er deutete mit seinem Kopf hinüber zu der Nana-Mouskouri-Bebrillten, „einen Piccolo. Und sagen Sie ihr, die Flasche sei von mir.“
Die Kellnerin sah ihn verwundert an, quittierte den Wunsch aber mit einem „Sehr wohl, der Herr“.
Er erwischte sich dabei, wie er über den Rand seines Sektglases den Schmuck anstarrte und die einzelnen Stücke taxierte. Er befürchtete, dass die Frau am Nachbartisch seine aufdringlichen Blicke bemerken, aufstehen und gehen würde. Das würde die Sache verkomplizieren. Aber die zappelige Mittsechzigerin schien ihn nicht zu bemerken. Sie fummelte immer noch an ihrer Bluse herum und machte Handbewegungen, so als wolle sie unsichtbare Krümel wegwischen. Die Frau schreckte hoch, als die Kellnerin an ihren Tisch trat und ihr den Sekt servierte. „Äh ... Moment ... Das habe ich nicht bestellt“, hörte er sie sagen. Ihre voll klingende weibliche Stimme hatte eine mittlere Tonlage – er empfand sie als angenehm, ja beinahe sexy. Sie passte so gar nicht zum Aussehen dieser älteren Frau. „Von dem Herrn dort drüben“, sagte die Rothaarige und bewegte dabei ihren Kopf in dessen Richtung. Seine Goldmarie lächelte breit. Sie fühlte sich geschmeichelt. „Oh, wie nett.“ Sie nickte ihm zu und füllte das langstielige Glas mit Schaumwein. Kurz darauf prosteten sie sich zu. Der Anfang war gemacht. Jetzt durfte nur nicht das Blind Date auftauchen. Er stand auf, strich seine Krawatte glatt, knöpfte sein Sakko zu und ging zu ihr an den Tisch. „Einen schönen guten Tag ... Ich heiße Peter Petrov. Darf ich mich vielleicht zu Ihnen setzen?“ Die Mittsechzigerin machte eine einladende Handbewegung. „Aber gern. Bitte, nehmen Sie doch Platz ... Ich heiße Erika.“ Sie faltete ihre Hände wie zum Gebet, schaute ihn erwartungsvoll an. „Sind wir verabredet?“, fragte sie etwas schüchtern. Er spielte den Charmeur, verstand es, Frauen für sich einzunehmen. „Ich denke, meine Teure, das Schicksal hat uns heute hier an diesem Ort zusammengeführt“, sagte er charmant – und dachte an früher.
Als er jung war, hatte er mit der Loverboy-Masche gearbeitet. Er war ein Meister darin, Frauen um den Finger zu wickeln. Er hatte vielen hübschen Mädchen den Kopf verdreht, sie emotional an sich gebunden – und sie dann gezwungen, für ihn oder andere auf den Strich zu gehen. Skrupel hatte er nicht. Er wollte schon immer möglichst schnell viel Geld machen – und wenig dafür tun. Seine Masche war simpel, aber sehr effektiv. Er hatte sich gezielt an Minderjährige herangemacht, sie am Strand, auf Schulhöfen oder vor Fastfood-Restaurants angesprochen. Zur Kontaktaufnahme hatte er natürlich auch soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram oder Badoo genutzt. Traf sich ein Mädchen mit ihm, war sie so gut wie verloren. Es reichte schon, auf die Gören einzugehen, ein bisschen Verständnis für die Probleme der Pubertierenden zu zeigen oder den Girlies zu sagen, wie gut sie aussahen. Dann hatte er ihnen die große Liebe vorgeheuchelt und blumig von einer gemeinsamen Zukunft gefaselt. Wenn er an diese Zeit dachte, musste er sich noch heute den Bauch halten vor Lachen. Diese jungen unreifen Dinger fielen garantiert auf so ein romantisches Geschwafel rein. Ihre Geilheit und ihre Unerfahrenheit wurden ihnen zum Verhängnis – davon war er überzeugt. War ihm die Kleine erst einmal verfallen, konnte er sie manipulieren, sich zwischen sie und ihre Familie drängen. Schon nach kurzer Zeit hatte die inzwischen unsterblich Verliebte das Gefühl, dass er der Einzige war, der sie verstand. Dann war der Zeitpunkt gekommen, konnte die Falle zuschnappen.
Er hatte den Mädels stets vorgegaukelt, Schulden zu haben und schließlich den alles entscheidenden Satz ausgesprochen: „Du, die töten mich, wenn ich die Kohle nicht zurückzahle. Es gibt nur einen Ausweg. Wenn du für mich mit einem Freund schlafen würdest, dann werden die mir die Schulden erlassen.“ Das hatte ausnahmslos geklappt. Jahrelang hatte er auf diese Weise blutjunge Mädchen für Bordelle rekrutiert. Aber er war älter geworden, arbeitete jetzt lieber mit einer Spritze. Seit Jahren schon beförderte er damit Menschen ins Jenseits – und es machte ihm nichts aus. Seine Opfer waren einsame Frauen und alleinstehende Männer, die etwas auf der hohen Kante hatten. Die Frau, die jetzt vor ihm saß und an ihrem Sekt nippte, würde auch nicht mehr lange leben. Das hatte er längst entschieden.
