Ulrich Behmann

Januargier


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ein. „Hast du dich erkältet?“, wollte Erika wissen. „Nein, nein ... Alles gut“, beeilte er sich zu sagen. „Aber ein bisschen kalt ist mir schon. Dir etwa nicht?“

      Sie zwinkerte ihm zu und schenkte ihm ein Lächeln. „In deiner Nähe nicht ... Aber wir könnten zu mir fahren. Ich mache uns einen schönen Grog oder einen Pharisäer. Der wärmt uns von innen. Was meinst du?“ Petrov konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen – er hatte sein Ziel erreicht. „Au ja! ... Das wäre jetzt genau das Richtige. Ein Pharisäer, der täte uns gut.“

      Erika Modder freute sich, dass es Peter Petrov nicht sofort abgelehnt hatte, mit zu ihr zu kommen. Sie würde ihm den besten Pharisäer zubereiten, den er jemals getrunken hatte – aus frisch aufgebrühtem Kaffee, zwei, drei Stückchen Zucker, einem ordentlichen Schuss Übersee-Rum und einer Portion Schlagsahne. Früher, als Otto noch lebte, hatten sie oft Urlaub in Kampen auf Sylt gemacht und das heiße Nationalgetränk der Insulaner im berühmten Sandy-Beach-Club durch eine kühle Sahnehaube geschlürft. Wie schön, dass auch Peter diese Kaffeespezialität mochte. Seit Ottos Tod hatte sie keinen Pharisäer mehr getrunken. Heute freute sie sich darauf.

      Peter Petrov hatte keine Ahnung, von welchem Getränk Erika Modder sprach. Er tat nur so, um sie bei Laune zu halten. „Sag mal, äh, was machst du eigentlich in diesen Pharisäer rein? Rum oder Whisky?“ Die verliebte Witwe blieb stehen und sah ihn fragend an. „Wieso jetzt Whisky? Du meinst wohl Rüdesheimer Kaffee, oder?“ Petrov fühlte sich ertappt, er sah ein, dass sein Bluff aufgeflogen war, zog die Notbremse. „Ach ja ... Entschuldige bitte ... Ich kenne mich auf diesem Gebiet nicht so gut aus. Ich trinke nur sehr wenig Alkohol, weißt du, ich bin schnell beschwipst“, sagte er.

      Erika lachte herzlich. „Ein Mann, der nicht trinkt und an Kultur interessiert ist ... Na, das lob ich mir. So einen Kerl wünscht sich jede Frau.“

      Sie schwiegen einen Moment lang. Dann kam bei

      Erika Modder die Professorin durch. „Weißt du, wie der Name Pharisäer entstanden sein soll – ich meine, für das Getränk?“ Petrov schüttelte wortlos den Kopf. „Also, die Geschichte geht so: Auf einer Hallig soll es einmal einen Pastor gegeben haben. Es heißt, der Geistliche habe seiner Kirchengemeinde verboten, Alkohol zu trinken. Die Leute taten so, als würden sie sich daran halten. In Wirklichkeit haben sie sich aber Rum in den Kaffee gegossen. Als der Pfarrer einmal versehentlich seine Tasse verwechselte, wurde ihm klar, dass die Leute ihn getäuscht hatten. Erbost soll er gerufen haben: ,Ihr Pharisäer!‘ Tja, und so ist der Kaffee zu seinem ungewöhnlichen Namen gekommen.“

      „Ja, ja ... Ich habe davon gehört“, log Petrov.

      „Du wirst sehen: Mein Pharisäer ist genauso gut wie der im Sandy-Beach-Club. Warte es ab. Du wirst begeistert sein.“ Sie tätschelte seine Wange, legte wieder ihren Kopf auf seine Schulter, als sie am Ende des Kopmanshofs die Treppe zum Europaplatz hinabstiegen. Erika Modder hatte ihr rotes Mercedes-Cabriolet in der Tiefgarage, die sich unterhalb der Rattenfängerhalle befand, abgestellt. „Apropos Pharisäer ... Mein verstorbener Mann hat immer gesagt: Das ist ein Kaffee, an dem man seine Hände, sein Herz und seine Seele wärmt. Ach ja, der Otto ... Gott hab ihn selig.“

      Ein paar Minuten später steckte Erika Modder den Parkschein in den Schlitz des Automaten und bezahlte mit einem Zehn-Euro-Schein. Das ungleiche Paar steuerte kurz darauf auf Erikas Mercedes-Benz 190 SL Cabrio, Baujahr 1963, zu. „Oh, mein Gott, was für ein wunderschönes Auto“, sagte Peter Petrov begeistert. „Wow. Gefällt mir. Super gepflegt. Sieht ja aus wie neu ...“

      Erika Modder schloss die Fahrertür auf, setzte sich hinter das Steuer, beugte sich über die Mittelkonsole und den schwarzen Ledersitz, um per Hand die Beifahrertür zu öffnen. „Ja, das ist ein Schätzchen. Der Wagen war der ganze Stolz von meinem Otto. Da hängen viele Erinnerungen dran ...“ Die Professorin steckte den Schlüssel ins Schloss und startete die 1,9-Liter-Maschine. Der 105 PS starke Motor des 57 Jahre alten Sportwagens surrte leise wie eine Nähmaschine. Erika Modder war in diesem Moment sehr glücklich, sie ahnte nicht, dass sie in vier Stunden tot sein würde.

