Thomas Maissen

Geschichte der Schweiz


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Privilegien. Gleichzeitig stand die Stadt aber bei kriegerischen Konflikten zumeist auf der Seite von Habsburgs Gegnern. So schwankten die Luzerner noch bis zur Schlacht von Sempach zwischen Untertanenpflichten und Autonomiebestrebungen.

      In den Waldstätten ging in derselben Phase die Herrschaft allmählich und endgültig an die neue Gruppe von Potentaten über. Zuerst gelangten sie wohl um 1300 in Schwyz an die Macht (Ab Iberg, Stauffacher), in Uri erst nach dem Tod des hochadligen Landammanns Johannes von Attinghausen (1358/59).Die Urner Alpentäler hatten ursprünglich vor allem entfernten Gotteshäusern gehört, ausser dem Fraumünster Zürich Zisterzienserklöstern wie Wettingen; die Verwaltung übertrugen sie kleinadligen Vögten oder Meiern. Im 14./15. Jahrhundert kaufte die Landsgemeinde oder vielmehr ihre vermögenden Mitglieder den Klöstern den Grundbesitz mit den feudalen Rechten ab. Bezeichnenderweise erfolgte der Loskauf vom Kloster Wettingen in Uri zum selben Zeitpunkt, als die Herrschaft der Hochfreien von Attinghausen zu Ende ging. Bis zum Ende des Jahrhunderts verloren auch die Ministerialengeschlechter, so die Hunwil in Obwalden, und überhaupt alle bisherigen Landammannsfamilien ihre Machtstellung in den Waldstätten. Die grossbäuerlich-kleinadlige Aufsteigerschicht, die mit Vieh und Söldnern Handel trieb und sich auf eine Klientel in den Dorfgemeinden stützte, beerbte den lokalen Adel und die klösterlichen Amtsträger als Garanten der öffentlichen Ordnung im Alpenraum. Anders als ihre Vorgänger kannte sie aber keine Loyalitätspflichten mehr gegenüber Habsburg. Auch deswegen wurden diese Potentaten als dauerhafte Partner interessant für diejenigen Kreise, die gewohnt waren, ihre inneren und äusseren Herrschaftsansprüche durch vorübergehende überregionale Bündnisse zu sichern: die städtischen Räte von Zürich und Bern.

      1353 bestand also keine achtörtige Eidgenossenschaft. Doch im Raum der späteren Schweiz hatte sich ein Bündnis-Netzwerk neben anderen ausgebildet. Die Waldstätte, ihrerseits am engsten zusammengeschlossen im Bund von 1315, hatten als Einzige an den fünf anderen Verträgen teil, die alle unterschiedliche Bestimmungen enthielten. Die wichtigsten Partner, Bern und Zürich, waren nicht direkt verbündet. Auch der Pfaffenbrief von 1370 vereinte nur die sechs Orte des Zuger Bunds (ohne Bern und Glarus), die überzeugt waren, dass Kleriker nur in geistlichen Angelegenheiten und Ehesachen an ein fremdes oder kirchliches Gericht gelangen durften, nicht aber bei normalen Verbrechen wie demjenigen eines Zürcher Propstes, der den Luzerner Schultheiss überfallen und so den Pfaffenbrief provoziert hatte. Damit zeigten die einzelörtischen Obrigkeiten, dass sie die militärische und Gerichtshoheit in ihren Städten und Ländern und vor allem auf den Strassen dazwischen gemeinsam durchsetzen wollten. Dieser Schutzbereich wurde im Pfaffenbrief erstmals räumlich, aber eben mit nur sechs Orten als «unser Eydgnosschaft» zusammengefasst. Trotz solchen zaghaften Ansätzen eines territorialen Herrschaftsverständnisses sollte es bis 1798 dabei bleiben, dass es keinen Bund gab, der alle Orte zusammen erfasst hätte. Es handelte sich stets um ein Gefüge von Verträgen, die zudem vorerst keineswegs exklusiv waren. Zürich schloss 1356 ein Bündnis mit den Habsburgern, das einen weiten Hilfskreis hatte. Auch Bern fand sich 1363 in einem Bund mit dem Fürstenhaus, das gleichzeitig am Lehenstag von Zofingen eine grosse Anhängerschaft gerade aus diesen Städten und der Innerschweiz zusammenrief. Erhebliche Teile der dortigen Führungsschichten, darunter Rudolf Brun, waren noch im habsburgischen Lehensgefüge einbezogen.

      Pfahlburger und Ausburger

      Diese Abkommen trugen dazu bei, dass Habsburg in der zweiten Jahrhunderthälfte mit einigem Erfolg eine umfassende Territorialherrschaft im östlichen Alpenraum anstrebte und die Grafschaft Tirol sowie die Landgrafschaft Montfort-Feldkirch erwarb, später auch Sargans. Mit der Teilung des Hausbesitzes im Jahr 1373 fielen diese Gebiete an Herzog Leopold III., der mit den Vorlanden auch für die schweizerischen Gebiete zuständig war. Nachdem sich das stark adlig geprägte Freiburg im Breisgau 1368 Habsburg unterstellt hatte, richtete Leopold den Blick weiter auf Basel, das sich als vorderösterreichische Residenz anbot. Dort verlor der Fürstbischof schnell an Einfluss, denn in seinem wirtschaftlich wenig ergiebigen Herrschaftsgebiet, das im Jura bis zum Bielersee reichte, sah er sich drei Arten von Konkurrenten ausgesetzt: Habsburg und der regionale Adel; die südlichen Kommunen wie Bern, Biel und Solothurn; und die aufstrebenden Städte im eigenen Territorium, namentlich Basel, dessen Bürger dem verschuldeten Fürstbischof stadtherrliche Rechte und dann auch ländliche Besitzungen – das Oberbaselbiet – durch Pfand oder Kauf abnahmen.

