Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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Kontrast gerieten. Die negativen Entsprechungen der Vielheit lauteten auf Verworrenheit und Zwietracht, Falschheit, Andersheit, Teilbarkeit, Bewegung, Materie und so weiter. […] Trotz der unbestreitbaren Höherschätzung des Einen und der Einheit wussten die Philosophen und Theologen des Mittelalters, dass Vielheit natürlich gegeben und unvermeidlich ist. […] Die Verschiedenheit (diversitas) des Besonderen konnte durch ihre Differenz aber durchaus zur positiv bewerten ›Vielfalt‹ (varietas) führen, die mit Schönheit, ja Vollkommenheit verbunden wurde.29

      Festzuhalten ist damit zweierlei. Zum einen fehlte es also keineswegs an systematischen Diskursivierungen von Vielfalt im Mittelalter, im Gegenteil: Selbst schwankende Bewertungen, die das asymmetrische Begriffspaar provozierte, bezeugen intensiv geführte Auseinandersetzungen um Vielfalt und Einheit. Der springende Punkt scheint mir jedoch zu sein, dass derartige Konzepte von diversitas kaum positiven Raum für Unbestimmtheit eröffneten – für »unaufgelöste Vielheit«,30 die nicht zugleich von Gesichtspunkten der Einheit bestimmt ist.31

      Trotz reicher Debatten und systematischer Diskursivierungen plädieren Texte des Mittelalters selten für Relativismus oder Pluralismus der Ordnungen. Sie bleiben stattdessen weitgehend auf integrative Semantiken eingeschworen, die Erwartungen an logische, metaphysische oder funktionale Einheit mit sich führen.32 Die ältere geistesgeschichtliche Forschung hatte aus diesem Grund die mittelalterliche Gesellschaft vom »Princip der Einheit« her beschrieben,33 das zwar Übertragung, nicht aber Teilung und Vervielfältigung von Herrschaft zulasse.34 Für die jüngere Sozialgeschichte erwuchs daraus das Problem, offenkundige Diskrepanzen zwischen der »realen Vielfalt« mittelalterlicher Lebenswirklichkeiten und den »noch starrer geprägt[en]« Modellen typischer Lebensformen zu beschreiben.35 Beamte und Gelehrte, Handwerker und Kaufleute – sie und andere mehr bilden neue soziale Gruppen in Bewegung, ohne dass deshalb Ständeordnungen des Hoch- und Spätmittelalters vom traditionellen Grundmodell der dreigeteilten Gesellschaft abrücken.36 Wenn Zeitgenossen reflektieren, »daß es Lebensformen in der Mehrzahl geben müsse«,37 manifestiert sich die »Pluralisierung der Lebensformen« selten in mimetischer Abbildung veränderter Lebenswirklichkeiten; was öfter greifbar wird, sind »Widersprüche« ihrer textuellen Artikulation.38

      Diese Widersprüche haben ihren Grund nicht zuletzt darin, dass Selbstbeschreibungen der mittelalterlichen Gesellschaft nicht gleichermaßen aus sämtlichen Sphären bzw. Schichten überliefert sind. Vorrangig werden sie von einer Schriftpraxis getragen, die religiösen Institutionen verpflichtet ist, wie Jan-Dirk Müller unterstrichen hat:

      Man hat gelernt, die Pluralität und die Antagonismen der mittelalterlichen Kultur zu lesen. An der Dominanz der christlichen Religion, der geistigen Führungsmacht der Kirche und der Prägung der literarischen Kultur durch die schriftkundigen clerici besteht aber kein Zweifel.39

      Noch die jüngste Forschung beschäftigen somit Widersprüche, Verwerfungen und Lücken zwischen hegemonialen Selbstbeschreibungen und den historischen Realitäten sozialer Vielfalt, die seit dem Hochmittelalter beschleunigt wachsen. Zwar lässt sich keineswegs mehr vertreten, »die abendländische Christenheit« wäre »regelrecht besessen von der Vorstellung einer notwendigen reductio ad unum in allen Bereichen und auf allen Ebenen«, womit »Vielfalt in die Nähe des Bösen« gerückt wird.40 Ebenso verkürzend wäre es, lediglich von einer Vielzahl »vormoderne[r] kleine[r] Gemeinschaften« auszugehen, »die für die meisten ihrer Mitglieder die Universen waren, in die das Ganze ihrer Lebenswelt eingeschrieben war«.41 Unübersehbar sind vielmehr die Diskrepanzen: Zwischen programmatisch artikulierten Einheitsansprüchen und realer Vielfalt klafft ein ›semantic gap‹.42

      Diese Kluft ist nicht allein auf Überlieferungslücken zurückzuführen, sondern betrifft ein positives Darstellungsproblem von Vielfalt. Es prägt und belastet besonders solche Texte, die diese Kluft ausdrücklich zu überbrücken versuchen, wie ein berühmter Sangspruch Frauenlobs andeuten mag. Er wird oft als Stimme literarischer Gesellschaftsreflexion zitiert, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf die wachsende Vielfalt von Lebensordnungen antwortet:43

       In driu geteilet waren

       von erst die liute, als ich las:

       buman, ritter und pfaffen.

       ieslich [] nach siner maze <was>

       gelich an adel und an art

       dem andern ie. <war> stet der pfaffen sin?

