Dieter Hönig

Testament eines Freimaurers


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Endlich erschien ein Mann, der uns diskret bat, ihm unauffällig zu folgen. Welch ein Zufall: Es war genau jener nette Kerl, den ich am Vorabend in besagtem Stammbeisl kennen gelernt hatte. Er führte uns, die beiden Suchenden, ins Logenhaus, um uns dort mit einigen beruhigenden Worten auf das kommende Ereignis vorzubereiten und uns letztlich unserem Schicksal zu überlassen.

      In der „Dunklen Kammer“ kam ich schließlich das erste Mal in meinem Leben mit der maurerischen Symbolik in Berührung. Symbole, die einem die Vergänglichkeit allen Lebens wieder in Erinnerung rufen sollten, wie etwa die Sanduhr. Im Hintergrund war leise Musik zu hören und eine seltsame Stimmung, die ich auch später nicht beschreiben konnte, überkam mich. Die Stille wurde jäh durch die Stimme des „Vorbereitenden Meisters“ unterbrochen. Hier war jedoch etwas, das in mir Befremden auslöste, auf mich irritierend wirkte. Wie mag das wohl auf den anderen, meinen zukünftigen „Bruder“ gewirkt haben, hatte er ähnliche Gedanken? Seltsamerweise habe ich ihn auch später niemals darauf angesprochen.

      Bei der schriftlichen Beantwortung der drei üblichen Fragen hatte ich ein flaues Gefühl im Magen: Was ist, wenn meine Antworten nicht überzeugend sind? Wenn die sich im letzten Augenblick doch noch anders entschließen? Wenn sie meine Aufnahme einfach abblasen? Freimaurer sind unberechenbar. Kurioserweise hatte man auch noch unsere beiden Fragebögen vertauscht, was meinem zukünftigen „Bruder“ gerade noch rechtzeitig auffiel. »Ich glaube, Sie füllen gerade meinen Fragebogen aus«, so dessen schüchterner Protest.

      Schließlich war es so weit, ein auf mich seltsam wirkender Herr, der „Dienende Bruder“, betrat mit stoischer Miene den Raum und verband mir wortlos die Augen. Er tat es routiniert und ohne einen Anflug von Gefühlsregung. Hatte man nicht den Delinquenten kurz vor ihrer Hinrichtung ebenfalls die Augen verbunden, schoss es mir durch den Kopf, um diesen albernen Gedanken sofort wieder zu verdrängen. Der plötzliche Verlust meines Sehvermögens, auf den ich nicht gefasst war, trug nicht gerade zu meiner Entspannung bei. Auf meinen Schultern konnte ich jedoch zwei Hände spüren und eine mir vertraute Stimme sagte: »Sei ganz ruhig, es bin nur ich.« Ich erkannte die Stimme meines Informators, mit dem ich bereits zwei Treffen in durchaus amikaler Atmosphäre hatte. Das machte mich zuversichtlich: Jetzt konnte eigentlich nichts mehr passieren. Später erfuhr ich, dass es dessen ausdrücklicher Wunsch war, mich auf meinen „Reisen“ zu führen. Das Geführtwerden von der sicheren Hand eines vertrauten Menschen hat enorme symbolische Bedeutung – betritt man hier doch im wahrsten Sinn des Wortes Neuland, bewegt sich mit unsicheren Schritten und zittrigen Knien auf unbekanntem Terrain. Der Schweiß trat mir, so fühlte ich wenigstens mit einigem Unbehagen, aus allen Poren.

      Zum ersten Mal glaubte ich zu ahnen und zu fühlen, was Freimaurerei wirklich ist. Es waren weniger die Worte der „Hammerführenden“ (das Ritual leitende Personen), die mich so tief berührten, nein, es war etwas ganz anderes, das mich bewegte. Etwas, das unausgesprochen im Raum stand und von mir Besitz ergriff: das Gefühl eines Neubeginns, Erwartungen und Hoffnungen, die ich dabei hatte, mein grenzenloses Vertrauen in das Unbekannte. Ich konnte mich an kein Ereignis in der Vergangenheit erinnern, das in mir nur annähernd vergleichbare Gefühle auslöste. Ich war damals aber längst kein Jüngling mehr und hatte schon einiges erlebt, Schönes und weniger Schönes.

      Es ist jedoch jeder Neubeginn, jede Lebensstufe auch mit Abschied verbunden – ein Abschied, der auch schmerzhaft ist. Doch daran dachte ich nicht, an diese Möglichkeit verschwendete ich keine Sekunde. Ich vertraute meinen Empfindungen und tat gut daran, denn dadurch wurde mir jäh eine neue Dimension meiner selbst bewusst. Da ich durch die Binde vor meinen Augen am Sehen gehindert war, spiegelten sich hörbare Erlebnisse umso deutlicher in meinem Inneren wider. Ich war gezwungen, nicht aus mir heraus, sondern in mich hinein zu sehen: alles was ich dabei empfand, ich von außen wahrzunehmen glaubte, obwohl ich es nicht erkennen konnte, war das Besondere, Neue und Ungewöhnliche. Nicht die lauten, vernehmbaren Stimmen, die sich an mich richteten, nein, die Nähe der Menschen um mich herum, die ich so deutlich fühlen konnte, machte mein eigentliches Erlebnis aus.

