Edgar H. Schein

Prozessberatung für die Organisation der Zukunft


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Daher müssen solche Empfehlungen, falls sie nicht gemeinsam mit den Mitgliedern der Organisation erarbeitet werden, die wissen, was in ihrer Kultur Erfolg verspricht, notgedrungen falsch sein oder auf Ablehnung stoßen, da sie von einem Außenseiter kommen.

      Solange die Klienten nicht lernen, die Probleme selbst zu erkennen und an den Lösungen dafür zu arbeiten, ist es nicht wahrscheinlich, dass sie die Lösung umsetzen und lernen, solche Probleme in Zukunft selbst zu beheben. Der Prozessberatungsmodus bietet Alternativen, aber die Entscheidung über diese Alternativen gehört nicht in die Hände des Beraters, sondern in die Hände des Klienten, um dessen Problem es sich handelt.

      Letztendlich geht es bei der Prozessberatung darum, den Klienten das Diagnose- und Interventions-Know-how zu vermitteln, damit diese befähigt werden, die Organisation selbst sukzessive zu verbessern. In einem gewissen Sinne sind sowohl das Experten- wie das Arztmodell therapeutische Modelle, wogegen das Prozessberatungsmodell sowohl therapeutisch als auch präventiv arbeitet. Das Sprichwort »Statt den Menschen Fische zu geben, sollte man ihnen das Fischen beibringen« bringt diesen Ansatz ziemlich genau auf den Punkt.

      An dieser Stelle unterscheiden sich die Modelle ganz klar insofern von einander, als das Experten- und das Arztmodell sich mit dem Single-loop- oder adaptiven Lernen vergleichen lassen, wogegen Prozessberatung den Klienten in Double-loop- oder generatives Lernen verwickelt. Ein Ziel der Prozessberatung ist es, die Klienten das Lernen zu lehren. Im Experten- und Arztmodell wird das Problem behoben; Ziel des Prozessberatungsmodells ist es, die Lernfähigkeit des Klientensystems zu erhöhen, damit es zukünftige Probleme selbst lösen kann.3

      Der Prozess des Helfens sollte stets im Prozessberatungsmodus beginnen, da wir, solange wir uns nicht erkundigt haben und uns im Zustand der Ignoranz befinden, tatsächlich nicht wissen, ob die obigen Annahmen standhalten oder ob es sicher oder wünschenswert wäre, in den Experten- oder Arztmodus zu wechseln. Sobald wir mit dem Sammeln von Informationen angefangen haben, werden wir feststellen, dass es für die Entscheidung, ob es besser ist, in der Prozessberatungsrolle zu bleiben oder in einen anderen Modus zu wechseln, hilfreich ist, das Problem des Klienten auf seine Eigenschaften hin abzuklopfen.4 Sind sowohl Definition wie Lösung des Problems klar, ist das Expertenmodell angemessen. Ist die Problemdefinition klar, aber nicht die Lösung, muss der Arzt mit dem Patienten arbeiten, um die richtige adaptive Reaktion zu entwickeln, die auf das technische Know-how des Patienten zurückgreift. Sind weder Problem noch Lösung klar, muss der Helfer sich zu Beginn auf die Prozessberatung stützen, bis offenkundig wird, was genau vorgeht, welche Hilfe benötigt wird und wie sie am besten zu bekommen ist. Die Entscheidung, ob ein technischer Eingriff oder eine adaptive Reaktion vonnöten ist, hängt dann davon ab, in welchem Ausmaß der Klient oder Ratsuchende seine Einstellungen, Werte und Gewohnheiten zu ändern hat.

      Mit diesen Überlegungen im Hinterkopf können wir Prozessberatung definieren:

      Prozessberatung ist der Aufbau einer Beziehung mit dem Klienten, die es diesem erlaubt, die in seinem internen und externen Umfeld auftretenden Prozessereignisse wahrzunehmen, zu verstehen und darauf zu reagieren, um die Situation, so wie er sie definiert, zu verbessern.

      Prozessberatung konzentriert sich zu Beginn auf den Aufbau einer Beziehung, die es Klienten und Berater erlaubt, sich mit der Wirklichkeit auseinander zu setzen, die Wissenslücken des Beraters füllt und das Vorgehen des Beraters klar als Intervention einstuft. Dabei steht stets die Einsicht der Klienten in die Prozesse im Vordergrund, die um sie herum, in ihnen und zwischen ihnen und anderen ablaufen. Auf der Grundlage solcher Einsichten lernen die Klienten dann durch die Prozessberatung, Strategien für diese Situation zu entwickeln. Kern dieses Modells bleibt dabei die Philosophie, den Klienten vor allem dabei zu helfen, die Initiative zu behalten, womit sowohl die Initiative bei der Diagnose wie bei der Therapie gemeint ist, denn die identifizierten Probleme sind und bleiben die Probleme der Klienten, und nur sie wissen, wie komplex die Situation wirklich ist und welche Maßnahmen in ihrer Kultur wirklich Erfolg versprechen. Das kann als fünftes übergreifendes Prinzip festgehalten werden.

