Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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      Für eine formale Beschreibung von Wettkämpfen liefert Simmel damit wichtige Gesichtspunkte. Ebenso grundlegend ist der Hinweis, dass Streit nicht bloß durch Außenabgrenzung die sozialen Relationen einer Gruppe verstärkt, sondern auch deren Binnenkohärenz durch interne Differenzen erhöht. Für den Zusammenhang von Wettkampf- und Kulturformen ist dies von systematischer Bedeutung, insofern Streit damit als paradoxes Muster der Komplexitätsbildung lesbar wird.3

      Trotz ausdrücklicher Neigungen zum Paradoxen,4 trotz deskriptiver Sensibilität: Ebenso deutlich zeichnen sich aber Simmels Schwierigkeiten ab, die paradoxe Form des Streits »unter einen höheren Begriff« zu bringen. Mal bleiben seine suchenden Formulierungen vage (z.B. S. 284: »um zu irgend einer Art von Einheit […] zu gelangen«), dann greifen sie umso entschiedener zu metaphysischen Einheitskonzepten: »streitmäßig[e] Beziehungen« sieht Simmel demgemäß auf das Gesamt einer »Lebenseinheit« rückbezogen, deren »Verbindungen« – »unserem Verstande ungreifbar« – eine »mystische Einheit« bildeten (S. 291). Am häufigsten greift Simmel jedoch zum psychologischen Vokabular der Empfindungen, um paradoxe Zumutungen annehmbar zu formulieren: Verbindende und zerstörende Wirkungen des Kampfes mündeten in ein »Mischgefühl« (S. 293), das »Feinfühligkeit« erhöht (S. 328); auf Basis solcher Gefühle kämen Gruppen im Streit überein, ohne ihre Verbindung explizieren zu müssen (S. 310: »geheimes Sich-Verstehen der Parteien« im »stillschweigenden Pakt«). Umgekehrt zeigt Simmels Exkurs über die Regulierung von ökonomischer Konkurrenz, wie paradoxe Aspekte kategorisch unterbunden werden: Wie es das Leitbild des »›ehrlichen‹ Wettbewerb[s]« vorgebe, sei nur »lautere«, »rein[e]« Konkurrenz in vollem Sinne nützlich, die auf alle »irreleitenden« oder bloß schädigende Handlungen verzichte (S. 346f.). Destruktive Tendenzen, die sich aus der Nähe von Konkurrenzbeziehungen entspinnen können, grenzt Simmel somit aus. Aus paradoxen Dynamiken werden idealisierte Dichotomien von reiner und unlauterer Konkurrenz, von direktem und indirektem Streit.

      Gerade diese kategorischen Abgrenzungen haben die Tradition der Konfliktsoziologie nachhaltig geprägt. Einflussreich knüpfte etwa Lewis Coser daran an, der Simmels Analysen kommentierte und in Richtung einer allgemeinen Konfliktsoziologie umarbeitete.5 Im Anschluss daran betrachtet auch Coser den Streit als konstruktiven Faktor sozialer Organisation (S. 19f., 35), da er Konfliktpartner füreinander sensibilisiere, Energien freisetze, Gruppen und Individuen in ihrer Identität bestätige. Und wie Simmel vermerkt auch Coser, dass dabei ambivalente Gefühlslagen von Hass und Begehren wachsen, die sich an gemeinsame Objekte und Regeln heften (S. 75–79). Noch entschiedener als Simmel jedoch weicht Coser destruktiven Tendenzen aus: Konflikte, die von Frustrationen angetrieben werden, Spannungen ableiten, Rache üben oder dritte Ersatzobjekte und Sündenböcke hineinziehen, gelten ihm als ›unecht‹, als ›echt‹ hingegen nur solche Konflikte, die offen zielorientiert verfolgt werden.6 Simmels Nebenbemerkung zum positiven Zielbezug des Streits rückt damit ins Zentrum der Konflikttheorie.

      Exzessive Eigendynamiken und potenzierende Übergriffe werden damit weniger als konstitutive Momente von Kampfparadoxien beleuchtet, sondern als parasitäre Auswüchse von geringer Stabilität disqualifiziert, die es zu überwinden gilt. Sie kehren auf forschungsgeschichtlicher Ebene indes wieder: Während Coser etwa der frühen amerikanischen Soziologie ankreidet, Konflikt als strukturgefährdende Krankheit des Sozialen abzuwerten (so die Kritik gegenüber Talcott Parsons: S. 23–25, 29–31), grenzt Coser seinerseits Spuren der Destruktion aus. Statt auf eine paradoxiesensible Konflikttheorie zielt Coser somit darauf, paradoxe Spannungen zugunsten polarer Kontraste aufzulösen.

