E. S. Schmidt

Welt der Schwerter


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Küchenjungen.

      Krolan – der erwachsene Krolan – brüllte wie ein verwundeter Ulphanbulle. Noch nie hatte Kira erlebt, dass er seine Stimme auf diese Weise erhob. Er wuchs in die Höhe, seine Gestalt streckte sich, bis er ein bedrohlicher, schwarzer Riese war, der seinen Rücken unter dem Giebel krümmte. Sein riesiges, fahles Gesicht brachte er ganz nahe an den Käfig heran. »Soll ich ihr den Rest auch zeigen?«

      Ein Baldachin wölbte sich über Kira. Der Mehlsack unter ihr war zum Bett geworden, auf dem sie mit angezogenen Beinen saß. Neben ihr, halb bedeckt von seidenen Laken, lag ein junger Mann. Sie erkannte ihn wieder. Eben noch hatte er Brokat getragen und gelacht. Nun war er nackt, reglos, und aus seinem rechten Auge ragte der Griff eines Dolches.

      Der entsetzte Schrei kam nicht von Kira, sondern von der Frau in dem Käfig. Die Bilder zerfielen, das Bett, die blutigen Laken, selbst der Tote. All das zerfloss wie Wasser, versickerte in den Spalten zwischen den Dielen und ließ Kira zurück in dem Giebelsaal mit Krolan und dem verhungerten Wesen, das wimmernd klagte.

      »Schweig!« Krolan schlug mit der Hand durch die Luft und die Gefangene schrie auf. Blut färbte den Leinenstoff auf ihrem Rücken, als lägen blutige Striemen darunter. Sie verstummte.

      Der Tote, das musste Krolans Bruder gewesen sein, der Kronprinz von Oneräa. Offenbar stimmten die Gerüchte nur halb. Krolan hatte seinen Bruder nicht getötet, um den Thron zu erlangen, sondern wegen einer Kränkung. Vermutlich nicht der einzigen. Hass zwischen Brüdern konnte endlos sein.

      »Jetzt zu dir.« Krolan wandte sich Kira zu. »Dein Geist hat sich ganz offenbar einem anderen zugewandt. Wo ist deine Dankbarkeit mir gegenüber? Wo ist deine Furcht?«

      Die Furcht war noch da. Definitiv. Um zu erwachen, lasst Euch rücklings fallen. Sie tat es.

      Doch sie fiel nicht. Stattdessen kippte der Raum, sodass sie die Bodendielen als Wand in ihrem Rücken hatte, auf denen sie jetzt nach unten schlitterte, bis ihre Füße auf Wandputz trafen. Krolan stand in einem unmöglichen Winkel über ihr und blickte spöttisch auf sie hinab. »Denkst du wirklich, du könntest mit den armseligen Hinweisen irgendeines Dorfmagus‘ gegen mich bestehen? Du kannst keinen Traum verlassen, der nicht der deine ist.«

      Wenn dies also nicht ihr Traum war, dann war sie auch nicht diejenige, die fallen musste. Noch immer stand Krolan waagrecht über ihr. Sie packte seine Fußgelenke und riss sie mit aller Kraft zu sich heran. Er stürzte, nein, sie stürzte, der Raum stürzte um sie herum, während Krolan in der Luft schwebte, der ruhende Pol, um den sich die Welt drehte. Die schwarze Kutte flatterte an seinen ausgebreiteten Armen wie ledrige Flügel.

      Als der Raum zur Ruhe gekommen war, lag Kira auf den Dielen, die nun wieder Boden waren. Um sie herum sprossen metallene Stangen empor, vereinigten sich über ihr wie Totenhände.

      »Nein!« Sie wollte die Stangen packen – doch sie konnte sich nicht regen. Ihre Arme und Beine waren weich und schwer, als gäbe es darin keine Knochen, keine Muskeln. Wie die Gliedmaßen einer mit Sand gefüllten Puppe.

      Wieder lachte er. »Ich habe dein Blut, hast du das vergessen? Damit bist du mir ausgeliefert, zumindest in dieser Welt.«

      Hilflos sah sie zu, wie er den Käfig an einer Kette in die Höhe zog, bis sie schwankend neben der abgemagerten Gestalt hing.

      »Du hast mich verraten. Aber was kann man von einer Frau schon anderes erwarten? Da ich dich dafür nicht pfählen kann, bleibt uns nur dies hier.«

      Er breitete die Arme aus und schwebte hinauf zu ihr, als erfasse ihn ein Wind von unten. Dann stand er vor dem Käfig, die leere Luft wie festen Grund unter seinen Füßen.

      »Du bist auf einem Kanal zu mir getrieben. Vermutlich bist du also in Bethelgard, und ich nehme an, der Zauderer ist bei dir.«

      Sie presste die Lippen aufeinander und schwieg.

