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Pragmatikerwerb und Kinderliteratur


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ungewöhnlichen Reimen und logischen Widersprüchen in hohem Maße markiert (Schuster 2017: 311f.). Markiertheit, so unsere These, tritt jedoch nicht nur in der Erwachsenenliteratur auf, sondern kann bereits in der Kinderliteratur nachgewiesen werden. Um dies zu illustrieren, konzentrieren wir uns auf einige ausgewählte Bilderbücher. Wir versuchen hierbei, den Begriff der Markiertheit über den Text hinaus auf Bilder und Bild-Text-Relationen auszuweiten.

      3 Fallstudien

      Im Folgenden betrachten wir einige Fälle von herausfordernden Bilderbüchern (engl. challenging picturebooks). Wie schon gesagt, versteht Evans (2015b: 5–6) unter ‚challenging picturebooks‘ solche Bilderbücher, die als „strange, unusual, controversial, disturbing, challenging, shocking, troubling, curious, demanding or philosophical“ beschrieben oder klassifiziert werden können. Diese Aufzählung von Adjektiven bezieht sich sowohl auf den Inhalt als auch die ästhetische Gestaltung der Bilderbücher. Allerdings gehen sie stark mit Wertungen einher, die mit Vorstellungen darüber, was unter einem ‚normalen‘ Bilderbuch zu verstehen ist, verbunden sind. Diese Bewertungsprozesse werden jedoch nicht reflektiert. Auch eine exakte Definition des Begriffs ‚challenging picturebook‘ wird nicht gegeben, so dass es unklar ist, wie man erkennen kann, ob ein bestimmtes Bilderbuch unter diese Kategorie fällt. Dies ist natürlich ein unbefriedigender Zustand.

      Wir möchten hier vorschlagen, dass herausfordernde Bilderbücher solche Bilderbücher sind, die Normalvorstellungen verletzen und daher markiert sind. Emotionale Reaktionen der Leserin oder des Lesers wie Verstörung, Schock, Verwirrung usw. können ein Effekt ihrer Markiertheit sein, müssen es aber nicht, da sie von dem jeweiligen kognitiven Zustand des Betrachters abhängen. Es ist sicherlich sinnvoll, die Kategorie Bilderbuch als eine prototypische Kategorie zu betrachten, die eine „logic of graded centrality“ (Herman 2008: 438) aufweist. Herausfordernde Bilderbücher weichen in einigen Hinsichten vom Prototyp ab. So sind klassische Bilderbücher wie Der Struwwelpeter (1845) von Heinrich Hoffmann in diesem Sinne sicherlich herausfordernde Bilderbücher,1 aber es ist auch möglich, wie Perry Nodelman (2015) treffsicher bemerkt, viele marktgängige Bilderbuch-Bestseller als herausfordernd zu betrachten, wenn man ihre zum Teil überraschenden Abweichungen von einem Prototypen in den Blick nimmt. Daraus folgt, dass das Phänomen der Markiertheit oder der Abweichung nicht notwendig an die Kategorie des herausfordernden Bilderbuches gebunden ist. Wie das Beispiel von Hoffmanns Struwwelpeter darüber hinaus zeigt, ist die Wahrnehmung von Markiertheit durchaus kontext- und zeitgebunden: Was zu einer bestimmten Zeit als markiert oder abweichend empfunden wurde, kann zu einer späteren Zeit als ‚normal‘ bzw. nicht-markiert eingestuft werden. Auch wenn es interessant wäre, die historische Dimension zu untersuchen, geht es uns primär um den Nachweis, dass es Phänomene der Markiertheit im Bilderbuch tatsächlich gibt. Da wir Bilderbücher als eine Folge von Text-Bild-Kombinationen2 verstehen, gehen wir im Folgenden auf Bilderbücher ein, die Markiertheit auf der Ebene des Texts, des Bilds, und der Text-Bild-Kombination aufweisen. Aus Platzgründen können wir nur eine exemplarische Darstellung leisten, auch wenn eine systematische Untersuchung durchaus wünschenswert wäre.

      3.1 Markiertheit auf der Textebene

      Texte können an verschiedenen Stellen und auf unterschiedliche Art und Weise markiert sein. Wir konzentrieren uns auf einige Beobachtungen zu Textanfängen, die einen wichtigen Teil des Gesamttexts darstellen. Textanfänge dienen in der Regel dazu, das Setting einer Erzählung einzuführen. Welche Figuren treten auf? An welchem Ort treten sie auf? Zu welcher Zeit geschieht das? Es handelt sich hierbei um grundlegende Informationen, um sich in einer Erzählung orientieren zu können. Folgender Satzanfang stammt aus dem Bilderbuch Die Insel (2002) von Armin Greder:

