Dieter Hönig

Testament eines Freimaurers


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      Eines Tages eröffnete er, ein Physiker, das Gespräch mit folgenden Worten: »Ich hatte heute einen Termin an einer Hochschule, an der ich einmal wöchentlich unterrichte. Da mir im Anschluss daran bis zu unserem Gespräch noch etwas Zeit blieb, nützte ich diese für einen Friedhofsbesuch. Darüber wollte ich mit Ihnen gern reden. Was fällt Ihnen dazu ein?«

      Da er offenbar die großen Gegensätze unseres Lebens angesprochen hatte, ließ meine Antwort auf die Frage auch nicht lange warten: »Zum einen sehe ich hier die Zeit unserer Ausbildung, die Zeit der Hoffnungen, wo wir an den Tod keine Sekunde verschwenden, da wir diesen für uns nicht wirklich zur Kenntnis nehmen wollen. Sterben müssen immer die anderen, jedoch niemals wir selbst. Im anderen, dem Friedhofsbesuch, sehe ich etwas, das uns an unsere Vergänglichkeit erinnern sollte, uns bewusst machen soll, dass dieser Ort letztlich unser aller Ziel ist. Egal, wie erfolgreich wir waren.«

      Ein andermal sprach er von einem kürzlich verstorbenen Bruder seiner Loge und wie leid es ihm täte, dass ich diesen nun nicht mehr kennen lernen könnte. Es schien ihn die Frage zu bewegen, wie man diesem Menschen ein Denkmal in den Herzen seiner Brüder errichten könnte.

      Meine Gedanken dazu, die ich ihm damals mitteilte, waren folgende: »Es ist nicht die profane Größe und Wichtigkeit eines Menschen, die für uns, die Zurückbleibenden, von Bedeutung ist. Was in unserer Erinnerung erhalten bleibt, sind die eher gering erscheinenden Dinge des Lebens. Das kann ein Blick, ein Lächeln, eine verständnisvolle Geste dieses Menschen sein, also im Grunde genommen die völlig unspektakulären Augenblicke eines Menschenlebens.«

      Bei unserem letzten Gespräch, vor meiner Aufnahme in den Bund, richtete er an mich die Frage: »Was erwarten Sie sich eigentlich von den Menschen, die Sie bei uns in Zukunft vielleicht kennen lernen werden?« »Ich hoffe hier auf Menschen zu treffen, mit denen mich einfach mehr verbindet, als bloß oberflächliche Freundschaft. Was ich bisher gesehen und erkannt habe, gibt mir aber allen Grund zu dieser Vermutung! Was ich hier sicher nicht zu finden hoffe, sind Menschen, deren Seichtheit mir in meinem bisherigen Leben bereits zu schaffen macht.« Die Miene des Stuhlmeisters wurde ernst. »Was würden Sie sagen, wenn Sie einige der von Ihnen zuletzt geschilderten Menschen auch bei uns antreffen? Unterliegen Sie bitte nicht der trügerischen Hoffnung, hier nur schöngeistige Menschen und Edelmänner vorzufinden!«

      Das war zwar eine Banalität, und dennoch schien sie ihm so wichtig, mich gleich mehrmals in aller Eindringlichkeit auf diesen Umstand aufmerksam zu machen. Es war ihm offenbar ein Bedürfnis, mich vor allzu großen Erwartungen in meine zukünftigen Brüder zu bewahren. So als wollte er mir vermitteln: Die Freimaurerei ist groß, die Freimaurer sind es mitnichten. Er wurde schließlich noch präziser, indem er fast hellseherisch meinte, dass bei mir die unausweichliche Ernüchterung spätestens in etwa einem halben Jahr nach meiner Aufnahme in den Bund eintreten würde. Diese sollte jedoch, wie man bald sehen wird, schon weit früher eintreten. Ich benötigte dazu kein halbes Jahr. Seine letzten Worte dazu: »Ich habe Sie gewarnt!« Schließlich wurde ich vom Stuhlmeister der Loge informiert, dass ich mich einem Hearing vor einigen Meistern der Loge stellen müsse, die meine Eignung für den Bund nochmals ausloten sollten. Bei einem etwa einstündigen Gespräch hatte ich fünf Herren der Loge gegenüber Rede und Antwort zu stehen. Auch der Stuhlmeister der Loge war zugegen. Er erschien mir jedoch diesmal, ganz entgegen meinen bisherigen Eindrücken, etwas verkrampft, ja, gar ein wenig missmutig, sodass ich seinen strengen Blicken, die nicht gerade aufbauend auf mich wirkten, auswich. Es herrschte auch eindeutig Prüfungscharakter. Man gab sich sehr sachlich, wollte meine Motive kennen lernen, meinen bisherigen Wissensstand ergründen und interessierte sich seltsamerweise auch für die Freimaurer-Literatur, die ich bisher gelesen hatte.

      Nun, bei der Literatur hatte ich keinerlei Schwierigkeiten, kannte ich manches davon beinahe auswendig und geriet so keine Sekunde in Verlegenheit. Anders bei meinen Beweggründen: Dazu fiel mir aufgrund meiner Erregung und Irritation nicht viel mehr ein, als die Freude, neue Menschen kennen zu lernen. Das wurde von ihnen offenbar als die Suche nach einem Nette-Leute-Club interpretiert. Ein verhängnisvolles Missverständnis, das mich noch lange Zeit danach verfolgen sollte und das mir im Anschluss sogar das Thema für mein erstes Lehrlingsbaustück (Vortrag) bescheren sollte: »Ich kenne nette Leute«.

