passgenau beim Gegenüber platziert. Das Thema scheint bis zur Erschöpfung und bis in die letzten Winkel ausgeleuchtet, viele winken gelangweilt ab, sobald es zum Gesprächsinhalt wird (»Wissen wir alles …«, »Schon hundertmal gehört …«, »Lernen die doch heute schon im Kindergarten …«), und dennoch finde ich folgenden Umstand auffällig: Wir sind sofort zur Stelle, wenn es Negatives rückzumelden gibt, Positives hingegen ruft kaum oder zumindest deutlich weniger Reaktionsbedarf bei uns hervor. Was ist passiert, dass wir auf »richtig« kaum reagieren, während wir bei »falsch« sofort in Gang kommen? Haben wir verlernt, das Richtige, das Positive, das Gute zu sehen oder konnten wir es noch nie, weil wir es nicht vermittelt bekamen und ab einem bestimmten Punkt unseres Lebens auf das Falsche, das Negative, das Schlechte geprägt wurden?
Die 14 unter den Top Drei sind kein Thema bei den regelmäßigen Vorstandssitzungen und werden von den Anwesenden bei der Präsentation regungs- und kommentarlos zur Kenntnis genommen – dafür wird von den Sitzungsteilnehmern ausführlich und ausgedehnt zu analysieren versucht, weshalb es »bei dieser einen Kennzahl wieder einmal nicht für ganz oben gereicht hat«.
Ist das nicht völlig bizarr? Über »diese eine Kennzahl« wird oft stundenlang diskutiert, das Lob und die Anerkennung für die herausragende Leistung, bei 14 aus insgesamt 15 Kennzahlen unter den drei Besten zu sein, werden meinem Coachee verwehrt und er verlässt – wenig überraschend – jede Vorstandssitzung mit dem Gefühl der Demotivation und Frustration.
Hand aufs Herz. Dachten Sie beim Lesen obiger Zeilen über meinen Coachee auch gerade, dass das Verhalten des Vorstands völlig normal ist und es doch vorrangige Aufgabe des obersten Gremiums eines Unternehmens sein muss, sich auf das zu konzentrieren, was nicht so gut läuft und was optimiert werden muss? Meine jahrzehntelange berufliche Praxis und meine mehr als tausend Stunden mit Coachees jeglicher Hierarchiestufen in unterschiedlichsten Branchen haben mir gezeigt, dass Sie mit dieser Ansicht in bester Gesellschaft wären.
Warum denken die meisten von uns so? – Weil wir es nicht anders lernen, und zwar von Kindesbeinen an. Selbst wenn Eltern oder Erziehungsberechtigte ihren Kindern ein wertschätzendes und auf das Positive fokussierte Miteinander vorleben, treffen unsere Kinder (und natürlich auch wir selbst) außerhalb der Familie in der Realität auf ein System, in dem spätestens ab der Volksschule nicht das Richtige und das Positive zählen, sondern mit einem großen Überhang das Falsche und das Negative im Mittelpunkt des Interesses stehen.
Bei Kleinstkindern ist aus Prinzip noch alles richtig und großartig. Selbst für ein »Stinkerl« in die Windel oder den Topf kassieren unsere Kleinen frenetischen Applaus. Zeichnet ein Kind einen Tausendfüßler, schenkt dem Vater das Bild und sagt: »Schau Papa, ich habe ein Pferd für dich gezeichnet!«, wird der begeistert antworten: »Wow! Ein tolles Pferd hast du da gezeichnet!« Oder kennen Sie tatsächlich jemanden, der zum Kind sagen würde: »Das ist doch kein Pferd, das ist im besten Fall eine Raupe oder ein Tausendfüßler, aber eigentlich kenne ich überhaupt kein Tier, das so aussieht wie das auf deiner Zeichnung!«? Egal, was unsere Kleinsten sagen oder tun – wir finden immer etwas Positives oder etwas, das es zu loben gilt. Wir übertreiben es geradezu mit unserer positiven Bestärkung. Dass zu viel Lob, manipulatives oder pauschalierendes Lob mehr schadet als nützt, ist durch Studien untermauert. Doch darauf möchte ich an dieser Stelle nicht das Augenmerk richten, sondern auf die Tatsache, dass es uns bei unseren Kleinsten mühelos gelingt, an wirklich allem etwas Gutes zu sehen – und wenn sich das Positive nicht sofort und freiwillig offenbart, geben wir uns wie selbstverständlich ein wenig Mühe, und schon finden wir etwas Gutes, etwas Positives, etwas Herausragendes.
