diese Geschichte auch titelgebend.
Der Gedanke, die neun richtig geschriebenen Wörter grün zu markieren oder sie zumindest positiv zu kommentieren, ist der Lehrerin vermutlich gar nicht in den Sinn gekommen. Ich persönlich achte seit jenen Tagen rigoros drauf, nur in Blau zu schreiben, ausschließlich das Positive zu markieren und anzumerken und mein Umfeld mit diesem eher ungewöhnlichen Verhalten »anzustecken«. Sobald ich sehe, dass jemand mit Rot schreibt oder etwas rot markiert, spreche ich ihn darauf an und weise darauf hin, dass er sich mit der roten Farbe seitenweise selbst darauf hinweist, etwas falsch gemacht zu haben, etwas korrigieren, etwas besser machen zu müssen. Ich darf Ihnen sagen, dass wirklich jeder sofort versteht, was ich damit meine. Denn die meisten haben gelernt, dass es im Leben darum geht, möglichst wenige Fehler zu machen, und dieses Verständnis wird früh gefördert, indem Fehler traditionell in Rot markiert werden. Auf ihnen liegt das Augenmerk – nicht auf dem, was richtig gemacht wurde.
Ich habe die Schulergebnisse meines Sohnes mit meiner Orientierung an der Klassenbesten unabsichtlich abgewertet und dem Positiven, dem Richtigen weniger Beachtung geschenkt als den rot markierten Stellen. Jahrzehnte später ist mir während des Telefonats mit meinem Sohn ein weiteres Mal intensiv ins Bewusstsein gerückt worden, wie konsequent wir alle darauf achten, was vermeintlich nicht passt und welche Spuren diese Prägung hinterlassen kann.
Ich erzähle die Geschichte von Ariane häufig in meinen Vorträgen und bitte zum Schluss das Publikum, die Hand zu heben – Sie sind jetzt eingeladen, mitzumachen! – , wer ebenfalls eine Ariane kennt. Und ich kann Ihnen sagen: Jeder kennt eine Ariane – auch wenn sie Emma oder Maximilian heißt!
Woher kommt unser Fokus auf das Negative?
WEIL WIR ES VON KLEIN AUF GELERNT HABEN
Wie soll ein Volksschulkind auf die Idee kommen, sich über neun richtig geschriebene Wörter zu freuen, wenn ihm nur das eine falsche, das rot markierte Wort in die Augen springt? Anstatt neunmal die Farbe Grün zu benutzen, setzt die Lehrerin einmal Rot ein – und eine »Strafaufgabe« gibt es obendrein (denn wie soll ein Volksschüler das als »Vertiefungsübung« sehen können?). Auch wenn in den vergangenen Jahren viel darüber diskutiert und geschrieben wurde, dass wir uns darauf konzentrieren sollten, die Talente unserer Kinder zu fördern, und nicht ausschließlich auf die Schwächen zu blicken, hat sich in der gelebten Praxis dahingehend nicht sehr viel bewegt. Von klein auf werden wir durch das rote Kennzeichnen darauf hingewiesen, was falsch ist. Das Augenmerk liegt auf jenen Aspekten, die es zu korrigieren und zu verbessern gilt – nicht auf Stärken und auf Talenten. Wir haben gelernt, dass es im Leben darum geht, das Negative auszumerzen, besser werden zu müssen und so wenige Fehler wie möglich zu machen. Der Preis, den wir dafür bezahlt haben, ist der, dass wir für die positiven Dinge keinen Blick und kein Sensorium mehr haben. Wir kennen es nicht anders, wir sind daran gewöhnt: Gewohnheiten sind vergleichbar mit ausgetretenen Wegen in einem großen Garten – wir nehmen den bereits bekannten, sichtbaren Weg und nicht zuallererst den unbekannten durch dichtes Gestrüpp.
Unser Gehirn ist evolutionsbedingt darauf ausgerichtet, uns vor Gefahren zu schützen. Das bedeutet, dass wir sehr achtsam für Negatives in unserem Leben sind und sehr schnell auf gefährliche Situationen reagieren. Das ist zunächst einmal nicht schlimm, sondern sichert unser Überleben.