      Der Bischof war nicht der einzige, der sich im Gebiet der späteren Schweiz mit den zwei möglichen Modellen herrschaftlicher Durchdringung konfrontiert sah: landesfürstliche oder städtische Territorienbildung. Die Habsburger, zumeist unterstützt vom verbleibenden Adel, versuchten vom Land her, die Städte als Verwaltungszentren in ihren Herrschaftsbereich einzubauen. Die Städte gingen den umgekehrten Weg und banden die Landbewohner in ihre Kommune ein. Neben Pfand oder Kauf war dabei für die Städte im Mittelland vor allem das Burgrecht wichtig. Einerseits betraf dies die «Pfahlburger» (falsche Bürger, cives falsi), vormals hörige Bauern, die nach dem Prinzip «Stadtluft macht frei» aufgenommen und emanzipiert wurden. Andererseits handelte es sich um Ausbürger oder Ausburger (cives non residentes), die in der Regel ausserhalb der Stadt wohnten. Das waren freie, herrschaftsfähige Menschen, zumeist Adlige, aber auch Kollektive: Klöster, Dorfgemeinden, andere Städte. Mit diesen wurde ein Burgrecht geschlossen, wonach die sogenannt «Verburgrechteten» den Bürgereid leisteten und damit an den Privilegien der Stadt teilhatten: Marktzugang, militärischer Schutz, gerichtliche Autonomie. Für den geschwächten Adel war das Burgrecht ein Mittel, seinen Status zu verteidigen, indem er sich mit den wirtschaftlich erfolgreicheren Bürgern verbündete. Bauern konnten als Pfahlburger gerade umgekehrt die grundherrlichen – also adligen – Forderungen nach Abgaben loswerden. Für die Stadt lohnte sich das Burgrecht wiederum, indem sie dank dem Adel und seinen Hörigen auf Krieger und Nahrungsmittel Zugriff hatte, im Gebiet der Verburgrechteten als Schiedsrichter auftreten und gewisse Steuern erheben konnte: neben dem Einkaufsgeld für das Bürgerrecht vor allem das «Udel», eine Kaution und damit ein Ersatz für Hausbesitz innerhalb der Stadt.

      Durch solche Praktiken griffen die Städte über ihre Mauern hinaus und begannen ein durch städtische Freiräume geprägtes Netzwerk von Burgrechten aufzubauen, das die adlige Basis – Grundherrschaft und Vogteirechte – der fürstlichen Territorialherrschaft in Frage stellte. Das erklärt, weshalb die Kurfürsten in der Goldenen Bulle von 1356 das Pfahlburgerwesen verbieten liessen. Das liess sich aber kaum durchsetzen, schon gar nicht in der Eidgenossenschaft. Hier betrieb sogar die noch habsburgische Landstadt Luzern eine Ausbürgerpolitik, die allerdings weniger auf den Adel als auf ländliche Kommunen ausgerichtet war, so auf das Entlebuch und die nahe gelegene Kleinstadt Sempach. Die Sempacher lagen mit ihren österreichischen Pfandherren im Streit um Steuern und Autonomierechte. Rückhalt fanden sie in Luzern, dessen (wirtschafts-)politische Spielräume durch die habsburgische Herrschaftsintensivierung ebenfalls eingeengt wurden. Obwohl sie selbstverständlich in Sempach selbst wohnhaft blieben, wurden die Sempacher Anfang 1386 «ingesessene Burger» von Luzern. Ähnlich nahm Luzern landsässige österreichische Eigenleute, also unfreie Bauern, in mehreren Masseneinbürgerungen auf, zuletzt 1385/86. Gleichzeitig eroberte Luzern die habsburgischen Besitzungen Rothenburg und Wolhusen und vertrieb die Vögte.

      Sempach als Wende

      Die widerrechtlichen Handlungen der Luzerner stellten die Herrschaft des lokalen Adels in Frage und riefen Herzog Leopold III. auf den Plan. Wenn er seine Landstadt Luzern zur Rechenschaft zog, stärkte er auch seine Position in den habsburgischen Stammlanden zwischen den Neuerwerbungen im Breisgau, im Rheintal und im Tirol. Doch das misslang im heissen Juli 1386 in der Schlacht bei Sempach. Die im Einzelnen schlecht dokumentierte, aber sensationelle Niederlage der berittenen Krieger gegen Fussknechte aus Stadt und Land war in den Augen der österreichisch-adligen Geschichtsschreibung ein Skandal: Der heldenhafte Leopold und seine adligen Vasallen wurden «mit dem schwert erschlagen, uf dem iren und von den iren und uss dem iren gäntzlich ussgetilget». Die Kurzformel «In suo, pro suo, a suis occisus» besagte, dass der Herzog von rebellischen Untertanen ermordet wurde, als er in seinem