Roland Lange

Harzhunde


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Anwesen machte einen heruntergekommenen Eindruck. Das zeigte sich deutlich am Wohnhaus, dessen verwittertes Mauerwerk im Erdgeschoss noch übertroffen wurde von dem teilweise abgefallenen Plattenbehang im Stockwerk darüber. An verschiedenen Stellen trat das ursprüngliche Fachwerkgebälk mit den roten Ziegelsteinausfachungen zutage und ließ die besseren Zeiten erahnen, die der Hof einmal gesehen hatte. Die sichtbar gescheiterten Renovierungsversuche, die die Gebäude seitdem über sich hatten ergehen lassen müssen, lieferten ein ebenso beredtes Zeugnis vom allmählichen Niedergang.

      Als Daniel die Wagentür öffnete, vernahm er hämmernde Geräusche, die aus der Werkstatt drangen. Dem hellen Klang nach zu urteilen, bearbeitete jemand Metall. Noch bevor er einen Fuß aus dem Auto gesetzt hatte, schoss ihm aus der offenen Werkstatttür ein Hund entgegen. Wütend kläffend blieb das Tier, ein Border Collie, etwa zwei Meter von seinem Mercedes entfernt stehen, jederzeit bereit, ihn zu attackieren, sollte er es wagen, einen Schritt näherzukommen.

      „Chucky, aus!“

      Die laute, befehlende Stimme gehörte zu einer Frau, die jetzt ebenfalls aus der Werkstatt trat. Ihre Hände an einem verdreckten Blaumann abwischend, kam sie auf Daniel zu. Der Border Collie namens Chucky lief schwanzwedelnd zu seinem Frauchen. Auf halbem Weg blieb die Frau, eindeutig Maria Hübner, stehen und stutzte.

      „Daniel? Daniel Kranz?“, rief sie erstaunt aus. „Das glaube ich jetzt nicht!“

      „Hallo Maria!“, entgegnete er gequält lächelnd. Vorsichtig, sein Gewicht auf das unverletzte Bein verlagernd, bewegte er sich auf die Frau im Blaumann zu. „Hierher hat es dich also verschlagen.“

      „Sieht so aus.“ Maria Hübner schlang die Arme um Daniels Hals, drückte ihn kurz an sich und ließ wieder von ihm ab. Ihre Begrüßung brachte ihn etwas aus der Balance, was ihm einen stechenden Schmerz bescherte. Sie trat zwei Schritte zurück und musterte ihn von oben bis unten. „Menschenskinder, wie lange ist das her, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind?“

      „Über drei Jahre, glaube ich. Das war in Nordhausen. Du ...“

      „Richtig, ich erinnere mich“, fiel sie ihm ins Wort. „Ich hatte es ein bisschen eilig damals. Anwaltstermin wegen meiner Scheidung. Und du? Was treibt dich hier raus zu mir?“

      „Spontane Idee“, antwortete Daniel, „ich war auf dem Rückweg von einer Baustelle. Hab mir gedacht, ich schaue mal vorbei. War ja kein großer Umweg.“

      „Du machst ein ziemlich gequältes Gesicht“, sagte sie. Über ihrer Stirn hatten sich Sorgenfalten gebildet. „Geht’s dir nicht gut?“

      „Ach, geht schon“, wehrte er ab. „Liegt vermutlich an der Arbeit. Der Termin vorhin war etwas nervenaufreibend.“

      Sie nickte. „Na dann lass uns mal ein wenig Stressabbau betreiben. Komm mit. Wir gehen hinters Haus auf die Terrasse. Da können wir quatschen und was trinken.“

      „Und nach der Scheidung hast du dich hier verkrochen?“, fragte Daniel. Sie saßen bei einem Bier auf der überdachten Holzterrasse, die von dichtem Weinlaub zugewuchert war. Ein romantisches, schattiges Plätzchen, an dem es sich aushalten ließ.

      „Wir haben unser Haus verkauft. Michael hatte was in Aussicht, in Frankfurt. Beruflicher Aufstieg. Leitender Posten in seinem Chemiekonzern, dazu eine neue Freundin, mit der er zusammenziehen wollte. Unsere Tochter lebt bei ihm. In geordneten familiären Verhältnissen.“ Sie gab dem Satz eine ironische Betonung und setzte ihn mit den Fingern in Häkchen. „So muss das sein. Na ja. Wenn es ihr gefällt. Mich will sie ja am besten gar nicht sehen. Ach, was jammere ich denn? Mir ist zum Glück genug Geld geblieben. Ich habe mir auch was Neues gesucht. Das hier. Bin zufällig darauf gestoßen.“ Sie ließ ihren Arm über die Gemüsebeete und kleinen Ackerstücke schweifen, die sich an die Terrasse und das Wohnhaus anschlossen. „Sah schlimm aus, das alles, aber ich hab’s für ’nen Spottpreis gekauft. Ist immer noch besser als zur Miete wohnen. Und jetzt bastele ich hier rum und versuche, die Buden auf Vordermann zu bringen. So, wie ich Zeit und Geld habe. Manchmal hilft mir jemand von den Freunden, die mir geblieben sind. Dazu ein bisschen Ackerbau, wie du sehen kannst. Nebenbei schmiede ich ein paar nette Skulpturen aus Eisenschrott, den ich einsammele. Meine künstlerische Ader ausleben.“ Sie grinste ihn an. „Und du? Immer noch in diesem Architekturbüro angestellt?“

