Edgar H. Schein

Prozessberatung für die Organisation der Zukunft


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und durchführt. Der Klient gibt nicht nur die Verantwortung dafür ab, sein Problem selbst zu diagnostizieren – wodurch er sich nur um so stärker in die Abhängigkeit von dem Berater begibt –, sondern er nimmt darüber hinaus auch an, dass jemand von außen in die Situation geholt werden kann und in der Lage ist, die Probleme zu identifizieren und zu beheben. Dieses Modell spricht die Berater natürlich besonders an, da es sie in eine starke Position versetzt und ihnen einen Röntgenblick zuschreibt. Die fachmännische Diagnose und Verschreibung von Behandlungen rechtfertigen die hohen Gelder, die Berater verlangen können, und verdeutlichen die Natur ihrer Dienstleistung. In diesem Modell kommen dem Bericht, der Darstellung der Befunde und der Empfehlungen eine besondere Bedeutung zu. Sie lassen die Aufgabe des Beraters klar hervortreten. Für viele Berater ist das der zentrale Punkt ihrer Arbeit, und sie sind erst dann überzeugt, ihre Arbeit ordentlich getan zu haben, wenn sie eine gründliche Analyse und Diagnose durchgeführt haben, die sie in eine schriftlich festgehaltene Empfehlung umsetzen können.

      Zum Beispiel führt der Berater in einer Version dieses Modells, das bei Managern verwendet wird, eingehende Interviews und psychologische Tests durch. Diese gehören zur Diagnosephase, an deren Ende eine schriftliche Auswertung und Empfehlung für die weiteren Schritte steht. Eine andere Version sieht vor, dass der Berater Meinungsumfragen für bestimmte Bereiche der Organisation entwirft, die als Diagnosegrundlage dienen. Man erwartet, dass der Berater weiß, welche Fragen er zu stellen hat, welcher Prozentanteil positiver oder negativer Antworten ein Problem darstellt und welche Antwortenmuster auf mögliche Probleme in der Organisation hinweisen. Häufig werden raffinierte statistische Methoden ins Spiel gebracht, um die Diagnose zu untermauern und dem Klienten zu versichern, dass der Berater diagnostisch beschlagen ist.

      Bei der vielleicht verbreitetsten Version dieses Modells vereinbaren Berater mit der Chefetage, in einer Reihe von ausführlichen Interviews zu erkunden, was im Unternehmen vor sich geht, anhand dieser Daten zu einer Diagnose zu gelangen und dem Klienten, der sie beauftragte, dann Projekte zur Behebung dieser Probleme vorzuschlagen. Eine zur Zeit populäre Version davon ist die Erstellung eines Kompetenzprofils, das bei einer bestimmten Aufgabenbeschreibung Erfolg verspricht: das Profil vorhandener Kompetenzen mit den Datenbanken einer Reihe von Organisationen zu vergleichen und, basierend auf den dabei entdeckten Profilunterschieden, Auswahl, Fortbildung und Karriereentwicklungsprogramme vorzuschlagen, um die Kompetenzen zu erhöhen, bei denen Mängel entdeckt wurden.

      Wie den meisten Lesern aus ihrer eigenen Erfahrung klar sein wird, ist dieses Modell trotz seiner Popularität mit Problemen behaftet. Wir alle haben, als Klienten, die Erfahrung gemacht, wie irrelevant der Rat oder die Empfehlung eines Helfers sein kann oder wie sehr es einem zuwider laufen kann, wenn man gesagt bekommt, was man zu tun hat, selbst wenn man zuvor um Rat gefragt hat. Als Berater haben wir alle, öfter als uns recht ist, die Erfahrung gemacht, dass unser Bericht samt unseren Empfehlungen mit einem höflichen Kopfnicken entgegengenommen wird, um dann ordentlich weggestellt oder, schlimmer noch, ganz abgelehnt zu werden mit dem Hinweis, wir hätten die Lage des Kunden nicht wirklich verstanden. Klienten verfallen häufig in eine Abwehrhaltung und bemängeln an unseren Empfehlungen, wir hätten wichtige Faktoren übersehen oder der empfohlene Kurs sei bereits versucht worden und fehlgeschlagen. Berater, die nach diesem Arzt-Patienten-Modus arbeiten, sind häufig unzufrieden mit ihren Klienten – sie wüssten nicht, was sie wollten, sie sähen die Wahrheit nicht, wenn man sie mit dem Kopf darauf stoße, oder sie widersetzten sich einer Änderung und wollten eigentlich gar nicht, dass man ihnen hilft. Um diese Schwierigkeiten zu verstehen und das Prozessberatungsmodell in die richtige Perspektive zu rücken, müssen wir einige der impliziten Annahmen des Arzt-Patient-Modells analysieren.