      »Das hatte ich so nicht geplant, aber es ist ausreichend. Eine königliche Geisel ist mehr wert als ein abgetrennter Kopf, auch Trenkar weiß das.«

      Am liebsten hätte sie es ihm ins Gesicht gespuckt: General Trenkar hatte wie ein Straßenköter mit eingeklemmtem Schwanz das Weite gesucht, Bethelgard war sicher, weil ein besserer Mann seine Pläne durchkreuzt hatte. Aber sie schwieg. Nichts würde er von ihr erfahren.

      »Ihr könnt mich nicht ewig hier festhalten. Irgendwann werdet Ihr erwachen, und dann bin ich frei.«

      Er lächelte, und jetzt war seine Stimme wieder freundlich und sanft. »Du irrst schon wieder. Dies ist auch nicht mein Traum.« Er ließ den Blick schweifen, und wieder erklang das tiefe Stöhnen. Für einen Moment floss das Blut aus den Fugen der Wände noch üppiger. »Ich nutze ihn. Ich gestalte ihn. Aber der Wirbel, in dem ich diese Zuflucht errichtet habe, das ist der letzte Traum eines sterbenden Mannes, der seit fast einem Tag auf dem Pfahl sitzt.« Krolan wirkte sehr zufrieden, beinahe glücklich. »Niemand ist der Geisterwelt so nah wie ein Sterbender. Sein Traum wird nicht enden. Er wird aus dem Dämmerzustand des Sterbens hinübergleiten in jenes andere Reich, und weil er davor nicht mehr erwacht, wird er dich einfach mitnehmen.« Mit plötzlicher Wut wandte sich Krolan dem anderen Käfig zu. »Und du! Du solltest zu deiner Weibergöttin beten, dass ich dich gehen lasse, bevor das geschieht!« Damit schwebte er rücklings zur Wand hinüber, in der sich eine Tür öffnete, sich hinter ihm wieder schloss und mit der Wand verschmolz.

      Kaum war er fort, versuchte Kira erneut, sich zu befreien, doch ihre Arme und Beine waren noch immer taub und bewegungsunfähig. Nur den Kopf konnte sie drehen, doch das half ihr nicht weiter, auch nicht die sanfte Schwingung, in die ihre Versuche den Käfig brachten. Schließlich brüllte sie Wut und Enttäuschung in den leeren Saal hinaus.

      Dann fiel ihr Blick auf die Gestalt in dem anderen Käfig. »Du! Kannst du dich bewegen?«

      Jetzt erst hob die Frau den Kopf, mühsam, wie es schien. Das herabfallende Haar verbarg ihr Gesicht. Mit einer Stimme wie knisterndes Papier sagte sie: »Ich habe oft genug zu entkommen versucht, und ich habe andere gesehen. Viele. Keinem ist es gelungen.«

      »Du warst schon oft hier?«

      Eine Hand, die nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien, umfasste einen der Gitterstäbe. »Er lässt mich gehen, bevor der Gepfählte stirbt, und wenn der nächste Mann gepfählt wird, bringt er mich wieder her.«

      Wenn Krolan diese Frau immer wieder über Tage hier gefangen hielt, Tage, in denen ihr schlafender Körper keinerlei Nahrung zu sich nehmen konnte, dann war diese Gestalt vielleicht kein Traumgebilde. Dann war sie wirklich so abgemagert.

      Welch unbarmherzige Strafe! Was konnte diese Frau Krolan angetan haben?

      »Warum?«, fragte Kira. »Wer bist du?«

      Jetzt wandte die Frau Kira ihr Gesicht zu, das frappierend an den Totenschädel in Magus Inselms Stube erinnerte. Wieder ertönte das rhythmische Knarren, das Kira zuvor für das eines Bettes gehalten hatte. Mit ihrem langen, knochigen Finger wies die Frau nach unten. Ein Säugling lag in einer Wiege und weinte. Das Knarren war das Geräusch der Kufen, auf denen das Kinderbett hin und her schwang.

      Die Wiege war unnatürlich groß, und als Kira den schwarzhaarigen Jungen neben der Wiege sah, ahnte sie auch, warum. Dies war kein Saal. Es war bloß ein Zimmer. Doch der Raum war riesig in der Erinnerung des Kindes, das neben der Wiege stand. Krolans Erinnerung. In dieser Erinnerung legte Krolan Kissen in die Wiege, häufte sie auf den Säugling und dämpfte damit das klagende Weinen.

      »Sie soll weggehen«, sagte der Junge, und Kira stellten sich die Nackenhaare auf bei dem kindlichen Klang, in dem Krolans spätere Stimme bereits zu erkennen war. »Es soll wieder so sein wie früher.«

      Eine Tür öffnete sich. Eine Frau mit königlicher Haltung und eleganten Bewegungen trat ein. Eine schöne Frau, mit langem, schwarzem Haar, in kostbare Seide gehüllt. Als sie sah, was Krolan getan hatte, gellte ihr Schrei durch den Raum. Sie stürzte auf die Wiege zu, riss die Kissen heraus und hob das Kind hoch. Doch es war zu spät. Die Ärmchen hingen schlaff herab, die Augen, halb geöffnet, blickten ins Nichts. »Er hat sie umgebracht!«, schrie die Frau. »Er hat meinen kleinen Engel getötet! Er