Maike Rockel

Das Konzerthaus


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      Ihre Stimme kippte leicht, und es war still. Gefasst sprach sie weiter. „Ich habe schon seit ewiger Zeit keinen Kontakt mehr zu meiner Schwester Lotta.“

      Während Nora im Vertrauen von ihrer Beziehung zu Lotta erzählte, nahm Siebert sein Handy und sah im Display, dass der Empfänger seine Nachricht bereits gelesen hatte. Horst Röpke antwortete:

      OK. Kümmere mich.

      „Irgendwie hatte ich mich damit abgefunden“, sprach Nora weiter, und ihre Stimme begann sich zu überschlagen. „Und nun finde ich sie auf diese Weise wieder. Das ist Fügung. Ich werde sie anrufen und fragen, wie es ihr geht, was sie macht und … “

      Nora freute sich zwar über ihre wiedergefundene Schwester, fühlte sich aber zugleich unbehaglich. Wie würde Lotta auf ihre Begegnung reagieren?

      Jäh fiel ihr ein, dass die Vermisstensache eilig war, und sie beendete das Telefonat.

      „Max, ich melde mich bei dir, ich muss jetzt auflegen und Lotta und die vermisste Frau suchen, pfiat di.“

      Nora stürmte aus ihrem Büro und suchte einen ihrer Kollegen im Nachbarzimmer auf, bei dem sie sich erkundigte, welcher Ermittlungsrichter für Vermisstensachen zuständig sei.

      „Geht nach Anfangsbuchstabe“, erläuterte Kriminal­oberkommissar Pieter Struck, auf dessen Schreibtisch einige Polizei-Playmobilfiguren aufgereiht waren und der selbst ein wenig skurril wirkte. Ganz am Rand der Sammlung stand ein Pastor mit weißem Kragen, langem schwarzen Gewand und einem goldfarbenen Kelch mit einem Kreuz. Pieter Strucks größter Stolz war allerdings eine GSG-9-Figur, Elite Force BBI, deren Hand etwas dynamischer wirkte als die sonst üblichen halb runden starren Sichelhände. Nora betrachtete den Pastor und nahm sich vor, ihren Kollegen bei Gelegenheit zu fragen, ob er gläubig sei oder der Pastor es nur wegen seiner Sammelleidenschaft in die Ruhmeshalle der Plastikfiguren geschafft hatte.

      „Hey, Pieter, könntest du mir helfen, habe das bisher noch nicht gemacht.“

      Gleichzeitig griff sich Nora eine Polizeifigur mit khakifarbener Hose und strich mit ihrem Daumen über die grüne Plastikjacke mit den aufgemalten Taschen. Die Hände erinnerten sie an die Ersatzhand von Käpt’n Hook, nur eben ohne Haken. Während Nora den kleinen, ergrauten Polizisten mit der Prinz-Eisenherz-Frisur und dem grauen Schnurrbart betrachtete, fiel ihr auf, dass Pieter Struck viel Ähnlichkeit mit dem älteren Herrn aus Plastik hatte.

      Freundlich schaute er Nora durch seine silberfarbene Brille an. „Frag den Richter, was er an Infos benötigt, Telefonnummer findest du im Outlook.“

      ***

      Das Klingeln des Telefons riss Ermittlungsrichter Markus Hirsch aus seinem Aktenstudium.

      „Hirsch“, hörte Nora am anderen Ende der Leitung.

      „Guten Tag, Herr Hirsch, Nora Kardinal, vom LKA 41. Wir haben eine vermisste Person, und ich benötige eine Handyortung für sie. Die Sache ist wirklich sehr eilbedürftig, da die Person schon seit Sonntagabend vermisst wird und die Akkukapazität des angeschalteten Handys sich immer weiter verringert!“, erläuterte Nora ihr Anliegen und beantwortete noch einige seiner Fragen, bis sie ihn endlich sagen hörte: „Ich benötige einen schriftlichen Antrag mit Begründung. Wann können Sie den faxen?“

      „In einer halben Stunde haben Sie alles, vielen Dank“, beendete Nora das Telefonat.

      Eine Stunde später hatte sie die richterliche Anordnung und ließ über die Technische Abteilung des LKA mittels einer sogenannten „Stillen SMS“ oder „Stealth Ping“ das Handy der Vermissten orten.

      Es klingelte, und während Nora den Telefonhörer aufnahm, setzte sie sich seitlich auf den Tisch. Pieter Struck beobachtete ihr Mienenspiel, während sie zuhörte. Nachdem sie aufgelegt hatte, sprang sie auf und ging zu ihrem Bürostuhl. „Hey, wir haben Glück. Wir haben ein Signal, obwohl das Handy schon seit Sonntagabend durchgehend in Betrieb ist“, rief sie ihrem Kollegen über die gegeneinander aufgestellten Schreibtische zu.

