Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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auszuwerten, inwiefern diese Befunde gemeinsame Profile oder Züge erkennen lassen. Welche Einsichten in die Komplexitätstypik von Erzählungen sind zu gewinnen, die bislang meist nach Stoffen und Sujets, Überlieferungszusammenhängen oder Gattungsreihen getrennt erforscht wurden? So experimentiert etwa Hartmanns Iwein ebenso mit Komplexitätstypen der Einfaltung wie das Nibelungenlied; Märtyrerlegenden ›von unzerstörbarem Leben‹ wickeln Komplexität in seriellen Formen ab, an denen prinzipiell auch heldenepische Reihenkampferzählungen wie der Rosengarten zu Worms arbeiten. Aber handelt es sich dabei um dieselben Typen von Komplexität, die durch Wettkampf gebildet werden?

      3 Kulturtheoretische Fragestellung: Welche formalen Strukturierungsmöglichkeiten zur Kommunikation von Vielfalt stellen diese Komplexitätstypen zur Verfügung?Wettkämpfe strukturieren Komplexität mittels unterschiedlicher Funktionen, Anordnungen und Tiefen ihrer agonalen Formen. Sie entfalten dabei hohe Attraktions- und Gravitationskräfte, die Akteure und Beobachter rasch hineinziehen und in diese Strukturen einbinden – darin liegt ihre sozialisierende Wirkung, die Kulturformen und Wettkampfformen verbinden. Doch erschöpft sich ihr Potential zur Bildung kultureller Formen nicht auf Ebene von Einzeltexten oder literarischen Typen, sondern erschließt sich durch abstrahierende Vergleiche.In diesem Sinne soll in einem dritten Auswertungsschritt versucht werden, einige formale Eigenschaften jener Komplexitätstypen hervorzuheben, die Wettkampferzählungen für die Kommunikation von Vielfalt entwickeln. Natürlich kann es – schon aus methodischen Gründen – nicht darum gehen, solche formalen Züge zu einer Kulturtheorie des Mittelalters überzugeneralisieren. Doch versprechen Formen des Wettkampfs wichtige Hinweise, wie einfachere oder vielfältigere Unterscheidungen aufeinander bezogen wurden, ohne dafür explizite Kulturperspektiven vorauszusetzen.

      7 Zur Textauswahl

      Wenn das Erkenntnisinteresse somit letztlich auf Kulturformen im Medium von Wettkampferzählungen zielt, kann sich diese Sondierung nicht von vornherein auf spezifische Motivlinien, Semantiken oder Gattungsreihen beschränken. Vielmehr ist die Textbasis diachron und interdiskursiv so breit anzusetzen, dass ersichtlich werden kann, wie eingeführte Differenzen und Grundoperationen des Wettkampfs in ganz unterschiedlichen Textsorten und unterschiedlichen Phasen der mittelalterlichen Literatur entfaltet werden konnten. Mit welchem Spektrum von Wettkampfformen ist in volkssprachlichen und lateinischen Erzähltexten des Mittelalters grundsätzlich zu rechnen?

      Ich wähle dafür ein Corpus von Texten, das nicht im engeren Sinne als repräsentativ zu verstehen ist, sondern dieses Spektrum in seiner Breite zuallererst anhand exemplarischer Stichproben sichtbar machen soll. Ihre Auswahl ist nicht klassifikatorisch begründet, weil nach derzeitigem Forschungsstand keine tragfähige Typologie von Streit- oder Kampfformen vorauszusetzen ist, sondern formale Aspekte mittelalterlicher Wettkampftypen im Gang der Untersuchung erst erarbeitet werden sollen. Und schließlich bilden die gewählten Beispiele keine experimentelle Gruppe im strengen Sinne, da sie keineswegs zufällig gewählt sind, sondern alle Texte ausgeprägt daran arbeiten, ihre Wettkämpfe zu komplexen Ordnungen zu vervielfältigen. Narrative Texte spiegeln dies in besonderer Weise, da sie widerstreitenden Formen ausführlichen Raum geben und zugleich in zusammenhängenden Sequenzen verknüpfen.1

      Um allzu engen Zirkelschlüssen, aber auch Übergeneralisierungen einzelner Wettkampfmodelle zu entgehen, versucht die Textauswahl einen möglichst großen zeitlichen Längsschnitt vom 9. bis zum 15. Jahrhundert zu ziehen:2 vom frühmittelalterlichen Heldenliedfragment (älteres Hildebrandslied) bis zur Heldenballade (jüngeres Hildebrandslied); von höfischer Epik (Iwein, Nibelungenlied) und Didaktik (Welscher Gast) des 12. und 13. Jahrhunderts bis zu Märtyrerlegenden, artes-Dichtungen (u.a. Heinrich von Mügeln, Der meide kranz) und Exempelsammlungen (Sieben weise Meister) des Spätmittelalters. Die gewählten Texte entstammen dabei nicht nur verschiedenen Diskursen – von religiöser Anthropologie (Psychomachia des Prudentius, Vorauer Sündenklage, Visio Philberti) über höfische Liebe und Ethik (Hartmann, Thomasin) bis zu Wissenschaftsdebatten (Alanus von Lille, Heinrich von Mügeln) und politischer Übung (Sieben weise Meister). Berücksichtigt werden Texte, die möglichst unterschiedliche Grade diskursiver, intertextueller oder materieller Verflechtung spiegeln: von überlieferungsstarken Knotenpunkten und einflussreichen Erzähltraditionen (Nibelungenlied, Narrative des ›Seelenkampfs‹, Sieben weise Meister) bis zu Experimentalfällen, die extreme Wettkampfmöglichkeiten ausloten, aber auch erhebliche Anschlussprobleme aufwarfen und in der Überlieferung z.T. isoliert stehen (Der meide kranz, Hartmanns Klage). Aus methodischen Gründen gehen die nachfolgenden Studien somit bewusst von einem möglichst breiten und heterogenen Corpus aus, um die formale Vielfalt von Wettkampferzählungen diesseits von Einflussbeziehungen zu sondieren. Angestrebt sind exemplarische Stichproben, die sich zwanglos fortführen und erweitern lassen.

