Roland Lange

Harzhunde


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nichts.“

      „Hat er das gesagt?“

      „Ja! Hat er!“

      Blume nickte. „Okay, okay. Du hast ja recht. Manchmal sehe ich Gespenster. Tut mir leid.“

      „Hm ...“, murrte Katja und wandte sich ihrer Suppe zu.

      Die folgenden Minuten aßen sie schweigend, hingen ihren Gedanken nach. Blume war klar, er musste sich zusammenreißen. Er hatte gehofft, bei Katja endlich Ruhe zu finden. Ihr Saloon und die Ferienhaussiedlung lagen weit ab vom Schuss, am südlichen Harzrand. Diejenigen, vor denen er sich versteckte, hatten ihn schon in Hannover, in seinem kleinen Elektroladen, nicht aufspüren können. Wie sollten sie ihn dann ausgerechnet hier finden? Er wusste ja gar nicht mit Sicherheit, ob sie überhaupt hinter ihm her waren! Nicht mal, wer genau sie waren! Nur denjenigen, der sie geschickt hatte, sollten sie tatsächlich eines Tages kommen, den kannte er: Gerhard Hauser. So hatte er damals geheißen. Blume wusste nicht, ob der Mann den Namen bis heute trug oder, wie er selbst, seine Identität gewechselt hatte. Lebte er überhaupt noch? Spekulationen, Fragen, Vermutungen. Ein Gefühl ständiger Bedrohung. Gerhard Hauser saß ihm wie ein Gespenst im Nacken, war fast immer da, folgte ihm an jeden Ort der Welt, egal, wohin er sich verkroch.

      Als dieser Clemens Ritter heute aufgetaucht war, hatte der Blumes verschüttete Ängste wieder an die Oberfläche geholt. Schon möglich, dass der Mann nur ein völlig harmloser Feriengast war, in dem er zu Unrecht eine Gefahr für sich sah.

      Trotzdem – er würde achtsam sein und ein Auge auf den Kerl haben. Mit diesem Vorsatz und einem flüchtigen Gute-Nacht-Kuss auf ihre Stirn verließ er Katjas Küche und verzog sich nach oben, in seine Wohnung.

      5. Kapitel

      Daniel Kranz hatte für den Weg zurück in sein Büro die Landstraße in Richtung Nordhausen genommen, war nicht auf die A38 aufgefahren. Er kam von einer Baustelle in Kelbra am Kyffhäuser. Dort hatte er den Rohbau eines von ihm entworfenen Wohnhauses begutachtet. Er fuhr langsam und achtete darauf, sein verwundetes Bein nicht zu belasten. Es tat so verdammt weh. Kein Wunder! Das Herumlaufen auf der Baustelle, später das lange Stehen, über den Bauplan gebeugt, die endlose Diskussion mit dem Polier, der die Pläne an verschiedenen Stellen falsch umgesetzt hatte. Das war zu viel gewesen. Jetzt bekam er die Quittung dafür, dass er sich nicht geschont hatte.

      Die Bisswunde verheilte weniger schnell als von ihm erwartet. Hätte er nur ein paar Tage kürzergetreten, anstatt wie jeden Tag weiterzuarbeiten. Einige Außentermine verschieben, mehr hätte es nicht sein müssen. Aber damit wäre er bei seinem Schwiegervater nur noch tiefer in Ungnade gefallen. Er hatte es nicht fertiggebracht, ihm in jener grauenvollen Nacht das Märchen von der gebrochenen Leitersprosse aufzutischen. Wenn er log, sah man ihm das sofort an, dessen war er sich bewusst. Man hörte es sogar, weil er sich bei solchen Lügereien hoffnungslos verhaspelte. Also war er bei dem geblieben, was er für die Wahrheit hielt. Aber auch die Geschichte von dem blutrünstigen Hund oder Wolf hatte ihm der Alte nicht abgenommen.

      „Ich schätze, du bist in der Dunkelheit über deine eigenen Beine gestolpert. Ein Wunder, dass du das überlebt hast.“ Nicht ein Wort des Mitgefühls, nur abschätzige Blicke für seinen Schwiegersohn, der völlig blutverschmiert, mit zerrissenem Hosenbein und provisorischem Verband vor ihm gestanden hatte. „Herrgott noch mal, du bist so ein ...“ Er hatte den Satz unvollendet gelassen, abgewunken und den Hausarzt der Familie, Dr. Hubert Kowalski, aus dem Bett geklingelt. Den Einwand seiner besorgten Tochter, sie werde mit Daniel besser in die Notaufnahme des Krankenhauses fahren, hatte er unwirsch zurückgewiesen. „Damit morgen alle Welt weiß, was für ein Jammerlappen dein Mann ist? Der nachts orientierungslos durch den Wald trampelt, sich dabei fast selbst umbringt und dann von irgendwelchen Untieren faselt? Nix da! Die Blamage möchte ich uns allen ersparen. Diesen kleinen Riss kriegt der alte Quacksalber genauso gut zusammengeflickt. Und der hält wenigstens die Klappe.“

      Dabei war es geblieben. Der Arzt hatte die klaffende Wunde genäht, Daniel eine Tetanusspritze verpasst und ihn und Julia mit einem Paket Antibiotika und Schmerzmitteln wieder nach Hause geschickt. Auf Julias Frage, ob Dr. Kowalski ihren Mann nicht gleich gegen eine mögliche Tollwutinfektion impfen wolle, hatte der Arzt mit einem unwirschen Grunzen abgewunken. Unwahrscheinlich, dass im Wald ein Tier mit Tollwut herumlaufe, hatte er gähnend gebrummt. Das Virus sei in diesem Land ausgerottet, soweit er wisse. Daniel solle das Bein in den nächsten Tagen nicht belasten und ab und zu den Verband wechseln. Dann wäre die Sache in ein oder zwei Wochen ausgestanden. Mit dem Ratschlag hatte der Arzt sie entlassen. Ihm war deutlich anzusehen gewesen, dass er so schnell wie möglich wieder ins Bett kommen wollte.