      Einer der offensichtlichsten Schwachpunkte dieses Modells ist die Annahme, der Berater könne allein an exakte Informationen für seine Diagnose gelangen. Dabei kann sich der als problematisch definierte Organisationsbereich weigern, die Informationen preiszugeben, auf die der Berater für seine Diagnose angewiesen ist. Es ist vorhersagbar, dass in den Fragebögen und bei den Interviews systematische Verzerrungen auftreten werden. Die Richtung dieser Verzerrungen hängt vom Betriebsklima ab. Ist dieses von Misstrauen und Unsicherheit geprägt, werden die Befragten aus Angst vor Vergeltung dem Berater gegenüber alles Negative verschweigen – mutige »Aufdecker« und »Nestbeschmutzer« können ein Lied davon singen. Oder die Befragten betrachten das Interview, die Umfrage oder den Test als Übergriff in ihren Privatbereich und antworten entweder nur so knapp wie möglich oder das, was man ihrer Ansicht nach von ihnen erwartet oder was sie für sicher halten. Ist das Klima dagegen von Vertrauen geprägt, werden die Befragten den Kontakt mit dem Berater als eine Gelegenheit sehen, sich ihren Kummer von der Seele zu reden, was zu einer Übertreibung der bestehenden Probleme führen kann. Wie dem auch sei, verwendet der Berater nicht viel Zeit darauf, die Abteilung selbst zu beobachten, wird er kein genaues Bild von den Vorgängen erhalten.

      Ein weiteres Problem dieses Modells, das dem eben beschriebenen in nichts nachsteht, ist die häufig auftretende mangelnde Bereitschaft des Klienten, die Diagnose des Beraters ernst zu nehmen oder sich von seinen Abhilfemaßnahmen überzeugen zu lassen. In den meisten Organisationen finden sich wahrscheinlich ganze Schubladen voll mit Beraterberichten, die entweder vom Klienten nicht verstanden oder nicht akzeptiert wurden. Falsch gelaufen ist dabei natürlich, dass der Arzt es versäumte, einen gemeinsamen Bezugsrahmen mit seinem Patienten aufzubauen. Sie haben es nicht mit einer gemeinsamen Wirklichkeit zu tun. Falls der Berater mit der Diagnosearbeit beschäftigt ist, während der Klient passiv darauf wartet, sein Rezept ausgehändigt zu bekommen, wird sich mit ziemlicher Sicherheit ein Kommunikationsgraben zwischen den beiden auftun, der Diagnose wie Rezept irrelevant oder unverdaulich erscheinen lässt.

      Selbst die wirklichen Ärzte im weißen Kittel erkennen immer mehr, dass Patienten nicht automatisch ihre Diagnose akzeptieren oder ihren Anweisungen Folge leisten. Am offensichtlichsten wird dies in kulturüberschreitenden Zusammenhängen, in denen Annahmen darüber, was eine Krankheit ist oder welche Maßnahmen sie erfordert, von Kultur zu Kultur differieren können. Auch in der Behandlung bei Brustkrebs wird dies zunehmend deutlich. Hier bezieht der Onkologe die Patientin verstärkt in die Entscheidung mit ein, ob die ganze Brust oder nur der Knoten entfernt wird und ob sie sich im Anschluss an die Operation einer Chemotherapie oder einer Bestrahlung unterzieht. Bei Schönheitsoperationen oder wenn die Entscheidung ansteht, ob eine Bandscheibenoperation nötig ist, wächst den Erwartungen und dem Selbstbild des Patienten eine ähnlich entscheidende Rolle zu, wenn bestimmt werden soll, wie erfolgreich die Operation letztendlich war. Wenn wir schon eine Version des Arztmodells aus dem medizinischen Bereich wählen, sind wir mit dem psychiatrischen Modell besser beraten. Denn hier zählen die Analyse des Widerstands und der Abwehrhaltung zu den entscheidenden therapeutischen Werkzeugen.

      Das dritte Problem dieses Modells liegt darin, dass in menschlichen Systemen, mehr noch: in allen Systemen, der Diagnoseprozess selbst eine Intervention mit unbekannten Folgen darstellt. Werden in der Chefetage Persönlichkeitstests und in Teilen der Organisation Meinungsumfragen durchgeführt und die Mitarbeiter dabei zu ihrer Wahrnehmung des Unternehmens interviewt, beginnen sich diese zu fragen, was in ihrem Betrieb los sein könnte, dass Berater in das Unternehmen geholt werden. Obwohl sich der Berater keiner Schuld bewusst ist, kommt der Angestellte vielleicht zu dem Schluss, dass die Geschäftsführung das Unternehmen umzustrukturieren und Leute zu entlassen gedenkt. Der Berater tut sein Bestes, geht bei den Tests und Umfragen nach allen Regeln der Wissenschaft vor, doch der Angestellte empfindet das möglicherweise als Eindringen in seine Privatsphäre, gegen das er sich vielleicht sogar mit anderen Angestellten verbündet, wodurch sich die Beziehungen innerhalb der Organisation verändern. Ironischerweise legen die ausgetüftelten Vorsichtsmaßnahmen, die die Anonymität einer Umfrage gewährleisten sollen – indem man die Bögen z.B. an eine neutrale Partei schickt –, ein Misstrauen innerhalb der Organisation nahe, das als eine weitaus signifikantere Realität aufgefasst werden kann, als die Erhebung selbst vielleicht vermuten lässt.

      Ein viertes Problem bei dem Arzt-Patient-Modell liegt darin, dass der Patient selbst bei einer validen Diagnose und Verschreibung vielleicht nicht in der Lage ist, die empfohlenen Änderungen durchzuführen. Was im Kontext einer Organisation wohl das häufigste Problem ist. Nicht selten liegt es für den von außen kommenden Berater auf der Hand, was zu tun ist, aber die Kultur des Unternehmens, seine Struktur oder seine Politik verhindern eine Umsetzung der Empfehlungen.