die alle in weißen Ganzkörperanzügen steckten und kaum zu unterscheiden waren, die Spuren auf dem Plastikpaket gesichert und den Leichnam aus dem riesigen Betonraum getragen hatten, beobachtete Nora den Laptop am Rande des Beckens, während sie darüber grübelte, wieso das Handy der Vermissten bei der männlichen Leiche lag.
Als Pieter ein weiteres Telefonat beendet hatte und mit Nora die nächsten Schritte besprechen wollte, verwirrte ihn ihr verblüfftes Gesicht.
Nora hatte vor wenigen Sekunden das Ortungssignal des Laptops beobachtet und registriert, dass es seine Position nicht geändert hatte, obwohl das geborgene Paket schon außerhalb des großen Betonbeckens bewegt wurde und dieser Standortwechsel hätte angezeigt werden müssen. Den Bruchteil einer Sekunde später rief Nora: „Das Handy liegt immer noch im Müllbecken, wir müssen zurück und weitergraben! Vielleicht liegt da noch eine zweite Leiche!“
Nach zehn anstrengenden Minuten fanden Pieter und Nora ein zweites blaues Paket, öffneten es und stellten fest, dass es eine weibliche Leiche enthielt. Auch dieses Opfer, bei dem es sich mutmaßlich um die Vermisste handelte, war mit einem Kopfschuss getötet worden.
Beide Leichen wurden ins Institut für Rechtsmedizin verbracht, und Nora und Pieter verabschiedeten sich von dem Schichtleiter, der etwas Unverständliches knurrte, weil er verärgert war, dass er seine Arbeit erst jetzt wiederaufnehmen durfte.
***
„Ich fahre gleich noch in den Puff, um die Anzeigeerstatterin zu informieren und zu befragen. Begleitest du mich?“, fragte Nora.
Pieter öffnete die Fahrertür des VW Passat Variant, schaute hoch und winkte ab. „Wenn du mich nicht unbedingt dabeihaben musst, würde ich gerne nach Hause fahren, hab schon so viele Überstunden.“ Er lächelte schief und setzte Nora in der Nähe des Etablissements ab, wo sie auf den Concierge zuging.
Goldene Knöpfe blitzten auf seiner roten Uniform, und weiße Locken guckten unter der farblich abgestimmten Schirmmütze hervor. Eine Montur, wie sie auch von Portiers des „Vier Jahreszeiten“, „Atlantik“ oder anderer gehobener Luxushotels getragen wurde, um – unter Ausschluss des Alltages – jeden einzelnen Gast schon vor der Tür zuvorkommend zu empfangen.
Heute war es anders.
Nora zeigte ihren Dienstausweis, fragte, ob sie Lotta Kardinal sprechen könne, und erklomm die Treppenstufen des Lokals.
Lotta Kardinal stand hinter dem Tresen, lächelte den einzigen Gast freundlich an, während sie ihm eine Zigarette anzündete. Geschäftig und flink drehte sie sich zu der schummrig beleuchteten Bar, nahm eine Flasche Wodka aus dem verspiegelten Regal und begann, den bestellten „Sex on the beach“ zu mixen. Ihr blonder, lockiger, zu einem Pferdeschwanz gebundener Zopf sprang dabei hin und her. Sie maß 1,70 Meter, hatte eine sportliche Figur, warme, freundliche blaue Augen und eine kleine Nase. Jedoch hatten sich um ihre Mundwinkel bereits tiefe Falten gesammelt, die ihrem Gesicht insgesamt etwas Hartes, Unnahbares gaben. Lotta trug ein schneeweißes Hemd mit einer Fliege, eine schwarze Weste, und um die schwarze Hose hatte sie eine gestärkte weiße Schürze gebunden. Mit beiden Händen und ausgestellten Ellenbogen schüttelte sie den kühlen Cocktailshaker in fließenden Bewegungen schwungvoll nach oben und unten. Währenddessen blickte sie in den Barspiegel, und das Rascheln der kleinen Eisstücke endete abrupt, als Nora Kardinal den Barbereich betrat. Lotta erkannte ihre Schwester sofort. Es war still im Lokal, denn im Hintergrund lief nur leise Musik. Lotta spürte ihr pumpendes Herz. Adrenalin spülte durch ihr Blut, ihr wurde heiß, und ihr Magen rebellierte. Er fühlte sich an, als würde er sich stetig mit einer heißen, flüssigen Lauge füllen und jeden Moment überlaufen, wie ein vergessenes Tiegelchen in einer Alchemistenküche, welches mit einer gluckernden, brodelnden Substanz gefüllt war, die jeden Moment über den Rand zu schwappen drohte. Ihrem Impuls, aus dem Lokal zu fliehen, gab sie nicht nach. Das war keine Option.