      Daniel schüttelte den Kopf. „Nicht mehr. Hab mich selbstständig gemacht. Kleines Ein-Mann-Büro nur, aber einträglich. Und die Hauptsache, ich bin unabhängig.“

      „Verheiratet?“

      „Jepp. Seit knapp einem Jahr. Mit Julia. Geborene Wüstefeld.“

      „Wüstefeld ... Wüstefeld ...“ Maria zupfte sich am Ohr, überlegte kurz. „Doch nicht etwa ... Baustoffhandel Wüstefeld?“

      „Exakt.“ Daniel lachte auf.

      „Na, dann hast du ja ausgesorgt, mein Freund.“ Sie setzte die Flasche an den Mund, gönnte sich einen kräftigen Schluck.

      Er betrachtete sie, wie sie trank. Immer noch die selbstbewusste kleine Frau, die jede Aufgabe meisterte, mit der sie konfrontiert wurde. Das drückte sie sogar mit ihrer Art, Bier zu trinken, aus.

      „Und wie ist er so, dein Schwiegerpapa?“, fragte sie und wischte sich mit dem Ärmel ihres Flanellhemdes über den Mund.

      Daniel blickte sie irritiert an, verstand nicht sofort.

      „Ich meine, man hört nicht überall das Beste von ihm“, schob sie hinterher. „Soll ein ziemlicher Stinkstiefel sein, der alte Herr.“

      „Man muss ihn nur zu nehmen wissen“, entgegnete Daniel leicht pikiert und nicht ganz wahrheitsgemäß.

      „Sorry, ich wollte nicht beleidigend sein“, ruderte Maria sofort zurück.

      Daniel winkte ab. „Schon gut. Du hast ja recht. Er ist ein knorriger Kerl. Etwas schwierig im Umgang. Aber jetzt mal zu dir: Du beschäftigst dich immer noch mit deinen Wölfen?“

      Maria nickte. „Sicher. Das ist mein Job. Mit meinen Vorträgen und Seminaren bin ich überall in Deutschland unterwegs. Ist ja ein heftig diskutiertes Thema, der Wolf. Tierschutz, Jagdrecht. Wo ich hinkomme, verhärtete Fronten. Und ich dazwischen. Die Aufklärerin. Ich bekomme regelmäßig Einladungen. Finanziell ist das für mich eine relativ sichere Bank. Dazu ein paar andere Einnahmequellen. Als Gastdozentin. Und wenn ich mit meinem Gemüse auf dem Wochenmarkt stehe, bringt das ebenfalls Geld in die Kasse. Oder die Skulpturen, die ich drüben in der Werkstatt zusammenschweiße. Davon habe ich auch schon welche unter die Leute gebracht. Du siehst, ich komme klar.“

      „Wie ist denn die Lage im Harz?“, fragte Daniel vorsichtig und rutschte angespannt auf seinem Platz herum. „Gibt es hier auch schon Wölfe?“

      Maria schüttelte den Kopf. „Davon ist mir bisher nichts bekannt. Es hat Wolfssichtungen gegeben, ja. Hauptsächlich im Ostharz. Zum Teil mit Fotos belegt. Dazu weitere Spuren. Aber Hinweise auf ganze Territorien – Fehlanzeige. Keine Rudel, die sich im Harz angesiedelt haben. Heimisch sind die Wölfe hier noch nicht. Auch wenn das mein spezieller Freund anders sieht.“

      „Und wer ist das, dieser spezielle Freund? Klingt eher nach Feind.“

      Sie winkte ab. „Ich will es nicht dramatisieren. Er ist ein Schafzüchter, der in den letzten Tagen ein paar gerissene Tiere zu beklagen hatte. Der Mann hat mich schon immer angefeindet. Für den bin ich eine durchgeknallte Öko-Spinnerin, linke Umweltschlampe und noch ein paar andere nette Bezeichnungen, die er für mich hat. Neuerdings meint er, es reicht nicht mehr, mich nur zu beschimpfen. Ich kriege Drohbriefe, habe zerstochene Autoreifen und verwüstete Gemüsebeete. Anscheinend sieht er in mir die Schuldige für den Verlust seiner Schafe. Dummerweise kann ich ihm nichts nachweisen ... noch nicht.“

      Daniel war hellhörig geworden. „Was glaubst du? Waren es Wölfe?“

      „Er behauptet es“, grummelte Maria. „Ich habe ihm angeboten, mir die gerissenen Tiere anzusehen. Aber das will er nicht. Wenn sich dabei herausstellen würde, dass es wildernde Hunde waren, stünde er mit seinem Hass auf die Wölfe womöglich bald allein