Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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»strange loops«, wie man mit dem Kognitionswissenschaftler Douglas Hofstadter sagen könnte.23 Schon Heinrich von dem Türlin hebt hervor, wie schwer diese Dynamik für die Beteiligten zu verkraften ist: Ginover, die umkämpfte Dritte, treibt solche Unfähigkeit zur finalen Entscheidung schier zur Verzweiflung (V. 12272–12289). Offenkundig: Solche Zweikämpfe kennen kein Finale, sondern höchstens Erschöpfungszyklen. Sie verleihen dem einfach strukturierten Erzählmuster vom Kampf auf Sieg und Niederlage durch paradoxe Verschlingungen eine Dynamik, die von keiner Figur mehr kontrolliert werden kann. Auch über die Szenenregie des Erzählers wächst sie hinaus. Zwar lenkt die Handlung die Freund-Feinde Gasozein und Gawein an den Artushof zurück, doch weder kann der offene Konflikt um Ginover gelöst werden, noch überhaupt stillgelegt werden. Ein unlösbarer Zweikampf verkettet sich dadurch mit einer Romanhandlung, die auch in vielen anderen Episoden schleifenförmig erzählt. Nicht nur für Richterfiguren wie König Artus werden dadurch Auflösungen schwierig. Auch ihrem Rezipienten verweigern solche Strukturen eindeutige Antworten, wie Justin Vollmann gezeigt hat:24 Wo solche Schleifen beginnen oder enden, wird schwierig zu ermessen, wenn Handlungsketten auf immer neue Wettkämpfe verweisen.25 Ausgestellt wird eine »reine Form: mehr oder weniger geordnete Zusammenhänge, die auf nichts verweisen außer auf sich selbst.«26

      Die kooperierenden Feinde der Krone sind bekanntlich kein Sonderfall des spätmittelalterlichen Romans.27 Die nachfolgenden Analysen beleuchten, wie mittelalterliche Erzähltexte in verschiedensten Gattungs- und Diskurszusammenhängen paradoxe Kalküle des Wettkampfs gestalten, die vergleichbare Komplexitätsmuster hervortreiben. Aventiureromane entwickeln sie besonders häufig im Rahmen von Zweikämpfen. So führt etwa Hartmann von Aue den Gerichtskampf von Iwein und Gawein über mehrere Waffengänge und Pausen, die selbst dann noch fortwuchern, als der Gerichtskampf aus formaljuristischen Gründen bei Sonnenuntergang als entschieden gelten müsste:28 Tief im Herzen der Kämpfer aber treiben minne und haz unablässig Zuneigung und Aggression voran.29 Auch der Parzival Wolframs von Eschenbach verschränkt Aggression und Kooperation: vom Gruppenkampf der Artusritter gegen den tranceartig abwesenden Parzival über die Zweikämpfe Gawans auf dem Feld von Joflanze oder der unerkannten Brüder Parzival und Feirefiz bis zum alternierenden Wechsel umfangreicher Passagen, die bald Parzival, bald Gawan folgen.

      Aber auch heldenepische Texte entwickeln ihre Kampfbeziehungen in dieser Spannung. Gemeinsam pausieren im Waltharius die Kontrahenten Gunther, Hagen und Walther miteinander, trinken, bespotten und rühmen sich gegenseitig für Verstümmelungen und andere Heldenleistungen; nach einer langen Sequenz von Siegen und Niederlagen balanciert die Erzählung damit einen Zustand aus, der Sieg und Niederlage aufschiebt.30 Selbst wenn Heldenepen ihre Antagonisten holzschnittartig gegenüberstellen, führt sie die Erzählung von Dietrichs Flucht in eine »Endlosschleife« von Kämpfen, die weder Anfang noch Ende zu haben scheinen.31 Ihre Dynamik treibt im Rosengarten zu Worms eine Duellserie voran, die aufwändige Bindungen zwischen Helden herstellt und zugleich tiefgreifend zerstört.32 Nicht immer wird diese Spannung textfüllend entfaltet, sondern kann ebenso episodisch zugespitzt werden. Zu solchen Situationen zählen nicht zuletzt höfliche Grußrituale, mit denen Helden noch den unbeherrschtesten Widersachern Runde um Runde entgegentreten.33 Wettkämpfe zeigen sich dabei als einfaches Muster mit komplexer Verkettungsstruktur, episodisch geschlossen und strukturell offen zugleich. Das reizt vielfach auch die Erzählinstanzen zu besonderen Übertragungen: Während etwa Sivrit den Jagdwettkampf in der 16. Aventiure des Nibelungenliedes triumphal beendet, habe die Jagd auf ihn selbst gerade erst begonnen – Daz jagt was ergangen und ouch niht gar.34

      Wenn höfische Romane und Heldenepen diese Kampfdynamik von Schließung und Öffnung besonders häufig mit Signalen von Kooperation und Verweigerung verbinden, lässt sich dahinter eine feudale Distinktionspraxis erkennen, in der Gewinn und Verlust von Ehre grundsätzlich auf wechselseitiger Anerkennung beruhen. Dagegen zeigen die vielfältigen Wettkampfszenarien religiöser Textsorten, dass paradoxe Schleifen keineswegs auf die soziale Logik adliger Selbstdarstellung beschränkt sind. Auch Märtyrerlegenden erzählen so zum Beispiel in unendlichen Kreisläufen von Glaubensdisputen, Foltern und Auferstehungen,35 in denen Heilige und ihre Widersacher sich nicht bloß auszuschalten suchen, sondern gegenseitig immer wieder Spielräume für Machtdemonstration eröffnen. Auch Legenden erzählen in vielen Fällen mittels agonaler ›loops‹ von Kooperation und Destruktion, die vermeintlich einfache Heilserwartungen in riskanter Weise aufs Spiel setzen.36 In vergleichbarer Weise stellen auch Wissensdiskurse des Spätmittelalters epistemische Ordnungen in Gestalt von Wettkämpfen zur Debatte, die weniger auf stabile Lösungen als vielmehr auf fortgesetzte Dynamik zielen.37 Die Beispielliste ließe sich jenseits narrativer Textsorten rasch weiter verlängern.38