      Kapitel 11

      Doktor Karl Mertens saß angespannt auf seinem Bürostuhl, der bei jeder Drehung quietschte, und knetete mit seinen Fingern die schwarzen Armlehnen durch. In dem abgewetzten Kunstleder hinterließen seine Fingernägel kleine Kerben, die aussahen wie abnehmende Monde. Der stellvertretende Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Medizinischen Hochschule in Hannover hatte sich in sein Arbeitszimmer, das kaum größer als eine deutsche Gefängniszelle war, zurückgezogen und dachte darüber nach, mit welchen Worten er Kurt Brenner wohl am schnellsten davon überzeugen konnte, einer toxikologischen Laboranalyse zuzustimmen. Im Fall Nadja Stern hielt er das für dringend angebracht. Mertens hoffte, dass das der leitende Ermittler und der zuständige Staatsanwalt genauso sehen würden. Aber die Erfahrung zeigte: Nicht immer hörten Behördenvertreter auf den Rat der Experten. Es ging letztlich um die Frage: Wer soll das bezahlen? Der erfahrene Rechtsmediziner schob seine Unterlippe vor und betrachtete minutenlang den „Rausch in Rot“‘ an seiner Wand. Danach stand fest: Er würde den Leiter des Kommissariats für Tötungsdelikte mit Argumenten auf seine Seite ziehen können. Schließlich musste Brenner dem Staatsanwalt die Zusage abringen, bei der Suche nach Hinweisen auf ein Fremdverschulden tiefer als sonst zu graben. Mit beiden Händen packte Mertens die leicht abgerundete Kante der Resopalplatte mit Eichenholz-Optik und zog sich auf seinem in die Jahre gekommenen Chefsessel näher an seinen Schreibtisch. Die Rollen seines Drehstuhls produzierten Quietschgeräusche. Der Anwalt der Toten zog eine Schublade auf, in der er zahlreiche Visitenkarten aufbewahrte. Die Karte von Brenner lag zuoberst auf dem Stapel. Mertens nahm die Visitenkarte heraus, legte sie vor sich auf die transparente Tischauflage, nahm dann den Hörer seines Dienstapparats ab und wählte die Nummer des Ersten Kriminalhauptkommissars. Während es tutete, schaute der Gerichtsmediziner aus dem Fenster. Ein paar Meter unter ihm herrschte geschäftiges Treiben.

      Auffallend viele Menschen, die weiße Kittel oder blaue Kasacks trugen, eilten am Institut vorbei. Mertens fragte sich, wohin die MHH-Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger zu dieser Stunde wohl gehen würden. Er schaute auf die Uhr: kurz vor elf. Für einen Gang zur Kantine war es noch zu früh. Mertens wurde von einem Knacken, das in sein rechtes Ohr drang, aus seinen Gedanken gerissen. „Brenner, FK1 ... Guten Tag“, meldete sich der Leiter des Fachkommissariats 1, das für so ziemlich alle Straftaten zuständig war, die sich gegen das Leben richteten. Die Bandbreite war groß und ließ die Ermittler mitunter in die Abgründe der menschlichen Seele blicken – das Tätigkeitsspektrum reichte von Mord und Totschlag, Tötung auf Verlangen und fahrlässiger Tötung über gefährliche und schwere Körperverletzung, Brandstiftung mit und ohne Todesfolge bis Vergewaltigung und Sprengstoff- und Strahlungsverbrechen. Doktor Mertens räusperte sich. „Hallo, Herr Brenner! Hier spricht Doktor Mertens von der Rechtsmedizin in Hannover. Ich hoffe, es geht Ihnen gut.“

      Brenner war erstaunt. Es kam eher selten vor, dass er von einem Rechtsmediziner angerufen wurde. Der 1,94-Mann drückte die Hörkapsel seines Telefons fester an sein linkes Ohr, fischte sich einen Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts. Er war gespannt, was ihm Doktor Mertens mitteilen wollte. „Ich grüße Sie, Herr Doktor Mertens. Was verschafft mir die Ehre?“ Der Kriminalbeamte schätzte den Gerichtsmediziner – er arbeitete schon seit vielen Jahren mit ihm zusammen, hielt ihn für einen der besten medizinischen Forensiker in Deutschland. „Nun, Herr Brenner ... Äh ... Also, es ist so. Sie erinnern sich doch an die Leiche von Nadja Stern?“ Mertens machte eine Sprechpause. Er hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, da er ganz genau wusste, wie Brenners Antwort lauten würde. „Ja, sicher ... Selbstverständlich.“ Der Erste Kriminalhauptkommissar legte seine Stirn in Falten – seine Stimme klang amüsiert. „Herr Doktor Mertens, Sie haben die Leiche gemeinsam mit ihrem Kollegen in meinem Beisein obduziert. Das ist ...“, Brenner sah auf seine Armbanduhr, „... nicht einmal 24 Stunden her. Ich bin zwar schon ein älteres Semester, aber so vergesslich bin ich dann doch wieder nicht. Was ist denn mit der Leiche? Ist sie etwa verschwunden?“

      Mertens war die Sache unangenehm. Er hatte vorhin so lange darüber nachgedacht, wie er das Gespräch mit dem obersten Mordermittler von Hameln beginnen würde – und nun hatte er gleich zu Beginn des Telefonats Blödsinn geredet. Natürlich konnte sich