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AschePerlen


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ich Kind war, in der Nacht zugeflüstert worden waren.

      Ich holte Bernie am Flughafen ab, und wir fuhren gemeinsam weiter nach Oświęcim, dem Ort der beiden Lager Auschwitz und Birkenau. Am späten Nachmittag kamen wir im deutschen Hostel an, das uns auch in den folgenden Jahren während etlicher Retreats beherbergen sollte, und wurden herzlich von Paula Green begrüßt, doch ich fühlte mich fast augenblicklich als Fremde. Im Veranstaltungssaal hielten die unterschiedlichsten Menschen Vorträge: buddhistische Mönche in orangefarbenen Gewändern, katholische Priester, die ein Kollar trugen, Rabbiner, in einen Tallit gehüllt oder mit Kippa, Schwarze und Weiße, Aktivisten und Heilige. Aus Kambodscha war Maha Ghosananda gekommen und Russell Means aus dem Pine-Ridge-Lakota-Reservat in Süd-Dakota.

      Was tue ich denn hier, fragte ich mich verwirrt. Das ist nicht meine Familie, das ist nicht mein Volk. Sie sprachen über Mitgefühl, über Liebe und wollten dafür Sorge tragen, dass Auschwitz nie wieder geschehe, doch ihre Worte bedeuteten mir nichts. Was hat dies mit euch zu tun, wollte ich sie fragen. Seht doch, wo wir sind! Für einen Ort wie diesen gibt es keine Worte.

      Wir gingen zum Tor von Auschwitz I. Es war eine frostklirrende Nacht, und wir standen auf eisbedecktem Boden vor dem Tor mit der Inschrift ARBEIT MACHT FREI und zündeten dort für die erste Nacht des Chanukkafestes eine Kerze an. Das Tanzen der Kerzenflammen im kalten Wind hellte meine Stimmung auf.

      Doch die Schwere war sofort wieder da, als wir am nächsten Tag Birkenau durch das berühmte Einfahrtstor betraten und den Schienen folgten. Wie so viele Menschen vorher und nachher war ich fassungslos angesichts der ungeheuren Weitläufigkeit des Lagers, die durch die Ebenmäßigkeit seiner Geometrie und die präzise aufgereihten Baracken noch erhöht wurde. Man sah Gebäude aus Holz und Ziegelstein, doch mehr als alles andere war da diese furchtbare Nacktheit, die frostigen Lüfte mit ihrem Geflüster von Hunderttausenden von Bewohnern, eine von Geistern bevölkerte, tote Stadt. Bei diesem ersten Mal fiel es mir leicht, mich meiner Einbildungskraft zu überlassen, in den Baracken etwas Bebendes zu spüren, in den Himmel zu schauen und zu fühlen, dass das mit Besuchern gefüllte Gelände, auf dem wir stehen, verlassener ist als der Nordpol.

      Noch einmal erinnerte ich mich an die Geschichten, die ich hörte, als ich ein kleines Mädchen war und im Bett lag, und meine Mutter erzählte, was ihrer Schwester Frieda geschehen war, die sich entschied, lieber mit ihrem Baby zu sterben, als sich von ihm zu trennen und sich den Arbeiterinnen anzuschließen, wie Mengele es ihr nahegelegt hatte. Ich dachte an Mordechai, zehn Jahre alt und sein Leben lang kränklich. Als sie wussten, dass sie untertauchten mussten, trieben seine Eltern etwas Geld auf, damit er sicherheitshalber im Krankenhaus bleiben konnte, doch die Nazis schickten alle Patienten einschließlich der Kinder geradewegs nach Auschwitz. Keine Mutter hatte diesen kleinen Jungen in den Tod begleitet, und meine Großmutter hat sich das selbst niemals verziehen.

      Doch die alten Stimmen wurden gestört durch den seltsamen Singsang der Nipponzan-Myohoji-Anhänger, die hingebungsvoll das Lotos-Sutra Namu Myoho Renge Kyo rezitierten und dabei ihre Handtrommeln schlugen, während sie die Bahnschienen entlanggingen. Es stieß mich ab. Ihr habt hier nichts zu suchen, wollte ich ihnen sagen. Es ist unser Ort des Todes und der Vernichtung, der Wehklage und Trauer. Meine Augen blieben trocken, keine Tränen auf meinen verfrorenen, kalten Wangen, und das war, empfand ich, ihre Schuld. Ich sollte nicht hier sein, dachte ich bei mir. Ich sollte nicht mit Buddhisten oder Christen oder amerikanischen Indianern hier sein. Allein mit Juden sollte ich hier sein, Menschen, die wie ich fühlen.