Kapitel 9
Karl Mertens klopfte mit seinen Handflächen die Taschen seines giftgrünen Kittels ab. „Ja, wo ist denn ...? Wo habe ich jetzt wieder dieses Ding hingesteckt?“, fragte er sich leise. Der Rechtsmediziner stand mit dem Rücken zum Fenster. Hinter ihm huschten Gestalten vorbei. Durch das Milchglas, das die medizinischen Forensiker vor neugierigen Blicken schützte, waren nur unscharfe Schatten zu sehen. „Ah, da auf der Fensterbank liegt es ja“, sagte Mertens. Er klang erleichtert, als er abwechselnd in die Augen von Martin und von Schmidt schaute. „Neben unseren scharfen Instrumenten ist das hier“, Mertens hielt triumphierend ein altertümlich wirkendes Diktiergerät in die Höhe, „unser wichtigstes Arbeitsgerät“, sagte er lachend und drückte zweimal auf die Aufnahmetaste. Klack, klack. „Na, ist doch so, oder?“ Der Leitende Oberarzt breitete die Arme aus – er steckte in einem übergroßen Kittel und sah jetzt aus wie der Papst beim apostolischen Segen Urbi et Orbi. Assistenzarzt Martin stimmte der Feststellung seines Chefs zu. „Ja, ja, das ist wohl so. Wenn wir unsere Erkenntnisse, die wir während einer Obduktion gewinnen, auch noch am Tisch handschriftlich protokollieren müssten, dann hätten wir hier einen langen Leichenstau.“
Doktor Mertens rieb seine behandschuhten Hände aneinander, was ein quietschendes Geräusch verursachte. „So, dann wollen wir mal ...“
„Worauf soll ich genau achten?“, wollte Doktor Martin wissen.
„Lass uns bitte gemeinsam jeden Quadratmillimeter Haut absuchen, in jede Hautfalte und in jede noch so kleine Körperöffnung schauen. Du übernimmst die rechte Körperhälfte, ich die linke. Wir sollten uns auch die Augen dieser Frau ein zweites Mal vornehmen.
Fragestellung: Wie sehen die Pupillen, wie sehen die Augäpfel aus?“
Doktor Klaus Martin dämmerte es. Der Alte wollte einen Giftmord und Tod durch Erwürgen ausschließen. „Verstehe, Boss. Die Augäpfel habe ich allerdings gestern schon gecheckt. Keine Hinweise auf Einblutungen in den Bindehäuten und auf den Lidern. Diese Frau hier“, er zeigte auf die Leiche von Nadja Stern, „ist ganz sicher nicht erwürgt worden.“
Mit einer starken Lupe betrachtete Mertens gerade den linken Unterschenkel der Verstorbenen. Zwischen Poren und kleinen Härchen, braunen Leberflecken, winzigen roten Blutschwämmchen und ein paar kleinen Stilwarzen suchte er nach einer mikroskopisch kleinen Verletzung. Er schaute nur kurz zu seinem Assistenten auf und wies ihn an, auch auf der Mundschleimhaut nach Petechien zu suchen. Mertens spielte auf stecknadelkopfgroße Blutaustritte am Kopf an. Sie deuteten auf eine venöse Stauung bei einer Strangulation hin. Leistete ein Opfer heftige Gegenwehr, konnte es dazu kommen, dass zwar die Halsvenen, nicht aber die Schlagadern abgedrückt wurden. Die Folge war, dass feinste Äderchen platzten. Auf der Gesichtshaut waren sie leicht zu erkennen, im Mund und an den Augenlidern mussten Gerichtsmediziner schon genauer hinschauen.
„Hm ...“ Der stellvertretende Institutsleiter hielt kurz inne, bohrte den rechten Schneidezahn in seine Unterlippe. Das tat er immer, wenn er hoch konzentriert an einer Leiche arbeitete. Seine Kollegen bekamen davon nichts mit, denn Mertens trug bei Autopsien stets Mundschutz. Auf seiner hohen Stirn waren allerdings tiefe horizontale Falten zu sehen. „Das ist eine Sisyphusarbeit ...“ Doktor Klaus Martin, der gerade die Zehen des rechten Fußes der Toten mit Daumen und Zeigefinger auseinanderspreizte, stimmte ihm zu. „Ja, Karl, wir suchen nach der Nadel im Heuhaufen.“ Mit seinem Vergrößerungsglas untersuchte Mertens ein Hämangiom. Ihn interessierte, ob sich in den winzigen roten Pünktchen ein Loch befand. Mertens wurde nicht fündig. Anderthalb Stunden brachten sie mit der Suche nach einer Einstichstelle zu. Gemeinsam mit Schmidt, dem Sektions- und Präparationsassistenten, hatten sie die Leiche von Nadja Stern umgedreht und auch die Rückseite der Toten abgesucht – ohne Erfolg. Mertens und Martin waren gefrustet. „Tja ... Das war ein Satz mit x, das war wohl nix“, meinte Doktor Martin. Er klang schadenfroh, bekam wieder Oberwasser. „Ich hab’s dir ja gleich gesagt ...“
In Mertens arbeitete es. Ohne sich zuvor mit Martin abzustimmen, bat er den Präparator, einen Rasierer zu holen. Schmidt drehte sich um, zog eine Schublade auf und hielt eine Schermaschine, die aussah wie ein handelsüblicher Bartschneider, in der Hand. „Voilà!“, meldete er Vollzug. Der Sektionsassistent wollte mit einem Fremdwort glänzen. Mertens war davon nicht beeindruckt. Er war fest entschlossen, das Rätsel