Ulrich Behmann

Januargier


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Leitende Oberarzt machte große Schritte. Er hatte es eilig – seine glatten Ledersohlen verursachten auf dem Mosaikfußboden hämmernde Geräusche. Als er zur Tür hinausging, um von seinem Arbeitszimmer aus seinen alten Bekannten Kurt Brenner anzurufen, schaute er auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor halb elf. Mertens hoffte, dass er den Ersten Kriminalhauptkommissar gleich ans Telefon bekam. Er hoffte, dass er nicht zu irgendeinem Tatort gerufen worden war und sein Handy ausgeschaltet hatte.

      Mertens war ein ungeduldiger Mensch. Er hätte die Laboruntersuchungen gern sofort in Auftrag gegeben. Aber dafür brauchte er grünes Licht von den Ermittlungsbehörden. Es ging – wie immer – ums liebe Geld. Der Staat musste weitergehende Nachforschungen bezahlen. Insgeheim hoffte der Gerichtsmediziner, dass Brenner die Entscheidung auf seine Kappe nehmen und nicht – wie eigentlich vorgeschrieben – zunächst einmal Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft Hannover halten würde. Kurt Brenner leitete das für Mord und Totschlag zuständige 1. Fachkommissariat des Zentralen Kriminaldienstes in Hameln.

      Kapitel 10

      Der Morgennebel hatte sich gelichtet, die Sonne Oberhand gewonnen. Das ungleiche Pärchen hatte das Wiener Café gemeinsam verlassen und schlenderte nun die Osterstraße entlang. Erika Modder und Peter Petrov gingen vorbei am Hochzeitshaus und bogen am Bäckerscharren, der sich im Erdgeschoss eines jahrhundertealten Fachwerkhauses befand, nach links in die Bäckerstraße ein. Modder blieb plötzlich zum Erstaunen von Petrov stehen – sie drehte sich um, rückte mit dem krummen Zeigefinger ihrer rechten Hand die Nana-Mouskouri-Brille auf ihrer Nase zurecht und zeigte wie ein kleines Kind, das sich in der Schule zu Wort melden wollte, auf die Marktkirche, auf deren mit Grünspan überzogener Turmspitze aus Kupfer ein goldfarbenes Schiff in der Sonne glitzerte.

      „Schau mal, da bin ich getauft und konfirmiert worden, da habe ich geheiratet, da bin ich Mitglied im Kirchenvorstand, da hat der Gedenkgottesdienst für meinen lieben Otto stattgefunden“, sagte sie und wischte sich eine Träne aus dem linken Augenwinkel. „Eine sehr schöne Kirche“, sagte Peter Petrov und heuchelte Bewunderung vor. „Aber, sag mal ... Warum hat diese Kirche denn da oben ein Segelschiff, wo andere einen Wetterhahn haben?“, wollte er wissen. „Wir sind doch hier nicht am Meer ...“, schob er hinterher.

      Erikas traurige Miene erhellte sich. Sie freute sich, dass sich Peter für die Kirchengeschichte zu interessieren schien. „Aber an einem Fluss ...“, sagte sie und lächelte milde. „Du musst wissen: Auf der Weser war früher ganz schön viel los. Guck dich doch mal um ...“, sie zeigte auf die Häuser rechts und links von ihr. „Siehst du die vielen Holzbalken, aus denen die ganzen Fachwerkhäuser errichtet wurden, und die schweren Sandstein-Quader, mit denen das Hochzeitshaus gebaut wurde? Die sind damals alle mit Schiffen nach Hameln gebracht worden. Du musst wissen, die Sankt-Nicolai-Kirche wurde im 13. Jahrhundert errichtet. Sie ist die zweitälteste in Hameln. Der Name, also Nicolai, kommt von dem heiligen Nikolaus ...“ Sie hielt kurz inne, versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, ob er ihr folgen konnte. „Du kennst doch bestimmt den Bischof aus Myra aus dem 4. Jahrhundert, oder? Im Mittelalter war dieser Mann sehr populär und eben auch der Schutzheilige der Schifffahrt. Und da schließt sich der Kreis.“

      „Hm ... Verstehe“, Petrov rieb sich das Kinn und tat so, als würde er angestrengt nachdenken. „Du meinst, das vergoldete Wetterschiff auf der Kirchturmspitze symbolisiert die Hochzeit der Weserschifffahrt ...“ Was Peter Petrov wirklich dachte, behielt er lieber für sich. Erika Modder nickte eifrig. Ihre schwarze Brille hüpfte auf ihrem Nasenrücken auf und ab. „Ja, genau.“

      Blöde Kuh, dachte Petrov und entfernte sich ein paar Schritte von der Frau, die er so schnell wie möglich töten und berauben wollte. Hauptsache, die Alte kommt jetzt nicht auf die Idee, mir die Kirche von innen zu zeigen. Während Erika Modder verzückt vor dem Gotteshaus stand und den Tauben zusah, die sich auf dem Pferdemarkt niederließen, um Brotkrumen aufzupicken, die ein alter Mann mit Gehstock ausgestreut hatte, trat Petrov nervös von einem Fuß auf den anderen. Er hatte seine Hände tief in den Taschen seiner Blue Jeans vergraben und den Kragen seiner braunen Lederjacke hochgeschlagen. Ihm war kalt. Vielleicht konnte er es aber auch nur nicht erwarten, die Villa der blauäugigen Unternehmerwitwe zu betreten. Sicher brannte dort ein Kamin, hatte Erika einen alten Cognac oder einen teuren Whisky im Schrank. Er würde die einsame Dame nach allen Regeln der Kunst umgarnen und wie eine Spinne einwickeln. Sie war ihm ins Netz gegangen, schon bald war die Zeit gekommen für den tödlichen Stich. Aber noch muss ich das dumme Gequatsche der Alten ertragen, dachte er. Er fror. „Komm, lass uns gehen“, forderte er sie auf. „Der Wind ist eisig. Nicht, dass wir uns hier noch einen wegholen.“