      „Zuletzt hat es sich in der Funkzelle in der Borsigstraße eingeloggt.“

      „Dort ist eine Müllverbrennungsanlage“, bemerkte Pieter, der dort vor Kurzem einen Einsatz gehabt hatte und sich nur zu gut an den Straßennamen erinnern konnte, da seine Lieblingslehrerin in der Grundschule Borsig hieß. Wenn man es genau nahm, war er als kleiner Bub in seine hübsche, junge Lehrerin verliebt, aber das war eine andere Geschichte.

      „Okay, worauf warten wir?“

      „Muss noch mein Butterbrot aufessen“, entgegnete Pieter kauend.

      „Häh?“

      Missbilligend und ohne jedes Verständnis blickte Nora ihn an. Sie wollte gerade zu einem Vortrag über effiziente und schnelle Polizeiarbeit ansetzen, da kam ihr Pieter zuvor.

      „Mann, das war ein Spaß!“, stieß er belustigt, aber auch irritiert darüber aus, dass sie tatsächlich geglaubt hatte, er wolle jetzt weiteressen. Sie musste ihn eben noch besser kennenlernen. Er legte sein Brot zurück in die Tupperdose, wischte sich seine fettigen Hände an den Hosenbeinen ab und folgte Nora zum Parkplatz des Präsidiums.

      Während sie mit Blaulicht zum Zielort fuhren, klappte Nora den Laptop auf, um das Signal des Handys verfolgen zu können. Gleichzeitig rief sie bei der Müllverbrennungsanlage an, kündigte ihr Kommen an und ordnete gegenüber dem Leiter der Schicht an, die Arbeiten sofort einzustellen. Sie beschlich ein ungutes Gefühl. Würden sie dort nur ein weggeworfenes Handy finden oder mehr?

      „Fahr schneller“, herrschte sie Pieter an. Sie war noch sauer über seinen Spaß, den er sich mit ihr erlaubt und den sie nicht verstanden hatte.

      Als sie eilig das Werksgelände und den Müllbunker betraten, war Nora von dem Anblick, dem Lärm und vor allem dem Gestank der Müllverbrennungsanlage wie erschlagen. Sie standen in einer riesigen Halle, und die grauen Wände des tiefen Betonraums wirkten wie das Parkdeck der Imperialen Raumflotte „Millennium Falcon“ von „Star Wars“. Das Quietschen des Greifarms, der sich in den bunten Müll bohrte, riss Nora aus ihrer Starre. Aus der in dem Greifarm eingequetschten Müllmasse löste sich eine PET-Flasche und fiel in die Tiefe, während die Schaufel direkt auf den Verbrennungsofen zuhielt. Nora wurde übel. Nicht nur von dem beißenden Gestank, sondern auch von der Tatsache, dass die Schaufel sich genau an der Stelle in den Müllberg eingegraben hatte, an der ihr das Laptop ein Signal anzeigte. Sie fuhr den Schichtleiter an: „Maschinen aus, sofort! Sagen Sie mal, was genau verstehen Sie nicht, wenn ich Sie auffordere, die Arbeiten einzustellen?“ Nora bellte unbeherrscht in den Hörer und vergaß dabei den Lärm und den Gestank, der sich langsam in ihren Klamotten festsetzte.

      „Maschinen aus!“, wiederholte sie. „Wir suchen eine vermisste Person, und wir würden sie gerne finden, bevor ihr sie verbrennt“, schrie sie.

      Nora ließ weder den Greifarm noch den Signalpunkt des Handys auf ihrem Laptop aus den Augen, bis die Maschine nach Anweisung des Schichtleiters endlich stoppte und erlösende Stille einkehrte. Rasch organisierte sie sich eine Schaufel, suchte zusammen mit Pieter einen Einstieg in den Betonraum und grub an der durch das Signal vorgegebenen Stelle.

      „Worauf wartest du?“, herrschte sie Pieter an. „Besorge dir auch eine Schaufel und hilf mir beim Graben! Oder willst du bloß rumstehen und mir zuschauen? Zur Not müssen wir weitere Kollegen anfordern.“

      Plötzlich hörte Nora auf zu graben, denn ihr Spaten stieß dumpf auf etwas Großes. Sie räumte die oberste Schicht aus Tüten, Konserven und Flaschen beiseite und schaufelte etwas in der Größe eines erwachsenen Menschen frei, das in eine blaue Plastikfolie verpackt war. Nora erstarrte, denn ihre Vorahnung hatte sich bewahrheitet. In dieser Verpackung würde nicht nur das Handy der Vermissten gefunden werden. Als sie das Ende der Plastikmumie anfasste, erfühlte sie durch das knisternde Plastik ein Paar feste Schuhe. Sie öffnete das Paket vorsichtig am anderen Ende, um sich zu vergewissern, ob sie das gefunden hatten, was sie vermuteten. Verwundert musste sie jedoch feststellen, dass sie keine weibliche, sondern eine männliche Leiche mit einem Kopfschuss entdeckt hatten.

      „Ich informiere