Im Herzen des japanischen Laufsports gibt es einen Wettbewerb, eine Veranstaltung, die weit über allen anderen steht: der Hakone Ekiden. Schon jetzt taucht dieser Name bereits überall auf, doch erst am Ende meiner sechs Monate in Japan weiß ich, wie viel Drama und Bedeutung bei diesem Wort mitschwingen. Ich sehe, wie die Leute reagieren, wenn ich dieses Wort erwähne, wie ihre Augen größer werden.
„Ikimasu“, sage ich dann ganz ehrfürchtig zu ihnen, ich werde dort sein, so als ginge es um eine Pilgerreise ins Heilige Land. Wenn sie mich das sagen hören, wissen sie, wie ernst ich es meine.
Der Hakone ist nicht nur der größte Wettbewerb im japanischen Rennkalender, er ist die größte jährliche Sportveranstaltung in Japan. Das Rennen dauert über zwei Tage und erreicht normalerweise Einschaltquoten von fast 30 Prozent im japanischen Fernsehen. Die Quoten sind ähnlich denen des Super Bowl in den USA und höher als die eines FA-Cupfinales in Großbritannien. Dazu kommt, dass dieses Event am 2. und 3. Jänner stattfindet, zur Hauptsendezeit, wenn die Menschen nach den Neujahrsfeiern noch frei haben.
Zusätzlich zu den Zusehern vor den Bildschirmen sind die Straßen entlang der 217,9 Kilometer langen Strecke mit unzähligen Zuschauern gesäumt. Es ist wirklich episch.
Schon Monate vor dem Rennen erhalten wir Werbung in unserem Briefkasten in Kyotanabe, die zum Kauf von Hakone-Merchandise anregen soll: Handtücher, Jacken, Baseballkappen. Sapporo bringt für diesen Anlass sogar ein Bier auf den Markt.
Der Hakone Ekiden reicht weit über die Grenzen des Laufsports hinaus und spricht auch Leute an, die sich normalerweise nicht fürs Laufen interessieren. Es ist eine landesweite Veranstaltung. Wahrscheinlich ist es sogar der meistgesehene Laufwettbewerb der Welt. Doch so wie ein schwarzes Loch alles, was ihm zu nahe kommt, verschlingt, so bringt auch die ungeheure Popularität des Hakone Ekiden einiges an Problemen für den japanischen Laufsport mit sich.
So sind zum Hakone ausschließlich männliche Universitätsmannschaften aus Japans Kanto-Region, der Gegend rund um Tokio, zugelassen. Im Grunde genommen ist es also ein lokaler Laufwettbewerb zwischen Universitäten. Und da wären wir schon einmal beim ersten Problem, nämlich, dass dieser Wettbewerb alle anderen Universitäten des Landes, auch Kenjis Ritsumeikan in Kyoto, die sich in der Region Kansai befindet, von vornherein ausschließt.
Natürlich wollen die besten Läufer in den Schulen den Hakone laufen. Das bedeutet, dass ein Coach wie Kenji, der nach Läufern für seine Nicht-Hakone-Universität sucht, sich mit den Burschen begnügen muss, die von den Hakone-Teams übriggelassen wurden, nachdem sie sich die größten Talente einverleibt haben. Natürlich gibt es auch immer wieder Spätzünder oder Läufer, die sich in der Schule verletzt oder dort das Training nicht ernst genug genommen haben und ihr Talent erst später entwickeln, doch im Großen und Ganzen werden die Topläufer aus den Sekundarschulen auch zu den Topläufern an den Universitäten.
Das Ergebnis ist ein unüberwindbares Zweiklassensystem: Unis aus der Region Kanto und diejenigen, die sich nicht in der Region Kanto befinden.
Was Universitäten in Kanto alles tun, um den Hakone zu gewinnen, kann man anhand eines Gebäudes sehen, das für das Gewinnerteam von 2012, die Toyo-Universität, errichtet wurde und knapp vor meiner Ankunft in Japan eingeweiht wurde. Die Universität hat ihrem Ekiden-Team ein eigenes, hypermodernes Hauptquartier gebaut, mit Fitnessraum, Whirlpool, Eisbad, Speisesaal und genügend Schlafräumen für 100 Personen. Das Gebäude befindet sich neben der Laufbahn der Universität, wobei die Schlafräume allerdings alle in Richtung eines nahe gelegenen Parks blicken.
„Wenn du die ganze Zeit nur die Laufbahn siehst, kannst du nicht richtig abschalten“, erklärte der Toyo-Cheftrainer, der eine Schlüsselrolle bei der Planung dieses Gebäudes gespielt hat.
