Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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›Kultur‹ genannt wurde, galt sie als das Ensemble der Formen, Techniken, Sitten, Gebräuche, Ideen, Werte, Konventionen usw., der natürlichen Entropie, den Annihilationskräften der natürlichen Zeit entgegenzuwirken und Stabilität zu erzeugen.3

      So unscheinbar und geläufig die Metapher des Ensembles im Diskurs der jüngeren Kulturwissenschaften ist, so elegant übergeht sie die Frage, was Differenzwahrnehmungen von Ordnungen ›diesseits‹ von Kulturen organisierte. Frühe Ansätze vergleichender Kulturtheorie wie die Scienza nuova Giambattista Vicos beschäftigte hingegen ausdrücklich, wie die historisch unterschiedlichen Spielräume und Entwicklungen dieser Ensembles aufeinander zu beziehen seien. Noch Steiner hielt daher fest, dass Kultur ein Reflexionskonzept »historisch bedingter Kontingenz« benennt.4 Dieses Bewusstsein für historische Bedingungen und Formate von Kontingenz ist aus aktuellen Selbstbeschreibungen der Kulturwissenschaften nahezu verschwunden, die Kulturen »als immer schon pluralisiert«5 betrachten. Es ist schwer wiederzugewinnen, wenn man, getragen von politischen Motiven, kulturelle Sinnsysteme und Formen als immer schon vervielfältigt oder heterogen beschreibt.6 Dass es »›Kultur‹ nicht gibt, sondern nur ›Kulturen‹«, bildet so den Ausgangspunkt fast jeder kulturwissenschaftlichen Studie.7

      5.2 Pluralisierung als Prämisse

      Wie Andreas Reckwitz aufgearbeitet hat, ist diese Sicht zwar erst im 20. Jahrhundert gewachsen,1 hat sich jedoch über Disziplinengrenzen hinaus als allgemeiner Konsens verfestigt. Selten geht man noch hinter jene »kopernikanische Wende« zurück, die seit dem 18. Jahrhundert (namentlich verbunden etwa mit der Position Herders) nicht länger nach Einheitsrahmen oder nach normativen Maßstäben für Vergleiche sucht, sondern vornehmlich auf Differenz abstellt.2 Kultur bezeichnet seitdem die Kreativität, potentiell »alles mit allem [zu] verknüpfen«3 und durch Vergleiche fortwährend zu vervielfältigen.4 Wenn die »Anerkennung kultureller Diversität« einerseits den Raum von Beobachtungsmöglichkeiten erweitert und anreichert, geht damit andererseits die »Möglichkeit einer verbindlichen Weltrepräsentation« unwiederbringlich verloren.5 Kulturgewinne bedeuten in gewissem Sinn also Weltverluste.6 Und wenn moderne Theorien davon ausgehen, »daß Kulturen nur als Pluralität vorkommen«,7 scheinen Brücken diesseits der Pluralisierung für die Kulturwissenschaften weitgehend abgerissen.

      Nüchtern lässt sich festhalten, dass damit ein blinder Fleck wächst, dem sich die Karriere der Kulturwissenschaften verdankt. Zum einen erlaubt er in historischer wie systematischer Hinsicht überraschende Vergleiche zu sehen, wo sich auf den ersten Blick keine Verbindungen zeigen. 8 Zum anderen aber wird gerade damit verdeckt, dass diese Vergleichsanstrengungen die Einheits- oder Differenzziehungen neu überformen, die entweder in den Objekten angelegt waren oder in historischen Perspektiven gezogen wurden. Dass kulturelle Beschreibungen auf Diskrepanzwahrnehmungen beruhen, tritt als ethnographisches Problem tendenziell in den Hintergrund. Wo aktuelle Forschungen im historischen Rückblick auf derartige Diskrepanzen stoßen, wachsen nicht immer die Reflexionsanstrengungen,9 sondern häufig auch Unsicherheiten. Steht etwa die »[c]ultural heterogeneity« und »hybridity« mittelalterlicher Literatur zur Debatte, verzichtet man entweder darauf, leitende Konzepte von Kultur zu historisieren,10 oder man appliziert kurzerhand moderne Konzepte kultureller Vielfalt auf Texte der Vormoderne.11

      Vereinfacht könnte der Verdacht daher lauten: Wer von vormodernen Kulturen im Plural spricht, neigt zu der retrohistorischen Unterstellung, mittelalterliche Gesellschaften und ihre Literaturen kennten ebenfalls die Diversität von Ordnung. Wie aber lassen sich Kulturen beschreiben, »die weit entfernt davon waren, sich selbst als Kulturen zu verstehen«?12

      In ihrer Zuspitzung mag eine solche Formulierung provozieren. Doch schärfer als bisher könnte sie dafür ein Problem konturieren, das in der mediävistischen Forschungspraxis weitgehend diffus mitläuft und allenfalls am Rande artikuliert wird. In diesem Sinne attestiert etwa Tobias Bulang der Sangspruchforschung einen »blinden Fleck«, wenn diese in jüngerer Zeit vor allem die »Redevielfalt« und »Pluralität verfügbarer Rollen und Typen« in den Vordergrund stelle:

      »Passen« solche Interpretationen nicht wiederum nahtlos in eine Gegenwart, die sich als pluralistisch erfährt und in ihren soziologischen Selbstbeschreibungen (mit denen Philologen oft gut vertraut sind) diese Pluralität bis in die Fassung des Individuums selbst hineinverlagert?13

      Bulangs vorsichtige Frage trifft ein Kernproblem der Historisierung, das weit über die Sangspruchdichtung hinaus von Bedeutung ist, insofern die Neigung zu pluralistischen Objekten eine tiefliegende, aber selten ausgesprochene praxeologische Prämisse darstellt. Vielfalt wird zum besonderen Problem, sofern damit nicht bloß ein kulturwissenschaftlicher Forschungsrahmen eröffnet wird, sondern sich zugleich kulturtheoretische Erkenntnisinteressen daran knüpfen. Auch mediävistische Studien äußern sich in solchen Fällen oftmals schillernd mehrstimmig. Im selben Atemzug werden einheits- bzw. differenzorientierte Konzepte nebeneinander aufgerufen, wenn von Kultur als Rahmen für »verschiedene Erzählgemeinschaften« von »Adelskultur« und »klerikale[r] Kultur« die Rede ist, aber auch vom »europäisch-christlichen Kulturraum« insgesamt.14 Debatten zu den Grenzverläufen religiöser und säkularer Ordnungen im Mittelalter werden von Unbestimmtheit begleitet,15 ob von Kultur (eher) im Singular oder im Plural zu sprechen sei, welche Beobachtungsposition für Differenz jeweils einzunehmen ist, wenn von der »geistlich-weltlichen Mischkultur des Mittelalters«16 oder von Kontaktphänomenen »innerhalb der mittelalterlichen Kultur(en)«17 gesprochen wird. Handbücher zur »Medieval Culture« suchen gleichermaßen umfassende Rahmen abzustecken (»fundamental aspects and conditions of the European Middle Ages«), wie sie umgekehrt die kulturelle Vielfalt von Sport, Medizin oder Papsttum vorstellen.18 Wieviel Pluralismus die Forschungsaufgaben der Mediävistik verlangen oder ertragen, ist demnach eine heikle, aber eher latente Frage.

      Es sei betont: Wenn der kulturwissenschaftliche Blick aus Differenzwahrnehmungen menschlicher Ordnungen entspringt, welche die Einheit des Menschen gleichzeitig unterstellen und in Frage stellen,19 gibt es zu dieser Spannung keine einfache Alternative. Doch vielleicht lassen sich die Unsicherheiten offener angehen, die von Gesellschaften diesseits moderner Kulturperspektiven ausgehen. Freilich sind die Pluralitätserfahrungen historischer Lebens- und Kommunikationswirklichkeiten als solche unzugänglich. Oder in den Worten Peter Strohschneiders: Informationen über mittelalterliche Kultur findet die Mediävistik in der »Beobachtung der Selbstbeobachtungen mittelalterlicher Texte«,20 ohne dass sie dafür auf die historischen Prozesse solcher Beobachtung selbst zugreifen könnte. Als Objekte greifbar sind nur jene textuellen Arrangements, die ermöglichten, Unterscheidungen auf neue Weise zu treffen, die aber ebenso schriftlich überliefert worden sein mögen, ohne dass diese Angebote nachweisbar angenommen wurden oder gar über ihre Kontexte hinaus die mittelalterliche Gesellschaft zu prägen vermochten.21

      Weder um eine Ideen- noch eine Sozialgeschichte der Vielfalt geht es den nachfolgenden literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, sondern darum, einen kulturellen Möglichkeitsraum literarischer Texte zu vermessen, der von Diskontinuitäten, unterschiedlichsten Selektionsinteressen und ungleichartigen Überlieferungsbedingungen geprägt ist. Kein Weg führt zur Vergangenheit des Mittelalters zurück, der nicht über mehrfache Schichtungen und Verschiebungen von Pluralisierungswahrnehmungen führte; und nichts gibt dabei Anlass, Wettkampf als Idealmodell vormoderner Kultur zu romantisieren.22 Insofern gehören die folgenden mediävistischen Textanalysen – wie jede historisch orientierte Kulturwissenschaft – zum Kreis von Gegenwartswissenschaften, deren Interesse und Problem sie teilt, wie fremdartige Kulturformen zu relationieren sind.

      Genau dafür sind Wettkämpfe von systematischem Gewicht. Denn damit geht es nicht bloß um die oft wiederholte Einsicht, dass Erzählmuster der kulturellen Selbstbeobachtung dienen können.23 Vielmehr halten Wettkämpfe in ihren ausgeprägt formalen Zügen24 etwas von jenen Selbstbeobachtungsmöglichkeiten diesseits der Kulturen fest. Indem sie Ordnung und Abweichung dynamisch aufeinander beziehen und Beobachter anziehen, werden sie als Formen der Vervielfältigung lesbar, die nicht auf ein spezifisches Maß oder explizite Begriffe von Pluralität fixiert sind. In dieser Hinsicht sind Wettkämpfe nicht nur als kulturelle Elemente,25 sondern mehr noch als kulturelle Formen von Bedeutung.

      Schon im Mittelalter schien es attraktiv, Aushandlungen gesellschaftlicher Ordnung immer wieder auf »agonale Bühnen« zu bringen, um Differenzen