      Weiter vorne bei den Überresten eines Krematoriums sammelte sich eine Menschenmenge. Ich wollte mich nicht dazugesellen, wollte kein Gerede hören, insbesondere nicht von dem Mann, der nun langsam in die Mitte der Gruppe trat und sich als protestantischer Pastor vorstellte. Vom Rand aus beobachtete ich, wie er den Kopf schüttelte, als ihm jemand ein Mikrofon reichte. Er begann mit leiser Stimme zu sprechen, stockte, versuchte es noch einmal, stammelte und verstummte. Er blickte umher und sagte ruhig, er habe nicht sprechen wollen, sei aber von anderen dazu überredet worden. Und dann bat er um Vergebung. Bis er hierher kam, sagte er, habe er keine Ahnung gehabt, in welchem Ausmaß seine Glaubensgenossen an dem Massenmord in Auschwitz mitgewirkt hatten. Er brach zusammen, und es beeilten sich Umstehende, ihm aufzuhelfen, doch er blieb auf den Knien und bat um Vergebung für die Worte und Botschaften seiner Glaubenstradition, für die subtilen und weniger subtilen Mittel, mit denen seine Religion die meine erniedrigt, sein Volk das meinige verfolgt hatte, und für sein eigenes Beteiligtsein am Vergessen und Verleugnen. Er leite ein Heim für Kinder aus den Kriegsgebieten der Welt, doch das bedeute wenig an einem Ort wie diesem, sagte er. Hier gelte es keine guten Taten zu beschwören, keine partielle Sühne. Alles, was er tun könne, sei, seiner tiefsten Trauer und Schuld Ausdruck zu verleihen – als protestantischer Pastor und als Mensch.

      Und da kamen nun endlich meine Tränen. Ich schluchzte, wie ich in meinem ganzen Leben noch nicht geschluchzt hatte, nicht davor und nicht danach. Ich erinnere mich, wie die heiße Flüssigkeit auf meinen Wangen brannte, als ich mich von der Gruppe entfernte, kaum erkennend, wohin ich ging. Etwas öffnete sich, das sich in 45 Lebensjahren niemals geöffnet hatte, etwas wurde berührt, das von keiner Gedenkandacht, keiner Geschichte und keinem jüdischen Gebet zuvor je berührt worden war. Und es geschah durch die Worte eines protestantischen Pastors, der den geistlichen Abgrund von Auschwitz gründlich und tief betrachtet hatte und keine Ausflüchte machte. Er schlug nicht seine Bibel auf, um darin Rechtfertigungen oder seligmachende Zitate zu finden, die uns allen Zuflucht sein könnten, er brach einfach vor Entsetzen zusammen und bat um Vergebung.

      Was öffnet uns? Was lässt tiefsitzende Traumata zugänglich werden, die, wie ich glaube, weit zurückreichen, noch vor die Erzählungen unserer Eltern, vor unsere Kindheit, sogar vor unsere Geburt? Therapeuten können uns helfen, mit den Problemen in unserem Leben umzugehen, doch was ist mit dem Karma der Geschichte, den Ängsten mehrerer Generationen? Wie treten wir letztlich Strömen der Angst und des Hasses entgegen, die so alt scheinen wie die Zeit selbst?

      Ich weiß die Antworten auf diese Fragen nicht, nur dass die Wende in mir sich an jenem Nachmittag vollzog, als ich auf den Überresten des Krematoriums I stand und den Tränen eines protestantischen Pastors begegnete, dessen Namen ich bis zum heutigen Tag nicht kenne.

      Ich erlebte dort den tiefinnerlichen Akt des Loslassens. Gewisse Dinge änderten sich danach grundlegend, zunächst einmal mein Verhältnis zu Deutschen und der deutschen Sprache. Doch das war nur ein Anfang. Meine Rückkehr nach Auschwitz Jahr für Jahr half mir auch, die heimtückische Opferidentität und ein damit einhergehendes Empfinden des Besondersseins und Anspruchs abzulegen – nicht sofort natürlich, es ist ein fortdauernder Prozess, doch er hat auf dem Gelände von Birkenau an jenem Wintermorgen 1994 begonnen.

      Das war auch der Tag, an dem Bernie von seinem Entschluss sprach, gemeinsam mit anderen, die er mitbringen würde, in Auschwitz-Birkenau ein Retreat abzuhalten. Sechs Monate später kehrten wir nach Kraków zurück, wo uns am Flughafen ein hochgewachsener, breitschultriger Mann aus Warschau namens Andrzej Krajewski abholte, der gehört hatte, dass wir beim Gestalten eines Schweigeretreats in den Konzentrationslagern Hilfe bräuchten. Nein, erklärte Bernie sogleich, es würde nicht geschwiegen, es wäre auch kein Zen-Sesshin. Es solle Menschen die Möglichkeit bieten, sich mit anderen über ihr Verhältnis zu diesem Ort auseinanderzusetzen. Und nicht nur mit anderen, sondern auch mit den Anderen, mit jenen, die ihre Ängste und ihren Hass verkörperten. Dieses Retreat wolle so vielen verschiedenartigen Menschen wie möglich Gelegenheit geben, an genau dem Ort zusammenzukommen, an dem Unterschiede oder jegliche Abweichung von der arischen Norm eliminiert worden waren. Anstatt im eigenen privaten Reich der Gedanken und Erinnerungen zu verharren, wie ich es versucht hatte, würde man Zeugnis ablegen für diejenigen, die anders sprachen, die sogar Dinge sagten, die einem nicht gefielen. Er notierte kurz den Entwurf eines Zeitplans auf einer Papierserviette, die er in der Tasche hatte: morgens kleine Gruppen, dann Gang nach Birkenau, Sitzen am Selektionsplatz, Vortragen der Namen und am Abend Zusammenkunft aller in einem großen Kreis der Vielfalt.

      Zwanzig Jahre sind seither vergangen, zwanzig Jahre mit persönlichen Erzählungen vieler unterschiedlicher Menschen, einschließlich verschiedener Erzählungen derselben Menschen, da sie wieder und wieder zurückgekehrt sind. Manche Geschichten handeln davon, jüdisch zu sein und Familienangehörige in den Lagern verloren zu haben; einige erzählen