Wenn Sie mit Ihrer Hand eine heiße Herdplatte berühren, ziehen Sie Ihre Hand automatisch zurück. Sinnes- und Nervenzellen nehmen den Schmerz wahr und leiten ihn weiter, wir empfinden Schmerz, und aus unserer Empfindung »heiß!« wird die Reaktion »Hand wegziehen!«. Synapsen – vom griechischen Wort synapsis (Verbindung) abgeleitet – sind die Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen, zwischen Nerven- und Sinneszellen oder zwischen Nervenzellen und Muskelfasern, und diese Verbindungen brauchen wir, damit solche wichtigen Informationen wie in obigem Fall schnellstmöglich übertragen werden und Informationen sowie Impulse weitergeleitet werden, um beispielsweise »heiß!« augenblicklich zu erkennen und die Hand mithilfe der Muskelfasern auf der Stelle wegziehen zu können.
Verhaltensmuster setzen sich durch ihre permanente Wiederholung fest und hinterlassen an diesen Stellen verdickte Synapsenstränge. Unter Druck oder in Stresssituationen reagieren diese Stellen durch ihre stärkere Ausformung schneller als die anderen, die weniger benutzten, und so wiederholen wir uns in diesem gelernten Verhalten – wir benutzen den bequemeren, bekannten, fein ausgetretenen Weg durch den Garten.
Unsere persönliche Wertewelt wird von tief in uns eingeprägten Parametern gesteuert: von unserem Umgang mit richtig oder falsch, von dem Stellenwert, dem wir positiv oder negativ beimessen und von unserer Gewichtung von »Grün« und »Rot«. Je nachdem, welchen Rang richtig und falsch in unserer Kindheit hatten und welche Reaktionen und Verhaltensweisen uns von unseren Bezugspersonen und unserem Umfeld von klein auf vorgelebt wurden – die Summe unserer Erfahrungen ist das Fundament für unsere eigene Priorisierung von gut oder schlecht, richtig oder falsch, »Grün« oder »Rot«.
DER SOZIALE VERGLEICH PRÄGT UNSERE VERHALTENSMUSTER
Viele unserer Verhaltensmuster sind durch Erwartungshaltungen geprägt. Wir verhalten uns schon von Kindheit an so, wie wir denken, es könnte den Bezugspersonen gefallen – sei es der Mutter, dem Vater, der Kindergärtnerin oder dem Handarbeitslehrer. Der soziale Vergleich spielt dabei eine immens große Rolle.
Bei der Erstkommunion sind viele Eltern darauf erpicht, dass ihr Kind das hübscheste ist – welches der Kinder sich bei der Erstkommunionvorbereitung am interessiertesten und präsentesten hervorgetan hat, ist den meisten Eltern weniger wichtig, es gibt so viele andere, nach außen gerichtete Dinge zu organisieren und vorzubereiten. Die Hochsteckfrisuren vieler Erstkommunionmädchen lassen manche erwachsene Braut erblassen – eine außergegenständliche Wertung dominiert das Geschehen, eine optische nämlich, und es geht maximal am Rande um ein gemeinsames Erleben dieser schönen und bedeutsamen Feier. Schon während Firmungen und Erstkommunionfeiern wird unter den Eltern hinter vorgehaltener Hand über jene gesprochen, die »ein ausgeborgtes Kleid« und »keine ordentliche Frisur« haben. Sei hübsch, sei perfekt, sei brav, bringe keine Flecken an das teure Outfit und mache keine Fehler beim Vorlesen in der Kirche – das ist es, was die meisten Kinder aus diesen Events mitnehmen (neben ein paar Geschenken und später hoffentlich dem angenehmen Gefühl, dass alles fehlerlos über die Bühne gegangen ist).
Der Sportlehrer sagt zum jüngeren Bruder: »Die Sportsachen zu Hause vergessen … das hätte es bei deinem älteren Bruder nicht gegeben!« Er sagt nicht: »Schön, dich in meiner Klasse zu haben – dieses Jahr haben wir endlich einen Fußballer in der Mannschaft, mit dem wir die Fußballmeisterschaft der Schule gewinnen können.« Er sagt auch nicht: »Dein Bruder konnte nicht Fußball spielen, schön dass wir jetzt dich in der Klasse haben – und bitte vergiss die Sportsachen nicht mehr, damit du immer mitmachen kannst!« Nein, er sagt: »Die Sportsachen zu Hause vergessen … das hätte es bei deinem älteren Bruder nicht gegeben!« – Anstatt auf Motivation setzt er auf eine herabwürdigende, fehleraufzeigende und damit sehr effiziente Methode, um den jüngeren Bruder