Irgendwann jedoch dreht sich der Wind. Ab der Vor- und Volksschule sind wir plötzlich Bewertungen ausgesetzt und lernen sehr, sehr schnell, dass das Negative, das, was wir falsch machen oder nicht so gut können wie andere, sehr viel mehr Gewicht hat als die positiven Dinge und das, was wir richtig machen. Ab dem Zeitpunkt, wo die Bewertung in unser Leben tritt, dreht sich das uneingeschränkte und bedingungslose Positivdenken und Positivbewerten ins Gegenteil. »Jetzt beginnt der Ernst des Lebens«, lautet der Unheil verkündende und mit einem Schluss-mit-lustig-Unterton ausgestattete Satz, den die meisten von uns irgendwann zu hören bekamen oder womöglich selbst gesagt haben. Der Ernst des Lebens also. Das bedeutet im Grunde nichts anderes, als dass es vorher lustig war und ab sofort wird es nicht mehr lustig sein, sondern eben ernst. Da kommt Freude auf, nicht wahr? Unsere Kinder werden unvermittelt und weitgehend unvorbereitet in eine Umwelt katapultiert, in der nicht mehr alle gleichermaßen fabelhaft und genial sind, sondern in der in »richtig« oder »falsch« eingeteilt wird. In positiv oder negativ. In gut, weniger gut oder schlecht. Was falsch ist, wird kräftig rot markiert – für das Richtige gibt es keine Farbe. Die Kinder erkennen, dass es einen Unterschied macht und dass es eine Bedeutung hat, in welche Kategorie – richtig oder falsch – man fällt und dass plötzlich nicht mehr alles brillant und fantastisch ist, was sie sagen oder tun. Richtig und falsch lassen sich nicht einmal mehr eindeutig auseinanderhalten, denn was vorher toll war, ist plötzlich verkehrt: »Ein Pferd hat vier Beine. Das kann also kein Pferd sein, was du hier gezeichnet hast!«, heißt es plötzlich in der Schule. Das Leben bekommt einen ernsten Unterton, wenn sich die Bewertung in unserem Leben breitmacht. Damit nicht genug – es wird auch noch verwirrend. Wir lernen, was richtig ist und was falsch, aber das scheint nicht immer eindeutig zu sein. Die Bewertung ist nämlich keine fixe Größe, sie unterliegt neben ein paar harten und weitgehend unbestechlichen Kriterien (Punkteanzahl, Grammatik, Rechenergebnis und so weiter) ein paar sehr variablen Parametern (Belieben, Ermessen, Geschmack, Laune, Zufall, um nur ein paar zu nennen). An der Bewertung klebt also ein gehöriges Maß an Willkür und Schwankungsbreite, und diese Unstetigkeit nimmt im Lauf unseres Lebens Fahrt auf. Sind es anfangs noch die Kleinigkeiten (»Wie viele Beine hat ein Pferd?«), kommen recht schnell gewichtigere Dinge hinzu (»Bin ich richtig angezogen?«, »Werde ich den gesellschaftlichen Codes gerecht?«). Im Mittelpunkt unseres Interesses steht das Dazugehören, denn wir können nicht auf unser Umfeld verzichten, es nicht abschütteln, und damit liegt der Fokus automatisch auf den Fehlern, die es dafür auszumerzen gilt. Das Positive, das lernen wir früh und schnell, ist eine Selbstverständlichkeit und nichts, das es hervorzuheben gilt – ganz nach dem Motto: »Nicht geschimpft ist schon gelobt genug!«
Zappen Sie einmal in Gedanken durch die Fernsehkanäle. Die erfolgreichsten Unterhaltungsshows spiegeln das perfekt wider. Was wir zu sehen bekommen, ist das Gegenteil von Wertschätzung und Anerkennung: nämlich Herabwürdigung, Demütigung, Bloßstellung. Wir lassen uns von Mobbingsituationen berieseln und sehen zu, wie Kandidaten vor einem Millionenpublikum verlacht werden. Wir sehen zu, wie sich Menschen weit jenseits ihres beruflichen Zenits in Container oder in den Regenwald sperren lassen und sich der endgültigen Demontage jeglichen Ansehens und Respekts aussetzen. Ist es Ihnen schon einmal aufgefallen? Kurz bevor es den Kandidaten reicht (»Ich bin raus«, »Es ist Zeit für mich zu gehen«) oder es den Zusehern sogar daheim in den sicheren vier Wänden zu viel zu werden droht, kommen von den Juroren oder vom Publikum Lob oder Wertschätzung (»Du hast mich heute positiv überrascht«, »Du warst heute für mich die Beste«, »Du hast die meisten Anrufe bekommen«, »Du hast die meisten Likes erhalten«) – und die Show geht weiter.
Ab dem Moment, wo wir zur Schule gehen, wird mit Rot markiert, was falsch ist. Für das Positive gibt es keine farbliche Entsprechung. Was richtig und gut gemacht wurde, bleibt unbeachtet – wie die 14 Top Drei-Kennzahlen meines Coachees. Es ist die Farbe Rot, der das Los zuteil wurde, jeweils mit Ausrufezeichen für »stopp«, »falsch« oder »Achtung« zu stehen. Ein rotes Kleid muss absolut perfekt sitzen, heißt es in eingeweihten Kreisen, denn es zieht alle Blicke auf sich. Das