       Sie leren wol gebaren,

       kunst, wisheit, aller tugent craft,

       fride, scham und darzu forchte

       die ritterlichen ritterschaft.

       der buman hat sich des bewart,

       daz er den zwein nar schüfe mit gewinn.

       Nu pfaffe, werder pfaffe,

       laz ander orden under wegen.

       du stolzer ritter, schaffe,

       daz ritterschaft dir lache,

       nicht nim an dich ein ander leben.

       du buman solt <nicht> hoher streben,

       daz lere ich dich, durch fremdes prises sache.

      Aufschlussreich ist Frauenlobs Spruch weniger dadurch, dass er konservativ für ein dreigliedriges ordo-Modell von buman, ritter und pfaffen plädiert. Ebenso wenig mag überraschen, dass hinter der Behauptung von geburtsständischer Gleichrangigkeit (ieslich nach siner maze […] / gelich an adel und an art) durchaus ungleichgewichtige Funktionszuweisungen der Berufsstände zum Vorschein kommen. Signifikanter ist der Spruch für das angesprochene Darstellungsproblem von Vielfalt, da er unaugesprochene Möglichkeiten voraussetzt: Angesprochen werden horizontale Konkurrenz (ander orden), Optionalität von Lebensformen (ein ander leben als wählbare Alternative) und vertikale Mobilität (hoher streben). Frauenlobs Spruch zeigt somit Spuren komplexerer sozialer Ordnung, als sie die propagierte Ständelehre auffangen kann.44 Doch bleiben sie allenfalls Implikaturen des Textes; statt als positive Differenzierungen erscheinen sie nur im Zerrspiegel von Negationen. Paradoxerweise gibt der Ständespruch also umso weniger von jener sozialer Pluralisierung preis, der er seinen mahnenden Impetus verdankt.

      Für literaturwissenschaftliche Zugänge zur Vielfalt der Vormoderne heißt dies zweierlei. Erstens führt auch auf dem Feld der historischen Kulturtheorie kein direkter Weg von der Sozialgeschichte zur Literaturgeschichte. Zweitens zwingt dies zu Umwegen in der Wahl relevanter Texte: Wer nach literarischen Spuren historischer Pluralisierungsprozesse fragt, wird expliziten Gesellschaftsbeschreibungen – ob in Gestalt von Ständelehren,45 Religionsdialogen oder sozialkritischen Kurzerzählungen46 – kaum bevorzugte Aussagekraft zubilligen können als Texten zu anderweitigen Themen. Im Gegenteil: Explizite Gesellschaftsbeschreibungen wie Frauenlobs Spruch liefern Fälle kultureller Selbstbeschreibung, die »ein Übermaß an Vielfalt innerhalb der Semiosphäre zu vermeiden« suchen, indem sie traditionelle Integrationsmodelle beschwören.47 Je ausdrücklicher von Vielfalt die Rede ist, sei es begrifflich oder thematisch, desto weniger lassen sich diese Texte als positive Quellen beim Wort nehmen.

      Literatur- wie Geschichtswissenschaft stellt dies vor die methodische Schwierigkeit, Vervielfältigung zu beschreiben, die gleichwohl auf Einheit bezogen bleibt. Sie führt zu schwierigen Befunden: »Europas Vielfalt wurde entdeckt, aber die je besonderen Kulturen und Lebenswelten fielen dabei nicht ganz auseinander«, konstatiert etwa Michael Borgolte.48 Ungelöst ist damit eine methodische Spannungslage: Unter pluralistischen Prämissen untersuchen historische Kulturwissenschaften die Artefakte und Selbstbeschreibungen vormoderner Gesellschaften, die Pluralismus zurückzuweisen scheinen, obwohl sie gleichwohl aus Prozessen und Bedingungen sozialer Vervielfältigung hervorgehen oder diese sogar vorantreiben. Und nach gegenwärtigem Stand stehen der Mediävistik keine Meistererzählungen zur Verfügung, um diese Spannung auf einfache Weise