Kompliment an ein Gegenüber wird in den meisten Fällen mit einem abschwächenden, relativierenden Hinweis quittiert. Wenn Sie zum Beispiel zu jemandem sagen: »Das haben Sie echt gut gemacht, Herr Kollege!«, dann hören Sie: »Aber nein, das ist doch mein Job!« Wenn Sie zu einer Frau sagen: »Du siehst toll aus heute!«, hören Sie: »Nicht doch, ich bin überhaupt nicht geschminkt!« Wenn Sie sagen: »Das Kleid steht dir ausgezeichnet!«, hören Sie: »Rot, ich weiß, sehr gewagt …« Wenn Sie zu jemandem sagen: »Ich bedanke mich, dass Sie das für mich gemacht haben!«, hören Sie: »Das ist doch nicht der Rede wert!« Wenn Sie zu einem Mann sagen: »Wunderschöner Wagen!«, hören Sie: »Unvernünftig viele PS, ich weiß …« Ich gehöre noch zu jenen Menschen der alten Schule, die anderen gern ein Kompliment machen: »Gut siehst du aus!«, »Tolles Kleid – steht dir hervorragend!« oder »Super gemacht! Ich bin beeindruckt!«, »Tolle Vorgangsweise, Kompliment!«, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Nur äußerst selten ist die Reaktion ein »Vielen Dank, das freut mich sehr!« Viel öfter hingegen kommt Folgendes: »Aber nein, ich muss doch dringend zum Friseur!«, »Das Kleid ist doch ein uraltes Ding!«, »Ohne die Unterstützung der Kollegen hätte ich das nicht geschafft!« und so weiter. Die Aufzählung ließe sich nahezu endlos weiterführen.
Wir sind dermaßen auf Negatives konditioniert, dass wir das Positive überhaupt nicht mehr sehen – nicht bei uns und nicht bei anderen. Wir sehen das Negative zuerst – die Signalfarbe Rot, das personifizierte Falsch. Unsere Antennen für das Negative sind so fein justiert, dass wir etwas orten, wo es nichts zu orten gibt, und das geht so weit, dass wir (vermeintlich) Negatives sofort auf uns beziehen. Wenn Sie, einmal angenommen, zu Ihrem Gegenüber sagen: »Es war ein anstrengender Tag heute, aber das gemeinsame Abendessen macht das mehr als wett, danke, dass du mich überredet hast, noch ein wenig auszugehen!«, hören Sie nicht selten etwas wie: »Wir hätten zu Hause essen sollen, das wäre entspannter für dich gewesen!« Wenn Sie sich bei Ihrem Reisebüro für die unkomplizierte Umbuchung Ihres Fluges bedanken, hören Sie vielleicht etwas wie: »Es tut mir leid, dass wir unter den gegebenen Umständen nicht den gesamten Rechnungsbetrag erstatten konnten!«
Achten Sie darauf! Wenn zu Ihnen jemand sagt: »Vielen Dank für die Unterstützung!«, und Sie darauf antworten: »Mehr konnte ich leider nicht für Sie tun!«, stellen Sie sich bitte die Frage, wie Ihre abschwächende Antwort bei Ihrem Gegenüber ankommt! Sie wirkt entwertend und Ihr Gegenüber hat im schlimmsten Fall das Gefühl, Sie hätten ihm das Wort im Mund umgedreht.
Während der Text für dieses Buch entsteht, ist die Welt von einer Pandemie betroffen. Viele Länder haben Ausgangsbeschränkungen erlassen, manche Regionen befinden sich quarantänebedingt in der totalen Isolation, der weltweite Flugbetrieb ist fast gänzlich zum Erliegen gekommen. Kindergärten, Schulen, Restaurants und Geschäfte sind geschlossen, viele verlieren ihre Arbeitsplätze oder befinden sich in der Kurzarbeit. Die Menschen verfolgen während dieses »Notbetriebs« gebannt die diesbezügliche Berichterstattung. Und auch hier fällt mir auf, dass sich diese vorwiegend auf das Verheerende, Apokalyptische und das Angsteinflößende der Pandemie konzentriert.
Meldungen über Todes- und Infektionsraten, explodierende Arbeitslosenzahlen und gesundheitliche Auswirkungen der Lockdowns auf Körper und Psyche der Menschen dominieren die Nachrichten. Weshalb wird uns nicht – im Sinne einer ausgewogenen Gewichtung – auch das Positive, Ermutigende, Motivierende präsentiert? Denn das gibt es! Es gibt Länder, in denen greifen die dort getroffenen Maßnahmen, und diese Tatsache würde den Menschen Mut machen und die Einschränkungen würden etwas erträglicher erscheinen. Wir orientieren uns jedoch an jenen Ländern, in denen es aktuell am schlimmsten ist, und nicht an jenen, in denen sich die Entwicklung klar positiv darstellt. Hören wir in Ausnahmefällen doch einmal positive Meldungen zur Pandemie, kommen diese zumeist verknüpft mit einer Warnung und einem Dämpfer des Weges: Wir dürften uns nicht zur Unvorsichtigkeit verleiten lassen, heißt es dann, oder: Die kulturellen Gegebenheiten, Einwohnerzahlen, klimatische oder sonstige Bedingungen ließen sich überhaupt nicht vergleichen mit den unseren, und so weiter. Jeder positiven Meldung wird mit einem negativen oder abschwächenden Beisatz ihre positive und ermutigende Wirkung genommen.