      Die Pflichten und Mahnungen, die man uns, den Suchenden auf unseren Reisen ans Herz legte, müssen für jeden gutgesinnten Menschen vernünftig erscheinen. Sie lassen erkennen, was mit der maurerischen Gesinnung gemeint ist. Reisen, die die Arbeit des Menschen an sich selbst ausdrücken sollen und an deren Ziel letztlich die Selbstveredelung des Menschen steht. Eine Arbeit, die im eigentlichen Sinn nie vollendet sein kann. Tugenden wie Weisheit, Stärke und Schönheit werden wohl niemals unser Besitz sein, man kann sie bestenfalls anstreben, sich um sie täglich aufs Neue bemühen. Erste Zweifel überkamen mich. Hatte ich doch bei meinen Beweggründen so meine Bedenken: War hier nicht Neugierde mit im Spiel? Oder gar Eitelkeit?

      Als ich anlässlich des Gelöbnisses die scharfe Spitze des Zirkels an meiner Brust spürte, war das ein berührender Moment – die wahre Bedeutung dieser Handlung wurde mir jedoch erst viel später bewusst: Hier wurde angedeutet, dass der Mensch zu aller erst im Herzen zum Freimaurer wird und eindringlichst an unser Gewissen und Mitgefühl appelliert. Es kann uns nicht von außen verordnet werden, alle Menschen in gleichem Ausmaß zu lieben. Niemand außer uns selbst kann den Kreis bestimmen, den er bereit ist, ins Herz zu schließen. Durch diese symbolische Handlung trat für mich der Humanitätsgedanke in aller Eindringlichkeit ans Licht. Etwas, das den Menschen in seinem Innersten treffen und ihn zur Besinnung seiner selbst anregen soll, kann niemals durch Worte, Ermahnungen und Gebote erreicht werden. Die so herbeigeführte Gesinnungsänderung wäre oberflächlich und flüchtig, würde keine nachhaltige Läuterung bewirken. Das Innerste bliebe davon unberührt!

      Die Arbeit an sich selbst muss daher anderswo ansetzen, muss tiefer gehen, als Worte es vermögen. Die Gesinnung macht den Menschen, nicht die Gesellschaft in der er sich bewegt. Ist sie vorhanden, formt sich die Gesellschaft von selbst! Ich empfand es schließlich als Segen, wenn sich wenigstens einige solch höherer Aufgaben annehmen: Sich durch die maurerischen Werkzeuge selbst zu formen und formen zu lassen.

      Unvergesslich blieb für mich der Augenblick, als man uns, den Suchenden, das „Große Licht“ erteilte, uns die Binde von den Augen nahm, und wir uns in einem Kreis von Männern wiederfanden, die ab jetzt unsere Brüder waren und in einer feierlichen Kette verbunden standen. Obwohl ich gewiss nicht jener Sorte Mensch angehöre, die nahe am Wasser bauen, fühlte ich dennoch, dass meine Augen feucht wurden. Ich unternahm keinen Versuch dagegen anzukämpfen.

      Wann immer ich in der Folge Rezeptionen besuchte, wurde ich stets aufs Neue von diesem Augenblick überwältigt. Ich machte die Erfahrung, dass jedes Einweihungsritual, und es sollten deren mehrere folgen, einen ganz besonderen Höhepunkt hat: eine symbolische Handlung, bei der ich stets das Gefühl eines Erwachens hatte. Eine neue Erkenntnis schoss mir jäh ein, die es jedoch im Nachhinein zu verstehen galt. Dieses spontane Erleben ist das „Geheimnis“ des Freimaurers, da es wahrhaftig nicht mitteilbar ist, zumindest nicht in seiner ganzen, individuellen Dimension.

      Erst viel später begann ich zu ahnen, was der wirkliche Sinn, die esoterische Aussagekraft hinter der symbolischen Blindheit, die man uns fühlen ließ, sein könnte: Warum verband man uns die Augen? Was wollte man uns hier andeuten? Was ist der tiefe Sinn dahinter? Vielleicht um uns zu zeigen, dass der Mensch sein Glück machen könnte, würde er es nur sehen, es erkennen? Viele von uns sind jedoch nicht in der Lage, es zu erkennen, ist ihr Augenmerk doch stets auf das Negative, Lebensverneinende gerichtet. Blind gegenüber den wesentlichen, wahren und schönen Dingen des Lebens, wenden sie einen großen Teil ihrer Zeit für Destruktives auf, ohne es selbst zu bemerken. Es scheint wohl in der Natur des Menschen zu liegen, dass er erst durch Verluste und Niederlagen begreift, was Glückseligkeit ist. Erst wenn einen tiefstes Dunkel umgibt, ist man offenbar in der Lage, das Licht wahrzunehmen. Vielleicht wirklich erst an der Schwelle des Todes, wie jener verstorbene Bruder es empfand?

      Was bei eisiger Kälte auf einem Friedhof begonnen und seinen Höhepunkt in der Erteilung des „Großen Lichtes“ hatte, war Anlass für mich, die nächste Zeit sehr nachdenklich zu werden und mein bisheriges Leben mit anderen Augen zu betrachten.

      Dieser besinnliche, wenn auch aufrüttelnde Akt der Einweihung sollte dann beim großen Festessen an der „Weißen Tafel“, – uns, den neu aufgenommen jungen Brüdern zu Ehren – einen weiteren Höhepunkt finden. Man aß, trank, hielt nicht enden wollende Trinkreden und war bester Laune. Um