      Erika Modder hätte ihrem Verehrer gern noch die Kirche von innen gezeigt. Aber sie wusste, dass es in dem uralten Gemäuer äußerst fußkalt sein würde. Sie ging lächelnd auf Peter Petrov zu und hakte ihn unter. „Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich bei dir einhake, oder?“, fragte sie ihn – und es hatte den Anschein, als himmele sie ihn an. „Ich meine nur ... Wir kennen uns ja eigentlich gar nicht.“ Petrov zog sie näher zu sich heran. „Aber nein ... Ganz im Gegenteil. Es ist mir eine Freude, mit einer so klugen und attraktiven Frau spazieren zu gehen.“ Erika Modder strahlte und lief rot an. Sie schien in diesem Moment von Amors Pfeil getroffen zu sein, fühlte sich seit vielen Jahren erstmals wieder geliebt und respektiert – und das von einem viel jüngeren Mann, den sie gerade erst kennengelernt hatte. War das Liebe auf den ersten Blick? Oder wurde sie heimlich gefilmt und sah sich in ein paar Wochen in der Sendung „Verstehen Sie Spaß“ wieder? Nein, dachte Modder, die sehr gläubig war, diesen geheimnisvollen Fremden hat mir der liebe Gott gesandt. Er will, dass ich noch einmal glücklich werde. Die Witwe hatte plötzlich Schmetterlinge im Bauch. Ein Cocktail aus Hormonen rauschte durch die Blutbahn und vernebelte ihr regelrecht die Sinne. Ihr Körper schüttete in diesem Moment jede Menge Hormone aus. Dopamin ließ sie auf Wolke sieben schweben, Adrenalin und Cortisol machten sie impulsiv und noch viel aktiver, als sie ohnehin schon war – die Hormone spielten verrückt, ließen ihr Herz schneller schlagen und schalteten ihren Verstand aus. Erika Modder war in einem Erregungszustand, sie hatte das Gefühl, auf Droge zu sein.

      Zehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes Otto hatte sie sich dazu entschlossen, nicht länger allein zu bleiben und noch einmal einen Partner fürs Leben zu finden. Sie hatte sich vor zwei Wochen dazu durchgerungen, in der Wochenendausgabe der Deister- und Weserzeitung eine Kontaktanzeige zu schalten – und hatte unter Chiffre Zuschriften erhalten. Dass sie von dem Mann, der ihr geschrieben und sich als Apollo vorgestellt hatte, versetzt worden war und ein teuflischer Don Juan in die Rolle des schüchternen Liebesbriefschreibers geschlüpft war, ahnte sie nicht. Wie sollte sie auch? Es war eingetreten, wovon sie nie zu träumen gewagt hätte – ein gut aussehender Mann flirtete mit ihr. Wie alt er war, wusste sie nicht. Sie hatte sich nicht getraut, ihn danach zu fragen, um das erste Gespräch nicht auf das Thema Altersunterschied zu lenken.

      Erika Modder war eigentlich ein Vernunftmensch, eine, der man so leicht kein X für ein U vormachen konnte, eine, die sich nicht von ihren Gefühlen leiten ließ. Aber in diesem Moment wurde sie – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben – von ihren Gefühlen beherrscht. Sie wunderte sich über sich selbst. Wie ein Teenager hatte sie sich Hals über Kopf verknallt in diesen Typen. Erika legte ihren Kopf auf seine Schulter – und sie setzten ihren Weg durch die Altstadt in Richtung Münsterkirchhof fort. Modder war Historikerin, hatte als Professorin an der Universität Potsdam Geschichte des Altertums gelehrt. Ihr kam Platon in den Sinn. Der berühmte griechische Philosoph hatte gesagt: „Liebe ist eine schwere Geisteskrankheit.“ Und das stimmte wohl auch – irgendwie zumindest. Wie bei frisch verliebten Menschen üblich, benahm sich nun auch Erika Modder sonderbar – sie war nur auf das Objekt ihrer Liebe fixiert, sie wollte nur noch mit Peter Petrov den Rest des Tages verbringen und hoffte darauf, dass er bei ihr über Nacht bleiben würde. Ach, wie vermessen ist das denn, dachte sie. Ich darf jetzt nichts überstürzen, ihn nicht unter Druck setzen, sonst wird er sich von mir abwenden. In seiner Nähe fühlte sie sich wohl und geborgen. Ich will ihn nicht verlieren.

      Auch Peter Petrov dachte nach – seine Schläfen bewegten sich auf und ab. In ihm arbeitete es. Wie sollte er es anstellen, dass sie ihn zu sich nach Hause einlud? Am besten heute noch ... Sie durfte ihm nicht von der Fahne gehen. Er hatte einen dicken Fisch am Haken und musste ihn nur noch an Land ziehen. Aus den Augenwinkeln sah er sie angewidert an.