eben etwas zwischen den Zeilen gehört? Waren die Fragen des Mannes eine Falle? Er musste auf der Hut sein. Seine eigenen Worte mit Bedacht wählen. „Da kann ich Ihnen nicht widersprechen“, entgegnete er lapidar und versuchte ein Grinsen, was ihm vermutlich misslang. Wie immer. Er stand von der Bank auf. „Nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Ritter, aber es wird Zeit, dass ich ins Büro komme. Bevor meine Chefin mich vermisst.“
Ritter erhob sich ebenfalls. „Aber ich bitte Sie!“, sagte er. „Ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie von der Arbeit abgehalten habe. Das war nicht meine Absicht. Trotzdem, es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu plaudern. Also dann, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“
Wieder reichte er Blume die Hand. Dieses Mal griff er zu, schüttelte sie.
Clemens Ritter drehte sich um und steuerte ohne einen Blick zurück mit energischen Schritten auf das Haus gegenüber zu. Blume sah ihm einen Moment hinterher. Dann wandte er sich ab und ging hinunter zum Saloon.
Was bist du bloß für ein neurotischer Idiot, beschimpfte er sich stumm und forcierte wütend sein Tempo. Katja hatte recht – wenn er nicht aufpasste, rutschte er wieder in seine alten Muster. Das wäre der Anfang vom Ende seines neuen, friedlichen Lebens. Dieser Clemens Ritter war ein normaler Urlaubsgast. Jemand, der Kontakt suchte, Ablenkung, um nicht andauernd an seine tote Frau denken zu müssen. Ein einsamer Mensch, dem etwas Zerstreuung guttat. Nichts an Ritters Verhalten war verdächtig. Gar nichts! Es gab keinen Grund, ihm mit Misstrauen zu begegnen.
7. Kapitel
Gegen elf Uhr trat Blume durch die Eingangstür des Stadthauses in der Bochumer Straße in Nordhausen. Das mehrgeschossige, westlich der nahen Innenstadt gelegene Eckgebäude gehörte zu den Ensembles, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut worden waren. Auf das Ende der DDR und die Wiedervereinigung war eine Renovierungswelle gefolgt, der die Stadt und das Haus, in das Blume hineingegangen war, ihr heutiges schmuckes Gesicht verdankten.
Die Psychotherapeutische Gemeinschaftspraxis Dreyling, Thunert und Bach dehnte sich fast über das gesamte zweite Obergeschoss aus, direkt unter dem Dach mit seinen knapp einem Dutzend Gauben. Trotz des Fahrstuhls, der einen behindertengerechten Zugang zu den Etagen ermöglichte, entschloss sich Blume, die Treppe zu nehmen. Oben angekommen, stand er nach ein paar Metern über den Flur vor der verschlossenen Praxistür. Erst auf sein Läuten hin wurde ihm von einer etwa fünfzigjährigen eleganten Dame geöffnet.
Der Raum, in den er eintrat, war groß und hell. Blume hätte ihn für ein Wohnzimmer gehalten, wäre nicht der Empfangstresen in der Mitte gewesen. Weicher Teppichboden dämpfte die Schritte, große Kunstdrucke an den Wänden zogen seinen Blick auf sich, und verschiedene hohe, über das Zimmer verteilt stehende Grünpflanzen erzeugten ein angenehmes Raumklima. Viele weitere dekorative Wohnaccessoires vermittelten eine Wohlfühlatmosphäre, die konventionellen Arztpraxen fehlte. Von den vier Türen, die links und rechts in die Wände eingelassen waren, schien keine in ein abgeschlossenes Wartezimmer zu führen. Es gab nur eine Nische, die, abgetrennt durch einen kleinen Raumteiler, als Wartebereich diente. Mehr schien nicht nötig zu sein. In einem der drei Sessel, die dort standen, blätterte ein junger Mann in einer Illustrierten.
Blume folgte der eleganten Dame zum Tresen in der Mitte des Raumes. Am Fenster dahinter saß eine Frau vor einem Computer und ließ ihre Finger über die Tastatur fliegen. Sie wandte ihr Gesicht vom Bildschirm ab, schaute kurz zu Blume hin und lächelte ihm zu – eine hübsche Erscheinung, schlank, die glatten, brünetten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie war jung, um die zwanzig Jahre jünger als ihre Kollegin, schätzte er. Und sie wirkte wesentlich freundlicher auf ihn.
„Bitte schön, was kann ich für Sie tun?“, fragte ihn die elegante Dame. Ihre ersten Worte seit der knappen Begrüßung an der Tür. Sie sah ihn über den Tresen hinweg auffordernd an.
„Ich hätte gern Dr. Dreyling gesprochen“, bat Blume sie.
