Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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der Sexualität, ihre Regeln und Brüche verfolgt. Gleichzeitig bieten praxeologische Kulturverständnisse aber auch Ansatzpunkte, um Geschlechtsidentitäten als »kulturelle Konstrukte« zu enthüllen und somit ihre Natürlichkeit zu durchkreuzen (S. 327). Für die Beispiellektüre zum Eneasroman Heinrichs von Veldeke sind diese Begriffspotentiale vor allem im Ausgangspunkt (S. 333–335), weniger aber in der Auswertung von expliziter Bedeutung (insgesamt S. 333–343).

      Ausdrücklich bezieht Andrea Sieber die »kulturelle Semantik« und »kulturell[e] Attribuierung« in ihre Lektüreskizze zum Nibelungenlied ein (S. 114–132), das sie unter Gesichtspunkten der Gendertheorie Judith Butlers beleuchtet.8 Auch für die historische Genderforschung liefert der Kulturbegriff ein argumentatives Instrument, um Geschlechtsidentität als Bündelung von »Pluralitäten« zu enthüllen (S. 108), die historischem und sozialem Wandel unterliegen (S. 104). Mit dem Stichwort der »Kultur« weitet sich somit das Sichtfeld (S. 105): auf die prägenden »kulturelle[n] Bedingungen« (S. 107), den »normativ-kulturellen Konstruktionsprozess« (S. 106) von Geschlechtsidentitäten, aber ebenso auf die Medien, Resultate und Ausdrucksformen solcher Identitäten (S. 103, 105, 118, 130). Der Kulturbegriff verbindet damit Voraussetzungen und Ergebnisse sozialer Prägung von Geschlecht.

      Eine solche Zirkularitätsannahme gilt in semantischer Hinsicht auch für die historische Lesbarkeit von Metaphern, wie Udo Friedrich ausführt.9 Metaphern besitzen ein »kulturelles Fundament« (S. 173), insofern sie im »Spielraum kultureller Beziehungen« gebildet (S. 186), im »Rahmen« (S. 191) des »kulturellen Wissens« (S. 202 u.ö.) abgerufen und auf spezifische »kulturell[e] Kontexte« (S. 192f., 197, 201) bezogen werden; ihre Verwendungsbedingungen werden wiederum im »kulturelle[n] Archiv« gespeichert (S. 194) und im »kulturelle[n] Gedächtnis« (S. 195) gepflegt. Der Kulturbegriff bezeichnet also zum einen, dass sprachliche »Orientierung« (S. 169) und soziale »Umwelt« (S. 180) miteinander verklammert sind und daher »Gesellschaften« (S. 181; S. 174: »ganz[e] Kulturen«) und deren Ausrichtung umfassend prägen (z.B. S. 199: »Agrarkultur«). Zum anderen gehen diese Rahmenbedingungen in die sprachlichen Analogiebildungen und Verarbeitungsgewohnheiten jener Gruppen ein – als »kulturell aufgeladen[e] Tropen« (S. 173) und »kulturell[e] Semantiken« einer Epoche (S. 197) eröffnen Metaphern dann Zugänge zum historisch und sozial variablen Commonsense, womit »kulturell« geradezu synonym für »topisch« stehen kann (S. 191). Doch geht Friedrich noch einen Schritt weiter, indem er auch Kulturkonzepte in die historische Erforschung von Metaphern einbezieht. Wenn Differenz und Ähnlichkeit sprachlicher Konzepte »je nach kulturellem Kontext« (S. 185) verschieden modelliert und wahrgenommen werden können, dann versprechen Metaphern zugleich Zugänge »zu kulturtheoretischen Konzepten vergangener Epochen« (S. 180) – etwa zur »Differenz von Natur und Kultur« (S. 182, 193, 201 u.ö.) in Sprachtheorien und Metaphernpraxis antiker und mittelalterlicher Rhetorik. Das Konzept der Metapher und das Konzept der Kultur verbindet dann ein reflexives Verhältnis, demzufolge sich nicht nur Metaphern historisch lesen lassen, sondern auch historisch und funktional unterschiedliche Kulturmodelle entziffert werden können (S. 187–189). Selbst explizite Kulturtheorien enthüllen dann metaphorische Züge (S. 180f.).

      Auch der historischen Narratologie sind Hartmut Bleumer zufolge kulturelle Perspektiven eingeschrieben, insofern ihre Kategorien zwischen »Dynamik« und »Fixierung« changieren (S. 215).10 Statt auf universal anwendbare Begriffe verweise dies auf wechselseitige Abstimmungen von Narration und soziohistorischen Kontexten. Nicht nur welche Motivationsarten dominieren, hänge von »kulturellen Implikationen« ab (S. 220): Die kulturwissenschaftliche Erzählforschung beschäftige darüber hinaus, mit welchen »kulturellen Vorprägungen der Verknüpfungsmodalitäten« zu rechnen ist (S. 238, vgl. auch S. 246), welche »kulturell eingespielten Erzählmuster« (S. 235) oder Zeichenbegriffe als »kulturell« verfügbar vorauszusetzen sind (S. 239). Das Konzept der Kultur wird damit als regulierender, generativer und erwartungssteuernder Rahmenbegriff aufgerufen, der unterschiedlich weit gezogen werden kann: vom »kulturelle[n] und historische[n] Zusammenhang«, in dem ein literarischer Text spezifisch verortet ist (S. 214), bis zum globalen Horizont, der etwa »in vormodernen Kulturen des Erzählens« das Erzählen grundsätzlich »stärker symbolisch organisiert« erweise als im Vergleich zu neuzeitlichen Erzählstandards (S. 243). Auf Beschreibungsebene trägt der Kulturbegriff damit mehrere Funktionen: Er lenkt heuristisch die Kategorienbildung historischer Erzählforschung (wonach ist zu fragen, wenn Analysen dem historischen Gegenstand adäquat sein sollen?), er stellt deskriptive Einheiten für die Analyse bereit (etablierte Muster, Motive, Verknüpfungstypen) und fächert Vergleiche in synchroner Hinsicht (zwischen verschiedenen Kontexten) und in diachroner Hinsicht (zwischen historisch variierenden Standards) auf. Gleichwohl bleibt der Kulturbegriff eher im Hintergrund (so auch in der Beispielanalyse zum Armen Heinrich, S. 252–265), weniger diskutiert zumindest als Möglichkeiten und Schwierigkeiten, das narratologische Begriffsinventar zu historisieren.

