezeigt, dass die Stärken ziemlich gleichmäßig auf alle neun Intelligenzen verteilt sind. In unserem Schulsystem liegen die Schwerpunkte aber vor allem bei der sprachlichen und logisch-mathematischen Intelligenz. Wer seine Stärken und Interessen genau hier hat, wird fast automatisch eine gute Schülerin oder ein guter Schüler sein. Wer seine Stärken woanders hat, sollte diese zumindest in seiner Freizeit oder später einmal (nach dem Austritt aus der Schule) ausleben können, da diese Fähigkeiten andernfalls verkümmern könnten. Howard Gardner schreibt dazu:

       Die Verbindung von sprachlicher und logisch-mathematischer Intelligenz ist zweifellos ein Segen für Schüler und Studenten wie überhaupt für jeden, der regelmäßig Tests absolvieren muß. Vielleicht hat die Tatsache, daß sich die meisten Psychologen und die Wissenschaftler überhaupt durch ein angemessenes Volumen beider Intelligenzen auszeichnen, zwangsläufig dazu geführt, daß diese Fähigkeiten die Intelligenztests dominieren. (Gardner 2002, S. 56)

      Auch wenn die von Gardner beschriebenen Intelligenzen bisweilen kontrovers diskutiert werden, erscheint mir die Idee, dass es nicht nur eine Intelligenz gibt, wesentlich. Howard Gardner hat die Vielfalt des menschlichen Geistes beschrieben und nicht nur die kognitiven, sondern auch andere Intelligenzformen aufgelistet. Er sagt, dass wir Kinder nicht so eindimensional sehen sollten. Wenn wir nur auf die rein kognitiven Fähigkeiten der Lernenden achten, machen wir einen Fehler. Kinder sollten auch miteinander und mit sich selbst klarkommen. Sie sollten sich bewegen und sich mit ihrer natürlichen Umgebung beschäftigen dürfen.

      Viele weitere Autoren sehen die Intelligenz schon lange nicht mehr als eine unveränderbare Zahl auf der IQ-Skala. Persönlichkeitstrainer Ken Robinson stellt nicht die Frage: Wie intelligent sind Sie? Sondern: Wie sind Sie intelligent? Er schreibt:

       Wenn Sie wissen, dass Intelligenz vielgestaltig, dynamisch und individuell ist, können Sie an diese Frage anders herangehen. Und das gehört unbedingt dazu, wenn Sie Ihr Potenzial entdecken wollen. Denn wenn Sie Ihre Vorurteile über das, was Intelligenz ist, aufgeben, können Sie anfangen, Ihre ganz besondere Intelligenz neu zu sehen. Kein Mensch ist eine Zahl auf einer linearen IQ-Skala und nicht zwei Menschen mit dem gleichen IQ werden das Gleiche tun, die gleichen Passionen verfolgen oder in ihrem Leben gleich viel erreichen. Das Potenzial entdecken zu wollen bedeutet, sich auf alle Möglichkeiten einzulassen, auf die Sie die Welt erleben, und herauszufinden, wo Ihre wahren Stärken liegen. (Robinson 2010, S. 74)

      Für mich spiegelt dies die große Vielfalt in uns und in unseren Schülerinnen und Schülern wider. Wie schön ist es doch, dass wir verschieden sind und jeder seine eigenen Stärken hat. Manfred Spitzer sagte dazu in einer Fernsehsendung: »Menschen sind vielfältig und es ist wichtig, dass