      Ihre (weitgehend) chronologische Anordnung könnte freilich den Eindruck erwecken, dass Wettkämpfe das mittelalterliche Erzähluniversum unausgesetzt beschäftigten. Doch halten sich die Fallstudien zurück, aus exemplarischen Stichproben diachrone Entwicklungen abzuleiten – ob nun als Einflussgeschichte von Ideen, Motivlinien oder Diskursen der Pluralisierung. Denn zum einen drohen solche Konstruktionen zu überdecken, dass Erzählversuche der agonalen Vervielfältigung oft heterogen und unabgestimmt,3 mitunter wie Störungen ihrer pragmatischen Rahmungen oder Gattungskontexte wirken – und daher nicht selten Anschlussprobleme oder Parallelfassungen provozierten, die ganz andere Richtungen einschlagen. Zum anderen verführt gerade die weite Verbreitung von Wettkampfformen rasch dazu, spezifische Modelle zu globalen Kulturmustern zu überhöhen.4 Gegenüber solchen paradigmatischen Entgrenzungen z.B. von ›höfischer‹ zu ›mittelalterlicher Agonalität‹ schlechthin gehen die folgenden Studien auf kritische Distanz, indem sie den Blick für agonale Entwürfe und Spielräume möglichst genau am Einzelfall zu schärfen versuchen. Skepsis ist dabei auch gegenüber eingespielten Axiologien geboten, die komplexen Erzählphänomenen zumeist bevorzugte Aufmerksamkeit und Wertschätzung beimessen, während einfache Erzählformen als anspruchslos verdächtigt werden. Daher gelten die Lektüren nicht nur vermeintlich komplexitätsorientierten Texten, die wie das Nibelungenlied B auch von der Forschung bevorzugt sind, sondern auch Vereinfachungen des Wettkampferzählens, die wie der Rosengarten zu Worms bis heute unter dem Verdikt ermüdender Schemaliteratur stehen.

      8 Worum es (nicht) geht

      Gegenstand und Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit lassen sich damit genau einkreisen. Zu untersuchen ist, welchen Beitrag mittelalterliche Erzählformen des Wettkampfs für die Entwicklung von Vielfalt leisten. ›Wettkampfkulturen‹ gehören in diesem Sinne zu den Versuchen mittelalterlicher Gesellschaften, diesseits von Diversitäts- oder Kontingenzperspektiven gleichwohl Darstellungsmöglichkeiten für Vielfalt zu entwickeln. Wettkampferzählungen zeigen davon nur einen Ausschnitt – es gibt andere Motive, Semantiken und Logiken mehr, mit Differenz umzugehen –, doch bieten sie einen besonders produktiven, risikofreudigen und daher aufschlussreichen Objektbereich.

      Er ist für die mediävistische Forschung bis heute schwer zu fassen. Denn nicht nur gilt es, unreflektierte Übertragungen moderner Kulturbegriffe einzuklammern. Auch ist zu berücksichtigen, dass im Mittelalter kein Begriffsäquivalent für unbestimmte Vielfalt zur Verfügung steht. Erzählformen, die wie Wettkampf kulturfunktional wirksam sind, zeigen sich instabil und experimentell; obwohl ihre Texte keineswegs randständig sind, bilden sie keine zusammenhängenden Diskurse, Gattungen oder Traditionen.1 Aus diesem Grund strebt die folgende Untersuchung weder eine Gattungs- noch eine Kulturgeschichte von ›Wettkampf im Mittelalter‹ an, deren Grundlagen erst noch zu legen sind. Ihr Ziel sind allenfalls Vorstudien, die eine solche Geschichte vorbereiten. Dafür sind Fallstudien fruchtbar, die ein möglichst breites Spektrum von Wettkampfformen in prägnanten Momenten erkunden, in denen Vielfalt ›diesseits von Kulturkonzepten‹ greifbar wird. Um sie zu erschließen, setzen alle Analysen erstens auf der Ebene konkreter Erzählarrangements mittelalterlicher Wettkämpfe an. Sie fragen zweitens nach typischen Formen, die daraus hervorgehen, und suchen drittens allgemeinere Gesichtspunkte anzugeben, unter denen man ihre Komplexität kulturtheoretisch auswerten kann. Während die textnahen Beschreibungen auf erzähltheoretische Analysekategorien zurückgreifen und hermeneutische Lektüren erarbeiten,