      Annette Gerok-Reiter und Franziska Hammer beziehen in ihrem Beitrag zur »Raumforschung« den Kulturbegriff auf Prozesse und Bedingungen der ›Verräumlichung‹.11 Dies schließt grundsätzlich an kultursemiotische Positionen an, die auf den »kulturellen Bezugsraum[]« von Texten und ihre »kulturell[e] Ordnungen« (S. 487) verweisen. Kultur tritt damit zum einen als Rahmen der »außertextuellen Referenz« in den Vordergrund. Daran knüpfen sich zum anderen zahlreihe Begriffsvarianten, die auf produktive Verschränkung verweisen: Texte prägen ihren »Kulturraum« und sind an der »Entwicklung kultureller Topographien« beteiligt (S. 489), sie greifen nicht nur auf die »Kulturtechnik der Repräsentation« zurück, sondern sind selbst Teil von Prozessen der »Kultivierung«, die »kultivierten Raum« zuallererst hervorbringen (S. 488–494). Werden die konzeptuellen Prämissen dynamisch-relationaler Raumtheorien auf diese Weise besonders dicht mit Kulturbegriffen verflochten, so tritt diese Begriffsarbeit im Zuge der Textarbeit in den Hintergrund. Zwar werden Spezifika der Raumdarstellung mittelalterlicher Texte benannt (S. 497–499), doch vom Kulturbegriff gänzlich entkoppelt. Die abschließende Analyseskizze zum Tristan verzichtet daher fast konsequent (ausgenommen S. 500: »Adelskultur«) auf den Kulturbegriff.

      Was zeigen diese Stichproben? Auf der einen Seite belegen sie die ungebrochene Konjunktur des Kulturbegriffs in seinen zahlreichen Facetten.12 Die mediävistische Forschung verfügt über ein breites Begriffsrepertoire, in dem Rahmenkonzepte wie ›Kultur als Kontext‹ (von Praktiken, Bedeutungsproduktion, sozialen Zusammenhängen etc.)13 besonders prominent sind, die wiederum von regionalen bis zu globalen Einheiten skaliert werden können (»höfische Kultur«, »Kultur des Mittelalters«, »vormoderne Kultur« etc.). Wie selbstverständlich nimmt die Forschung in Anspruch, »kulturwissenschaftliche« Beschreibungen und »kulturgeschichtliche« Einordnungen zu erarbeiten, selbst wenn dabei gelegentlich Legitimierungsansprüche der ›kulturellen Archivpflege‹ mitschwingen.14 Kulturbegriffe werden aufgerufen, um Forschungsfelder zu differenzieren und Perspektiven umzubesetzen.

      Auf der anderen Seite zeigen sich gerade daran unübersehbare Lücken der Begriffspraxis. Zwar verfügt die Mediävistik über eine Vielzahl von Kulturbegriffen, doch wird deren Pluralisierung selten explizit diskutiert. Bezeichnet ›Kultur‹ ein programmatisches Leitkonzept – oder eher ein Repertoire begrifflicher Alternativen und theoretischer Akzente? Dass nicht bloß diverse, sondern selbst widersprüchliche Varianten gelegentlich in ein und derselben Forschungsperspektive zusammenlaufen, bleibt jedenfalls in der Regel unkommentiert. Wie in vielen Disziplinen kennzeichnet den Kulturbegriff auch in der germanistischen Mediävistik eine oft ›weiche‹ Verwendung – eher als assoziationsreiche Prämisse denn als analytischer Terminus, eher implizit mitlaufend als explizit thematisiert. Dadurch wächst die Kluft zwischen Ansätzen auf der einen Seite, die besonders ausgiebig Kulturbegriffe aufrufen (insbesondere bei sozialgeschichtlicher oder ethnographischer Orientierung),15 und solchen Argumentationen auf der anderen Seite, die Kulturperspektiven nur streifen oder stillschweigend voraussetzen.16 Während Kulturbegriffe zur Kartierung fast aller Forschungsfelder dienen, scheinen sie für die Analyse weitgehend verzichtbar: Beschreibungs- und Erklärungsleistungen gehen kaum von übergreifenden Kulturkonzepten, sondern in der Regel von (textwissenschaftlichen) Spezialtheoremen aus.17 Die Historizität des Kulturkonzepts wird so als Arbeitsgrundlage meist vorausgesetzt, seltener aber in die Untersuchungsarbeit selbst einbezogen.18 Selbst bei der Bewertung von Ergebnissen fällt das Stichwort der ›Kultur‹ kaum so prominent, wie