      Zwischen Einfachheit und Vielfalt eröffnen Wettkampflogiken dadurch Spielräume, die Grenzen und Möglichkeiten ihrer Kontexte experimentell zur Debatte stellen. Antikenromane wie der Eneasroman Heinrichs von Veldeke etwa entfalten im Rahmen von Kampf- und Liebesdarstellungen ein »konkurrierende[s] Nebeneinander von himmlischer und irdischer Handlungsmotivation«, das die Gründungsgeschichte römischer Herrschaft um Geschichten alternativer Liebesformen, religiöser Instanzen und politischer Stile erweitert.39 Ausgangspunkt der Untersuchung bildet dabei die Beobachtung, dass derartige Spielräume nicht schon von Konfliktsujets wie Krieg oder Zweikampf allein begründet werden. Sie entstehen in besonderem Maße, wenn ihre erzählerische Organisation erkennbar an konkurrierenden Darstellungsmodi arbeitet, die wie im Falle des Eneasromans etwa Motivationsarten, Semantiken und Diskurse umfassen. Vielfalt entsteht selbst in solchen agonalen Erzählarrangements, die Schwert und Lanze mit keinem Wort erwähnen. Wettkampf wird somit nicht bloß als Frage nach Motiven und Semantiken, sondern auch nach narrativen Formen von Interesse. Was aber sind dies für Erzählformen, die sich weniger dafür interessieren, wer gewinnt oder verliert, stattdessen aber von Wettkämpfen in unabschließbaren Schleifen sprechen?40 Welcher Kultur entspringen literarische Gegner wie Gawein und Gasozein, die einander im Zweikampf auszuschalten suchen, gleichzeitig aber bis zur Erschöpfung fördern und unterstützen?

      Die Beschreibung der einzelnen Motive, die zu diesen Fragen gehören, mutet einfach an: Es geht um Regeln und Akteure agonaler Spiele in feudalen, religiösen und urbanen Erzählkontexten. Und auch an sozialtheoretischen Begründungen für die Exzessdynamik von Kampfformen fehlt es nicht.41 Doch scheinen mir die Schwierigkeiten bereits diesseits motivgeschichtlicher oder literatursoziologischer Einordnungen zu beginnen, sobald sich das Interesse überhaupt auf Spielräume der Vervielfältigung richtet. Sie verschärfen sich gerade in kulturwissenschaftlichen Beobachtungslagen, die sich disziplinärer und gegenstandsbezogener Pluralisierung verdanken. Das klingt zunächst wenig eingängig. Sind kulturwissenschaftliche Untersuchungen nicht besonders dafür sensibilisiert, Texte als Knotenpunkte pluraler Zeichenensembles zu begreifen, die auf Optionalität und Selektivität angelegt sind?42 Wenn die gegenwärtigen Kulturwissenschaften die Gegenstandsgrenzen von Einzeldisziplinen ebenso wie die methodischen Grenzen von Paradigmenfolgen weit hinter sich gelassen haben, gilt die »Tendenz der Kulturwissenschaften zum Pluralismus« heute als unhintergehbar.43 Kulturen wie Kulturwissenschaften, könnte man daher vereinfachend sagen, sind nur unter pluralistischen Vorzeichen zu haben.44

      Immer deutlicher zeichnet sich jedoch ab, dass damit Gewinne und Schwierigkeiten zugleich erkauft sind. Als fruchtbar erwiesen sich kulturwissenschaftliche Öffnungen, wenn damit nicht nur Grenzen überschritten, sondern Beobachtungszonen angereichert wurden. Problematisch erwies sich diese Vervielfältigung, sofern nicht im selben Maß reflektiert wird, inwiefern die Gegenstandsbereiche solcher Pluralisierung standhielten. Dadurch wuchsen blinde Flecke zwischen Forschungsoptik und Gegenständen, die nicht nur die Beschreibungsleistungen kulturwissenschaftlicher Forschung ermöglichen, sondern auf unbehagliche Weise auch einschränken. Sie bilden den allgemeinen Anlass und die Ausgangslagen (Kap. I.3–5) der vorliegenden Studien.

      Dass vormodernes Erzählen einfach und komplex zugleich erscheinen kann, ist also nicht bloß ein Spezialproblem für Mediävisten, sondern könnte nicht zuletzt auch mit Beschreibungsproblemen grundsätzlicher Art zu tun haben. Zumindest können jüngere Theoriediskussionen der Mediävistik den Eindruck nähren, dass kompakte Begriffe wie etwa das ›Leitkonzept der Alterität‹ diese Schwierigkeiten eher verdeckten als analytisch erhellten.45 Auch ließen sich gängige Merkmale komplexer Texte wie Reflexivität und Polyvalenz häufig nur unter deskriptiven