      Dies stellte die Weichen für eine Soziologie, die Konflikte als Motoren der Stabilisierung betrachtet. »Der Konflikt dient dazu, die Identität und die Grenzen von Gesellschaften und Gruppen zu schaffen und zu erhalten«, fasst Coser bündig zusammen (S. 43; so auch S. 184), und »zum Anreiz bei der Einsetzung von Normen und Regeln und Institutionen« (S. 154). Wo gestritten wird, steht somit die Sicherung von Grenzen und Regeln auf dem Spiel. Aus dieser paradoxiefeindlichen Sicht leitet Coser eine folgenreiche Unterscheidung von Streit und Wettstreit ab: »In einem Wettstreit kann der Sieger bestimmt werden nach vorher festgelegten Kriterien, an denen die Kämpfenden gemessen werden. […] Im Streit dagegen stehen den Gegnern nicht von Anfang an solche Kriterien zur Verfügung« (S. 161). Im Rekurs auf Simmel und dennoch Simmels Interesse an paradoxen Einheiten zutiefst entgegengesetzt, begründete dies eine Forschungstradition, die schlechte Konflikte (grenzverletzend oder regellos) und gute Wettkämpfe (in Grenzen reguliert) gegenüberstellte. Weit über die Soziologie hinaus war diese Polarisierung attraktiv für zivilisationstheoretische Argumentationen, die Wettkämpfe bis heute vor allem als Kulturformen der Begrenzung und Pazifizierung werten: als »Transformation eines wilden, unkontrollierten Zustands der Gewalt in einen anderen Zustand […], in dem diese kanalisiert und produktiv nutzbar gemacht wird.«7 Unter regulierten Bedingungen gilt Streit daher als »Motor« fortschrittlicher Konfliktkultur.8

      Die heuristische Leistung des Wettkampfkonzepts beschneidet dies erheblich. Auf mittelalterliche Wettkampferzählungen übertragen, verzerrt dies die Verhältnisse: obsessive Gegner wie Gawein und Gasozein in der Krone Heinrichs von dem Türlin wären in grandioser Weise als ›unecht‹ aufeinander fixiert zu betrachten; erzählerische Ambivalenz, wie sie Hartmanns Iwein in der Begegnung der Freund-Feinde Gawein und Iwein auskostet, wäre in höchstem Maße als ›uneigentlich‹ zu betrachten. Kategorische Unterscheidungen von Streit und Konflikt, Wettbewerb und Kampf etc. führen so gesehen in theoretische Sackgassen – oder aber in Paradoxien, die Gegner als verbunden zeigen, theoretische Abgrenzungen als durchlässig erweisen.9 Nur zögerlich lassen sich aktuelle Beiträge der Konfliktsoziologie auf diese Schwierigkeiten ein.10 Und auch mediävistische Studien vertiefen ihre Aporien eher, wenn man nach den Grenzen zwischen fairen Spielen und Ernstkämpfen,11 zwischen Gewaltvermeidung und deren Verstärkung sucht.12

      Für eine historische Kulturtheorie des Wettkampfs sind dies gute Gründe, nicht schon vorab Wettbewerb, Wettstreit, Kampf, Konflikt oder Streit gegeneinander auszudifferenzieren, sofern dies Einsichten in die paradoxen Grundlagen agonaler Formen verstellt. Für ein solches formales Verständnis von Streit wirbt hingegen Dirk Baecker, demzufolge gerade das paradoxe Widerspiel von Anziehung und Distanz kulturelle Spielräume eröffnet:

      Die Symbole der Tausch- und Kommunikationsmedien, so unsere These, stellen sicher, dass es ebenso attraktiv ist, sich auf eine entsprechend ausgezeichnete Handlung und Kommunikaton einzulassen, wie von ihr abzulassen. Das ist ihr Widerstreit.13

      Ganz gleich, in welchen symbolischen Medien sie sich verdichtet: »Kultur als Widerstreit«14 motiviert auf paradoxe Weise dazu, sich einzulassen, aber jederzeit auch ablassen zu können. Gilt dies für alle agonalen Formen? Wettkämpfe, so wäre zu überlegen, könnten dafür nicht bloß verdichtete Einzelepisoden bereitstellen, die punktuell zur Debatte stehen. Sie könnten vielmehr die Anreize steigern, Widerstreit fortgesetzt auszubauen – auf sichtbaren Bühnen und zu umfangreichen Handlungsprogrammen.

      3.3 Alternative Theorieangebote

      Bekanntlich gibt es andere Theorietraditionen, die Streitparadoxien noch eingehender pflegen als mediävistische Literaturwissenschaft und Soziologie. Dazu gehören zum einen philosophische Stimmen von den Vorsokratikern bis zu Nietzsche, von Hegel bis zu Heidegger, die sowohl destruktive als auch produktive Aspekte des Streits beleuchten. Ebenso ließen sich poststrukturalistische Positionen ausführlicher bedenken, die auf die Dynamik unauflösbarer Konflikte als Quelle diskursiver Vielfalt verweisen.1 Mit Blick auf solche Ansätze wäre jedoch kritisch zu fragen, inwiefern sich philosophische Streitkonzepte der Antike oder Neuzeit in textanalytische Methoden übersetzen ließen, die mittelalterliche Streitformen angemessen erschließen und mit kulturtheoretischen Fragen vermitteln. Dass Widerstreit etwa Differenz wiederholt und variiert, ist grundsätzlich ernst zu nehmen, liefert jedoch kaum nähere Aspekte für die Analyse.2 Auch postmoderne Präferenzen für Unbestimmtheit sind an sich wenig erhellend. Denn viele der im Folgenden zu betrachtenden Wettkampferzählungen des Mittelalters halten so zum Beispiel an Konzepten der Einheit fest, indem sie Gegner im Zeichen von Freundschaft oder Verwandtschaft verbinden, indem sie Streit in starken Rahmen von Gerichtsprozessen, Ritualen oder anderweitigen Regelabläufen verorten. Was dabei ›vielfältiger‹ wird, erweist sich häufiger relationalen