(5) Am Morgen fanden die Inselbewohner einen Mann am Strand, da wo Meeresströmung und Schicksal sein Floß hingeführt hatten. Er stand auf, als er sie kommen sah.
Er war nicht wie sie. (Armin Greder, Die Insel, 2002)

      Aus diesem Text erfahren die Leserinnen, dass der Text von den Inselbewohnern und einem Mann handelt; dass sie ihn am Morgen fanden und dass sie ihn am Strand fanden. Schon der erste Satz liefert diese relevanten Informationen.1

      Die folgenden Textanfänge sind im Vergleich markierter:

(6) Als mich ein Trödler in seinem Schaufenster ausstellte, wusste ich: „Otto, jetzt bist du alt.“ (Tomi Ungerer, Otto. Autobiographie eines Bären, 1999)
(7) Wenn Florentine vor dem Schlafengehen ihre Zähne putzen möchte, dann knurre ich: „Ich will nicht! Ich will nicht! Ich will nicht!“ Grrrrr, ich hasse Waschen und Zähneputzen. „Lass uns lieber noch im Bett einen Schokokeks essen“, flüstere ich ihr ins Ohr. Und weil Florentine nicht gern mit mir streitet, so legen wir uns ins Bett und essen einen Schokokeks. (Karoline Kehr, Schwi-Schwa-Schweinehund, 2001)

      In (6) gibt es durch den als-Satz und das Temporaladverb jetzt sowie die Präpositionalphrase in seinem Schaufenster eine zeitliche und räumliche Einordnung des Geschehens, ähnlich wie in (7), wo die Zeitangabe durch die Präpositionalphrase vor dem Schlafengehen erfolgt, und der Ort des Geschehens durch die Aktivitäten des Zähneputzens und Waschens als Badezimmer rekonstruiert werden kann.

      Die Ermittlung der Figuren, die eine Perspektive der 1. Person einnehmen, ist dagegen aufwändiger: In (6) gibt es eine koreferenzielle Beziehung zwischen mich, ich, Otto und du.2 Dem Teddybären Otto werden, wie aus der selbstadressierten direkten Rede hervorgeht, Fähigkeiten der Selbstreflexion zugeschrieben, die sich auf die Vergangenheit bzw. den Verlauf eines längeren Lebens beziehen. Diesem Satz kann der Leser also entnehmen, dass der Teddybär Otto auf sein Leben zurückblickt, so wie es altgewordene Menschen oft machen. In (7) spricht die Figur des Schweinehunds, der das Mädchen Florentine in ihrem Verhalten (Zähne putzen, sich waschen, einen Schokokeks essen) negativ beeinflusst. Allerdings wird diese Figur in der Anfangspassage nicht namentlich eingeführt, so dass unklar ist, wer sich hinter dem Ich-Erzähler verbirgt. Wörter wie knurren und Grrrr legen nahe, dass es sich um einen Hund handeln könnte, allerdings scheint die Fähigkeit zur menschlichen Sprache dieser Vermutung zu widersprechen.

      Als ein weiteres Beispiel betrachten wir (8):

(8) Kajak schreibt sich vorwärts und rückwärts gleich, sagt Anna. Rentner auch.
Genau wie Anna, fügt Papa hinzu. Aber jetzt musst du dich beeilen, sonst kommen wir zu spät.
Anna merkt, dass Papa unruhig ist, obwohl sie ihn nicht anschaut. Sie spürt es in der Luft, im Gras, in der Narbe am Knie, im Muttermal am Hals und in jedem einzelnen Haar auf ihrem Kopf. Anna weiß, dass Papa unruhig wird, wenn ihm vor etwas graut.
(Stian Hole, Annas Himmel, 2014 (norweg. EA 2013))

      Eine kindliche Leserin wird diesem Text entnehmen, dass es sich um eine Erzählung handelt, in denen die Figuren Anna und Papa eine Rolle spielen. Aber der Einstieg mit Annas Bemerkung zu den Palindromen ist markiert. Wenn der Papa repliziert, dass Anna ebenfalls ein Palindrom ist, ergibt sich nach Lektüre des ganzen Texts die interpretatorische, metaphernbasierte Hypothese, dass Anna zurückblicken, aber auch nach vorne schauen kann (während der Vater in Gefahr ist, nur zurückzublicken). Dass beide um die Frau und Mutter trauern, und der Gang zum Begräbnis vor ihnen liegt (“… sonst kommen wir zu spät [zu X]“), kann erst langsam im Textverlauf erschlossen werden.

      Markiert ist auch die Behauptung, dass Anna „in der Luft, im Gras, in der Narbe am Knie, im Muttermal am Hals und in jedem einzelnen Haar auf ihrem Kopf“ spüren kann, dass ihr Papa unruhig ist. Durch diese Formulierung werden Anna besondere Fähigkeiten