Interessanterweise hat der Hakone genau den gegenteiligen Effekt, wenn es um den Ekiden bei den Damen geht. Während die Universitäten der Region Kanto alles in ihre Herrenteams stecken, in der Hoffnung, beim Hakone zu glänzen, vernachlässigen sie ihre Damenteams. Und da die Universitäten im Rest des Landes keinen Hakone haben, stecken sie mehr Zeit und Geld in ihre Damenmannschaften, was darin resultiert, dass die besten Ekiden-Teams bei den Damen von Universitäten stammen, die nicht am Hakone teilnehmen. Das beste von allen ist das Damenteam der Ritsumeikan, die Landesmeister von 2012, die mit sieben Meistertiteln auch den Rekord halten.
Bei meiner ersten Fahrt zum Campus der Ritsumeikan-Universität sitze ich auf der Rückbank von Kenjis Wagen. Er holt mich und Max vom Bahnhof ab. Am Beifahrersitz sitzt eine Schülerin aus der Realschule.
„Osaka, Nummer zwei“, sagt er stolz.
Anscheinend ist sie die zweitschnellste 3000-Meter-Läuferin ihrer Altersklasse im nahe gelegenen Osaka. Kenji hat sie unter seine Fittiche genommen und setzt große Hoffnungen in sie.
„Olympische Spiele in Tokio“, sagt er, und seine Augen leuchten dabei vor Freude.
Das Mädchen lächelt nur höflich.
Als wir das Tor zum Universitätscampus passieren, läuft das Damenteam gerade in einer großen Gruppe auf der Bahn. Sie laufen alle in diesem typischen Stil, den alle japanischen Läuferinnen haben. Dieser Stil mag zwar effektiv sein, doch er sieht sehr unspektakulär aus. Aus der Ferne betrachtet, könnte das auch eine Gruppe von Joggerinnen sein, und nicht eine der stärksten Damenlaufstaffeln der Welt.
Leider hat die Trainerin des Damenteams ihren Athletinnen verboten, mit Kenji oder irgendjemand anderem aus dem Männerteam zu sprechen. Sie will nicht, dass ihre Mädchen abgelenkt werden oder vom Weg abkommen. Einmal, einige Monate später, stoßen wir auf zwei der Läuferinnen in der Ritsumeikan-Kantine. Sie sind freundlich, blicken sich aber immer wieder um, ob sie vielleicht beobachtet werden. Schließlich haben sie zu viel Angst davor, dabei gesehen zu werden, wie sie mit uns reden, und verlassen uns.
Kenji lacht, als ich ihn frage, ob es mir erlaubt wäre, eine der Läuferinnen zu interviewen.
„Nein, nein“, winkt er ab und schüttelt den Kopf.
Er parkt sein Auto neben den Publikumsbänken aus Beton am Rande der Laufbahn, wo sich das Herrenteam versammelt hat und sich angeregt unterhält, während sie auf ausgebreiteten Gummimatten Dehnungsübungen machen.
„Os“, murmeln sie, als wir uns nähern.
Kenji trägt mehrere Schnellhefter und Clipboards, macht einen Witz und kichert in sich hinein. Einige der Läufer lächeln gequält, doch die meisten fahren mit ihren Dehnungsübungen fort.
Ich bin nicht sicher, ob sie mich erwartet haben. Max sagte mir, dass Kenji kein Problem damit hätte, wenn ich mich mit seinem Team unterhalten und vielleicht sogar mit ihm laufen wolle, also bin ich in meinem Trainingsoutfit gekommen. Auch Max ist bereit, mitzulaufen.
„Lass uns sehen, was passiert“, meint er.
Nachdem Kenji alle begrüßt hat, stellt er uns seinem Teamkapitän, Daichi Hosoda, vor. Daichi hat lange Haare, die er offen trägt, und ein breites, jugendliches Lächeln. Er gibt uns die Hand, verbeugt sich höflich und heißt uns beim Training willkommen. Insgesamt besteht das Ekiden-Team aus ungefähr 30 Läufern. Kenji erklärt, dass das heutige Abendtraining aus einem 15-Kilometer-Zeitlauf in der Gruppe besteht. Er fragt, ob wir mitmachen wollen.
„Ju Kilo“, schlägt er vor, ein entschärftes Training für Max und mich. Zehn Kilometer. „Okay?“
Es ist ein Tempo von etwa vier Minuten pro Kilometer geplant, deutlich schneller als das der Amateurgruppe. Allerdings nicht so schnell, dass ich nicht über zehn Kilometer mithalten könnte. Nach unserer einmonatigen Reise nach Japan habe ich bereits zwei Wochen Lauftraining intus, und ich fühle, wie meine Fitness langsam wiederkehrt. Die Strecke ist ein 1,25 Kilometer langer Straßenabschnitt, den wir auf und ab laufen. Somit kommen wir immer nach 2,5 Kilometern am Start vorbei, was uns genügend Möglichkeiten gibt, auszusteigen, wenn es uns zu viel wird. Es ist ein ziemlich heißer Abend, doch die Luftfeuchtigkeit ist im Gegensatz zu den vorherigen Wochen etwas niedriger.
Bevor es losgeht, bilden wir zusammen einen großen Kreis, und Kenji stellt Max und mich offiziell vor.