„Hallo“, sagte Nora und trat an den Tresen heran. Sie hatte sich zur Einleitung einen Satz zurechtgelegt, den sie mechanisch aufsagte.
„Lotta, das ist ein unglücklicher Moment für ein Wiedersehen, den habe ich mir anders vorgestellt, aber ich muss dir einige Fragen stellen.“
Unsicher kramte Nora in ihrer Hosentasche nach ihrer Polizeimarke.
„Ich bin hier wegen deiner Vermisstenanzeige. Es tut mir wirklich sehr leid, wir haben das Handy deiner Kollegin orten können und dabei eine weibliche Leiche entdeckt. Du müsstest sie noch identifizieren, aber wir gehen davon aus, dass es sich um die Vermisste handelt. Und wir haben auch noch eine weitere Leiche gefunden. Beide lagen im Betonraum der Müllanlage vergraben.“ Nora machte eine kurze Pause, um sich zu sammeln.
„Erzähl doch bitte einmal, wie es zu deiner Anzeige kam.“
Durch Lottas Kopf flitzten so viele Gedanken, dass sie sie kaum zu bändigen vermochte.
Ihre Simone tot? Das durfte nicht sein! Das musste ein Irrtum sein! Aber wenn sie es doch war? Das würde sie nicht ertragen können. Und ausgerechnet ihre verhasste Schwester Nora stand vor ihr. Hätte nicht ein anderer Polizist kommen können? Ausgerechnet Nora! Und nun wusste sie auch noch, wo Lotta arbeitete.
Bisher hatte Lotta ihren sündigen Job in der Bar gut verheimlichen können, und nun kam alles zusammen. Vor ihr stand ihre jüngere Schwester, die ihr so großes Leid angetan und verhindert hatte, dass sie ihr anvertrautes Liebstes hatte beschützen können.
Über Lottas Augen legte sich ein leichter Glanz, bloß nicht weinen, dachte sie, bloß nicht weinen, nicht hier, nicht vor ihr. Ihr Blick verfinsterte sich wieder. „Ich habe dir nichts zu sagen“, entgegnete sie. „Alles, was ich weiß, habe ich bei meiner Anzeige erzählt, dem habe ich nichts hinzuzufügen.“
Lotta überlegte einen Moment.
„Wisst ihr schon, wie sie gestorben ist?“, wollte sie doch wissen.
Nora fiel auf, dass Lotta zutiefst getroffen war und sich der Glanz in ihren Augen hartnäckig hielt.
„Nein, noch nicht, die Leichen sind im Institut und werden erst noch obduziert. Warst du mit der Frau befreundet?“
„Wofür ist das wichtig?“
Lotta reagierte trotzig und wollte die Unterredung so kurz wie möglich halten.
„Hör mal, Lotta, du hast die Pflicht, Auskunft zu erteilen, zwar nicht mir gegenüber, aber spätestens bei der Staatsanwaltschaft. Es ist nicht an dir, mir Fragen zu stellen.“
Nora biss sich auf die Lippen, wie dumm von ihr, so würde sie ihre Schwester nicht dazu bewegen können, Fragen zu beantworten.
„Es tut mir leid, Lotta, ich bin gerade überwältigt von unserer Begegnung und …“
Noras Unterkiefer bebte, weil sie ihre Wut und Tränen unterdrückte. Lotta hatte Nora schon immer für alles Schreckliche, was in der Familie Kardinal passiert war, verantwortlich gemacht. Unvorhergesehen stand die alte Wut zwischen ihnen, aber verdammt, sie musste sich auf die Ermittlungen konzentrieren.
„Ich habe dir nichts zu sagen“, wiederholte Lotta.
„Ich denke, die Tote war eine Freundin von dir, willst du nicht wissen, wer sie umgebracht hat?“
„Ich habe dir nichts zu sagen!“
Mit eisigen Augen blickte Lotta über Nora hinweg, die beharrlich nachsetzte.
„Mensch, Lotta, denk doch an Mone. Meinst du nicht, sie würde wollen, dass du mit uns zusammenarbeitest? Uns hilfst, ihren Mörder zu finden?“
Als Nora den Spitznamen Mone aussprach, senkte Lotta ihren Kopf und kämpfte erneut mit den aufkommenden Tränen. „Woher weißt du, dass ich sie Mone nannte?“
Nora antwortete nicht und zuckte mit den Schultern. Sie wusste es nicht sicher, aber sie hatte das Feuerzeug an der Leiche mit dem Aufdruck Mone gefunden und es vermutet.
Über Lottas Gesicht rann eine Träne, und ihre Augen bekamen einen samtigen Ausdruck. Dann begriff Nora.
„Ihr wart ein Paar!“, stieß sie aus.