      FÜNFTES PRINZIP

      Das Problem und seine Lösung gehören dem Klienten.

       Meine Aufgabe ist es, eine Beziehung aufzubauen, in der der Klient Hilfe findet. Es ist nicht meine Aufgabe, mir die Probleme des Klienten selbst aufzuladen, noch ist es meine Aufgabe, Rat und Lösungen für Situationen anzubieten, die ich nicht selbst durchlebe. Fakt ist, dass nur der Klient mit den Folgen des Problems und der Lösung leben muss, ich ihm also nicht die Verantwortung dafür abnehmen kann.

      Die Ereignisse, die es zu beobachten, über die es Nachforschungen anzustellen und aus denen es Erkenntnisse zu ziehen gilt, findet man im normalen Arbeitsablauf, der Durchführung der Meetings, in offiziellen und inoffiziellen Begegnungen zwischen den Organisationsmitgliedern und den formaleren Organisationsstrukturen. Von besonderem Interesse dabei ist, was der Klient selbst tut und welche Auswirkungen dies auf die anderen in der Organisation hat sowie auf den Berater. Wie Berater und Therapeuten in anderen Gebieten nachwiesen, ist die Interaktion zwischen Klient und Berater sowie die Gefühle, die diese Interaktionen in beiden beteiligten Parteien hervorrufen, eine der wichtigsten Erkenntnisquellen.5

      Diesem Modell implizit ist weiter die Annahme, dass alle Organisationsprobleme im Grunde von zwischenmenschlichen Interaktionen und Prozessen geprägt sind. Unabhängig davon, welche technischen, finanziellen oder anderen Dinge eine Rolle spielen mögen, es sind stets Menschen an der Entwicklung und Umsetzung dieser technischen Prozesse beteiligt, und es sind stets Menschen, die auf die Idee kommen, technische Lösungen könnten weiterhelfen. Eine gründliche Kenntnis menschlicher Prozesse und die Fähigkeit, an diesen Prozessen zu arbeiten, sind daher unverzichtbar, um Organisationsprozesse zu verbessern. Solange Organisationen Netzwerke sind, die aus an gemeinsamen Zielen arbeitenden Menschen bestehen, werden zwischen diesen Menschen die verschiedensten Prozesse ablaufen. Je mehr wir also über die Diagnose und die Optimierung solcher Prozesse wissen, desto größer werden unsere Chancen, Lösungen für die eher technischen Probleme zu finden und zu gewährleisten, dass diese Lösungen auch akzeptiert und von den Mitgliedern der Organisation verwendet werden.

      Das Konzept der Prozessberatung lässt sich nur schwer einfach und klar beschreiben. Es ist eher eine Philosophie oder eine Reihe unterschwelliger Annahmen über den Prozess des Helfens, die den Berater veranlassen, eine bestimmte Haltung gegenüber seiner Beziehung zum Klienten einzunehmen. Prozessberatung lässt sich am ehesten verstehen, wenn man sie als einen Operationsmodus sieht, den der Berater in jeder gegebenen Situation wählen kann. Vor allem zu Beginn der Begegnung ist dieser Operationsmodus erforderlich, da sich durch diesen Modus am ehesten erschließen lässt, was der Klient wirklich wünscht und welche Art von Helfer tatsächlich von Nutzen ist. Stellt sich heraus, dass es dem Klienten um einfache Information oder einen Rat geht, und der Berater zufrieden ist, dies anbieten zu können, kann er ohne Gefahr in die Experten- oder Arztrolle schlüpfen. Wählt der Berater eine dieser Rollen, muss er sich jedoch über die zugrundeliegenden Annahmen und die Folgen im Klaren sein, die es mit sich bringt, den Klienten dazu zu ermutigen, sich vom Berater abhängig zu machen. Des Weiteren sollte er darauf achten, das Problem des Klienten nicht zu seinem eigenen zu machen.

      Auf einem Gebiet jedoch sollte der Berater Experte sein: Er sollte stets genau wissen, was im Augenblick vor sich geht und welcher Modus für die jeweilige Situation angemessen ist und den Aufbau einer helfenden Beziehung voranbringt. Keines dieser Modelle wird die ganze Zeit über verwendet. Aber der Berater muss sich stets auf eines beschränken. Der erfahrene Berater wird feststellen, dass er die Rollen häufig wechselt, wenn er merkt, dass sich die Dynamik ändert. Daher sollten wir Konzepte wie »der Prozessberater« vermeiden und »Prozessberatung« eher als einen dynamischen Prozess des Helfens sehen, den alle Berater, ja alle Menschen, in bestimmten Zeiten als angebracht empfinden.

      Obwohl die Bedeutung von Prozessberatung in den Organisationen von heute ständig zunimmt, sollte man keineswegs vergessen, dass das Modell sich auch auf unsere alltäglichen Beziehungen zu Freunden, Ehegatten, Kindern und anderen übertragen lässt,