„In welcher Angelegenheit? Haben Sie einen Termin?“
„Nein, ich bin ein Freund von Herrn Dreyling. Wir hatten uns hier in Nordhausen verabredet. Vor einer Stunde wollten wir uns treffen. Er ist nicht gekommen. Da dachte ich ...“
„Ihr Name?“ Die elegante Dame betrachtete ihn mit unverhohlenem Misstrauen.
„Parschau. Richard Parschau.“ Den falschen Namen hatte er sich auf dem kurzen Weg von der Tür zum Tresen einfallen lassen. Eine instinktive Entscheidung. Seinen Ausweis wollte die Frau jetzt hoffentlich nicht sehen.
„Dr. Dreyling ist heute leider nicht im Haus. Bedaure.“
„Dann stimmt es, was ich gelesen habe? Er wird vermisst? Seit wann denn? Was ist passiert?“
Die Reaktion der Dame war ausgesprochen kühl. „Tut mir leid, dazu werde ich Ihnen keine Auskunft geben“, antwortete sie schroff.
„Hören Sie, Frau ...“, er entdeckte das kleine Schild auf dem Tresen, „... Frau Gundlach, ich bin sein Freund! Sie werden mir doch wohl sagen können, was los ist!“ Er verlieh seiner Stimme einen empörten Klang. „Er ist sonst immer pünktlich. Ich habe versucht, ihn anzurufen. Aber er ist nicht an sein Telefon gegangen. Und dann diese Anzeige ... Ich mache mir Sorgen, verstehen Sie das?“
Er nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie sich die junge Frau von ihrem Computer erhob und sich um den Tresen herum wand. Sie huschte dicht hinter ihm entlang, gab ihm im Vorbeigehen einen leichten Stoß. Irritiert drehte er sich zu ihr um.
„Sie haben da was verloren“, murmelte sie, deutete mit ihrem Blick nach unten und ging weiter.
Blume sah zu Boden. Neben seinen Füßen lag ein kleiner zusammengefalteter Zettel. Der gehörte ihm nicht. Trotzdem hob er ihn auf, faltete ihn auseinander und überflog den Text darauf. Dann steckte er das Stück Papier schnell in seine Hosentasche. Die junge Frau war hinter einer der Türen verschwunden.
Blume wandte sich wieder der Dame namens Gundlach zu, die mit einem Räuspern seine Aufmerksamkeit einforderte.
„Wenn Sie sich Sorgen um Ihren Freund machen, müssen Sie sich an die Polizei wenden“, erklärte sie ihm energisch.
„Aber er wird doch nicht einfach so verschwunden sein! Hat er denn nichts gesagt? Kein Wort?“
„Noch einmal, ich werde Ihnen keine Auskunft geben“, wiederholte Frau Gundlach mit versteinertem Gesicht. „Falls Sie keine weiteren Fragen haben ...“
Blume begriff, dass er bei ihr auf Granit biss. Er nahm es gelassen. Vor wenigen Augenblicken hatte sich ihm eine andere Informationsquelle aufgetan – wenn er den Text auf dem Zettel richtig deutete. „Nein, vielen Dank“, sagte er und wandte sich dem Ausgang zu. Nach ein paar Schritten hielt er inne, drehte sich wieder um. „Doch, eine letzte Frage habe ich: Frau Sandra Kullmann? Sie ist Karstens Patientin, richtig?“
Die Augen der Dame am Tresen weiteten sich vor Überraschung. Oder vor Schreck. Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann hatte sie sich unter Kontrolle und war so abweisend wie zuvor. „Auf Wiedersehen“, zischte sie und legte eine Hand auf den Hörer des Telefons neben sich. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie jemanden herbeirufen würde, der Blume ohne viele Worte aus der Praxis warf, sollte er nicht endlich den Rückzug antreten.
Sekunden später schloss er die Praxistür hinter sich. Wieder unten auf dem Bürgersteig, zog er das Stück Papier aus der Tasche, das die junge Praxisangestellte hatte auf den Boden fallen lassen. „Der Burgermeister, links die Straße runter. Zwei Minuten zu Fuß, Treffen um halb eins“, las er noch einmal. Ein paar schnell hingekritzelte Worte, aber mit eindeutiger Botschaft: Die Frau wollte ihn sprechen. Er brauchte seine Fantasie nicht zu bemühen, um zu wissen, worüber.
Blume folgte den Anweisungen auf dem Zettel und ging ohne Eile in die beschriebene Richtung. Nicht lange, dann tauchte links vor ihm ein kleines tristes Gebäude mit grauen Dachplatten auf. Von hinten wirkte es eher wie das Bauwerk eines Energieunternehmens, ein Transformatorhaus oder etwas in der Art. Genauso hätte es eine öffentliche Toilette sein können. Nur das Schild an der Rückwand des Gebäudes wies auf die wahre Nutzung hin. In dicken Lettern stand dort der Name des Imbisses. Blume war