      Auf meine Definition von „Freimaurerei“ angesprochen, konnte ich offenbar keine befriedigende Antwort geben und der Vorsitzende der Runde versuchte mir etwas auf die Beine zu helfen. »Könnte Freimaurerei nicht vielleicht eine Art von Psychotherapie sein?« Die Frage verblüffte mich, erschien mir fast wie ein schlechter Witz und meine Antwort kam blitzartig: »Ja, aber das würde doch bedeuten, dass ich hier unter lauter psychisch Kranken säße.«

      Diese Antwort löste allgemeine Erheiterung aus. Das Eis war gebrochen und ich der Loge zur Aufnahme empfohlen. Die Erkenntnis, die ich daraus zog: Auch Freimaurer haben Humor.

      Dieses doch etwas seltsame Hearing erinnerte mich ein wenig an einen tiefsinnigen Dialog aus Lessings Freimaurergesprächen „Ernst und Falk“, der die Sache auf den Punkt bringt. Hier versucht der Freimaurer Falk seinem interessierten Freund Ernst zu vermitteln, dass die Aufnahme in den Bund der Freimaurer noch keinerlei Gewähr für maurerisches Wissen ist.

      Ernst: »Du bist aufgenommen, du weißt alles.«

      Falk: »Andere sind auch aufgenommen und glauben zu wissen.«

      Ernst: »Könntest du denn aufgenommen sein, ohne zu wissen, was du weißt?«

      Falk: »Leider!«

      Ernst: »Wieso?«

      Falk: »Weil viele, welche aufnehmen, es selbst nicht wissen; die wenigen aber, die es wissen, es nicht sagen können.«

      Wer glaubt, dass es mit einem knapp einstündigen Hearing für mich schon getan war, irrt. So billig geben es die Freimaurer nicht. Dieses Hearing sollte längst nicht das letzte Gespräch sein, das ich mit ihnen zu führen hatte. Drei Informatoren hatten sich noch bei mir zu melden, um mir weiter auf den Zahn zu fühlen, um nur ja jeden Irrtum nach menschlichem Ermessen auszuschließen.

      Es meldete sich schon bald ein sehr freundlicher Herr bei mir am Telefon: »Ich wurde gebeten, mit Ihnen ein Gespräch zu führen. Wann und wo könnten wir uns treffen?« Man vereinbarte ein Treffen in einem kleinen Café in der Nähe unserer Wohnungen. Zuletzt hatte aber dieser Herr noch eine Frage an mich: »Jetzt hätte ich fast vergessen, ich habe Sie ja noch nicht gesehen, woran kann ich Sie erkennen?« Da man mich im Freundeskreis des Öfteren scherzhaft Curd Jürgens nannte, antwortete ich: »Sie werden mich sofort erkennen, ich bin so eine Art Curd-Jürgens-Verschnitt!« Die Beschreibung meiner Person war offenbar so exakt, dass besagter Herr bei unserem ersten Treffen, ohne zu zögern, direkt auf mich zusteuerte. Belustigt stellte ich fest: Mein Informator könnte ebenfalls als Curd-Jürgens-Verschnitt gelten. Hier traf also ein Curd-Jürgens-Verschnitt auf den anderen Curd-Jürgens-Verschnitt.

      Es handelte sich bei meinem Gesprächspartner um einen herzlichen, humorvollen älteren Herren, und der unbeteiligte Beobachter hätte uns beide ohne weiteres für Vater und Sohn halten können. Also, schon wieder ein netter Mensch mehr! Da dieser Herr ein begeisterter Musikliebhaber und Hobbymusiker war, konnte unser Gespräch – wann hat man denn schon einen richtigen Opernsänger an seiner Seite – kaum an der Musik vorübergehen. Selbstverständlich erzählte ich auch eine Menge Anekdoten aus dem Opernbetrieb und meiner Studienzeit, was ihn sichtlich amüsierte. Während unserer gesamten Unterhaltung ruhten die Augen des alten Herrn mit größtem Wohlwollen auf mir, und es war ihm anzumerken, dass er nur sehr ungern zur Sache kommen wollte, nämlich zur „Prüfung“. Gegen Ende unserer Aussprache war es dann doch so weit und mir wurden folgende Prüfungsfragen gestellt: »Sind Sie aggressiv? Haben Sie rassistische Vorurteile? Sind Sie leicht aufbrausend und unduldsam? Sind Sie eher an oberflächlicher Unterhaltung interessiert? Würden Sie sich als krankhaft ehrgeizig bezeichnen?« Ich konnte erkennen: Der Mann hatte einen ganzen Fragenkatalog vor sich liegen, ließ es jedoch bei diesen wenigen Fragen bewenden. Offenbar war ihm dafür die Zeit mit mir zu schade. Selbstverständlich konnte ich all die Fragen guten Gewissens mit „Nein!“ beantworten, mein Gesprächspartner dürfte auch gar nichts anderes von mir erwartet haben.

      Wir vereinbarten noch ein zweites Treffen, das aber im italienischen