Egal, um welchen Lebensbereich es sich handelt, ich stelle immer wieder fest, wie sehr wir auf das Negative konditioniert sind.
In ihrer Sendereihe Liebesg’schichten und Heiratssachen lud die mittlerweile verstorbene Journalistin Elisabeth T. Spira Menschen zur Partnersuche vor der Kamera. Die Kandidaten präsentierten sich in ihrem privaten Umfeld und zeigten sich im Interview sehr ehrlich und offen mit ihren Schwächen und Eigenheiten – dank Elisabeth T. Spiras Feingefühl für das richtige Setting und die richtigen Fragen gab es keine Bloßstellung, nur ungefilterte Ehrlichkeit. Das machte auch den großen Erfolg ihrer Sendungen aus. Wenn die Teilnehmer danach gefragt wurden, wie der gesuchte perfekte Mensch an ihrer Seite denn sein solle, passierte regelmäßig etwas Spannendes: Die Kandidaten hatten enorme Mühe, die schönen Eigenschaften des potenziellen Partners (wer sucht schon einen Partner mit negativen Attributen?) in Worte zu fassen. Wie er nicht sein soll, was er nicht darf, was er nicht erwarten darf – das wussten alle genau, da sprudelten die Sätze nur so aus ihnen heraus, häufig verbunden mit Geschichten über negative Erfahrungen mit Partnern in der Vergangenheit. Das Negative können wir sofort abrufen. Das Positive – und letztlich vorrangig Wichtige insbesondere in einer erfüllenden Partnerschaft – zu benennen, gestaltete sich in den Beiträgen deutlich sperriger. Die Kandidaten rangen nach den passenden Formulierungen, so, als würden sie etwas Unerhörtes einfordern, etwas, das ihnen nicht zusteht, sie nicht kennen oder in Worte fassen können. Dasselbe Stocken ist wahrzunehmen, wenn es darum ging, den Sehern zu vermitteln, was sie selbst an Gutem und Schönem in eine Partnerschaft einbringen würden – das Positive abzurufen und hervorzuheben, fällt den meisten von uns unendlich schwer.
Wenn ich meine Kunden am Beginn von Meetings oder beim Start eines Coaching-Prozesses frage, was denn bei den Gesprächen oder beim Coaching das ideale Endresultat sein und wie die Situation nach Beendigung unserer Zusammenarbeit aussehen sollte, herrscht zumeist ratlose Stille, und angestrengtes Nachdenken folgt. Wenn ich aber frage, was auf keinen Fall passieren beziehungsweise was nicht das Resultat unserer Zusammenarbeit sein dürfe, dann geht es Schlag auf Schlag.
Frage ich in Mediationen oder Coachings, was mein Kunde an seinem Partner, seinem Mitarbeiter oder seiner Führungskraft besonders schätzt, zeigt sich mir das gleiche Bild: intensives Nachdenken und im besten Fall ein paar mühsam herausgepresste Floskeln. »Er ist eigentlich ganz nett«, »Ich kann mich immer melden, wenn ich etwas brauche«, »Er ist immer pünktlich und korrekt«. Wenn ich danach frage, was mein Kunde an seiner Führungskraft weniger schätzt, ist die Schlagzahl bei den Antworten eine um vieles höhere. Völlig anders als das Positive scheint das Negative eine extrem ergiebige Quelle. Es ist für mich jedes Mal aufs Neue erstaunlich, wie stark sich besonders in solchen Momenten unsere intensive Prägung auf das Negative offenbart.
Egal ob Führungskräfte, Mitarbeiter, Großeltern, Eltern, Lehrer, Erziehungsberechtigte oder Partnersuchende – wir sind auf das Negative, das Falsche gepolt. Selbst, wenn das Positive und das Richtige überwiegt – wir übersehen es und wissen nichts daraus zu machen, geschweige, uns darüber zu freuen. Ich möchte Ihren Blick dafür schärfen, was dieses Mangeldenken mit uns anstellt und Ihnen zeigen, wie viel Leichtigkeit in unser Leben kommt, wenn es uns gelingt, den imaginären Rotstift beiseitezulegen. Mein Wunsch ist es, Ihnen mit diesem Buch Denkanstöße für ein leichtfüßigeres und wertschätzenderes Miteinander zu liefern und Ihnen ein paar sofort umsetzbare Handlungsweisen und Werkzeuge in die Hand zu geben, deren Wirkung Sie verblüffen wird. Auf den folgenden Seiten finden sich viele Beispiele und Erzählungen aus meinem beruflichen wie auch privaten Alltag. Einige Geschichten sind darunter, die mich und meinen Umgang mit anderen nachhaltig geprägt haben. Beinahe täglich macht es mich demütig und dankbar zu sehen, wie auf meinen Input hin bereits eine leichte Kurskorrektur im Verhalten eine sofortige Verbesserung im Miteinander bewirkt, sei es in der Führungsarbeit, im Berufsleben, bei erzieherischen Fragen oder in der Partnerschaft. Mit Lob, Anerkennung und Wertschätzung – in diesen dreien findet das Positive seinen Ausdruck – haben wir völlig unterbewertete Instrumente in der Hand, die wir viel zu wenig nutzen, wenn es darum geht, uns gegenseitig zu motivieren. Sie stehen jedem von uns unbegrenzt zur Verfügung,