      Am Ende hätte Daniel die Geschichte vermutlich auf sich beruhen lassen und eines Tages vergessen. Aber die Demütigung seines Schwiegervaters, dessen spöttische Bemerkungen und die ständigen Gängelungen hatten seinen Widerstand wachgerufen. So durfte es nicht weitergehen. Es wurde allmählich Zeit, dass er dem Alten die Stirn bot. Er musste herausfinden, was auf dem Weg vom Hochsitz zum Auto passiert war, was ihm dort aufgelauert hatte. Es war real gewesen, es war ein Tier gewesen – ein riesiges Raubtier –, und es hatte ihn angegriffen! Er war kein Muttersöhnchen, kein Feigling, der sich nachts im Wald die Hosen vollschiss und in Panik durchs Unterholz irrte. Dieses Vieh war ihm auf den Fersen gewesen! Das würde er beweisen! Seinem Schwiegervater, seiner Frau – vor allem aber sich selbst. Den Gedanken, heimlich einen anderen Arzt aufzusuchen, der ihm ein unabhängiges Urteil über die Wunde gab, hatte er verworfen. Er würde im besten Fall bestätigt bekommen, dass es sich um eine Bisswunde handelte. Aber um dem Alten das Maul zu stopfen, bedurfte es etwas mehr.

      Vor ihm, keine hundert Meter voraus, zweigte eine Straße rechts ab, nach Urbach und dann weiter in Richtung Buchholz und Hermannsacker. Maria!, schoss es ihm durch den Kopf. Warum war er nicht längst darauf gekommen? Maria Hübner war Biologin und ausgewiesene Wolfsexpertin. Mit ihr konnte er reden. Ihr konnte er von dem Angriff erzählen und sie fragen, was sie davon hielt. Ob es sich um einen Wolf gehandelt hatte. Maria würde ihn nicht auslachen und für einen Spinner halten, der Gespenster gesehen hatte und vor Schiss davongelaufen war. Sie kannten sich seit ihrer Studienzeit in Hamburg. Im Zwick auf St. Pauli hatten sie sich an einem Wochenende bei Musik und Spareribs kennen und schätzen gelernt. Zu einer Beziehung hatte es nie gereicht. Er hätte damals schon gewollt, Maria nicht. Nur Probleme, hatte sie gemeint. Freundschaft sei besser. Vor einer kleinen Ewigkeit waren sie sich das letzte Mal über den Weg gelaufen. Zufällig. In Nordhausen. Und das, obwohl sie gar nicht so weit voneinander entfernt lebten. Schon merkwürdig, dass er sich nie zu einem Besuch bei Maria hatte aufraffen können. Diese lang anhaltende Funkstille hatte hoffentlich nichts an ihrer gegenseitigen freundschaftlichen Zuneigung geändert. Bald würde er es wissen.

      Kurz entschlossen bog er in die abgehende Straße ein. Soweit er sich erinnerte, lebte Maria Hübner allein auf einem kleinen Restbauernhof, den sie als Selbstversorgerin bewirtschaftete. Sie war geschieden und hatte eine zehnjährige Tochter, die bei ihrem Vater lebte. Das Verhältnis zu dem Mädchen war angespannt, sie trafen sich sehr selten. Es war eingetroffen, was sie damals in Hamburg bereits geahnt zu haben schien. Beziehungen brachten Probleme. Trotzdem war sie eine Ehe eingegangen.

      Ihren Lebensunterhalt bestritt Maria, abgesehen von dem, was der Hof abwarf, mit dem Geld aus Vorträgen und Seminaren, zu denen sie immer wieder eingeladen wurde. Die beiden Bücher, die sie geschrieben hatte, waren auf diversen Sachbuch-Bestsellerlisten zu finden. Sie brachten ihr vermutlich ein halbwegs vernünftiges Honorar ein. Maria war als Biologin und Wolfsexpertin anerkannt, wenn auch nicht bei jedermann beliebt.

      Von ihren Familienverhältnissen und der bevorstehenden Scheidung hatte sie ihm selbst erzählt. Seinerzeit in Nordhausen. Alle weiteren Informationen über die ehemalige Studienfreundin hatte Daniel andernorts aufgeschnappt. Meist von seinen Kunden oder Menschen, mit denen er ins Gespräch gekommen war und die vorgaben, Maria zu kennen. Seltener waren es Presseberichte gewesen, Interviews, Artikel über ihre Arbeit. Jetzt war er gespannt, wie viel von alledem tatsächlich zutraf.

      Fünfzehn Minuten später rollte er langsam durch das Tor in der Bruchsteinmauer, die sich um den kleinen Bauernhof zog. Einmal hatte er im Ort nach dem Weg fragen müssen, dann war es ein Leichtes gewesen, hier herauszufinden. Der mit Kopfsteinpflaster befestigte Hofplatz war eingerahmt von