Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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›Problemlösungen‹ zu deuten.33 Denn zum einen lässt sich nur teilweise rekonstruieren, auf welche außerliterarischen Interessen- und Problemlagen mittelalterliche Wettkampferzählungen reagierten.34 Statt also die formale Bearbeitung von Agonalität mit einzelnen Kontexten kurzzuschließen, konzentrieren sich die nachfolgenden Studien darauf, vor allem die Textgestalten des Wettkampfs zu beschreiben, bevor vorsichtig nach Kontexten solcher Komplexitätsangebote zu fragen ist. In jedem Fall bleibt dabei zu fragen, inwiefern Wettkampferzählungen als Antworten zu verstehen sind – und inwiefern sie explorative Spielräume ›auf Vorschuss‹ eröffnen. Wie die Fassungs- und Überlieferungsgeschichte der untersuchten Texte dokumentiert, ließen sich auch diese formalen Spielräume ihrerseits beantworten oder verwerfen.

      Was ist damit vorläufig für den Begriff der Form festzuhalten? Beziehungen von ›Komplexität‹ und ›Einfachheit‹ lassen sich von verschiedenen Formkonzepten her anpeilen, die den Literaturwissenschaften ein breites Begriffsrepertoire zur Verfügung stellen: von konkreten Texttypentheorien ›einfacher Formen‹ (André Jolles) und narratologischen Aspekten von ›Erzählformen‹ über strukturalistische Analysekategorien poetischer ›Selektion‹ und ›Kombination‹ (Roman Jakobson, Roland Barthes) bis zu Formbegriffen maximaler Ausweitung, die jegliche Art geordneter Muster von Elementen umfassen (Caroline Levine).35 Wenn die nachfolgenden Analysen die differenztheoretischen Überlegungen Spencer-Browns aufgreifen, streben sie eine theoretische Mittelposition an. Sie ist einerseits weit ausgerichtet: Demnach verweist der Begriff der ›Form‹ auf Prozesse des Unterscheidens, die Differenzen hervorbringen und Hervorhebungen ermöglichen – ganz gleich in welcher Gestalt, mit welchen Effekten und Dynamiken. Im Hinblick auf Erzähltexte lässt ein derart weites Verständnis zunächst offen, auf welchen Ebenen (und mit welchen narratologischen oder rhetorischen Begriffen) sich Formen greifen lassen – von Figuren und Handlungen über Redemuster und Erzählmodi bis zu Diskursmustern. Ebenso wenig beschränkt der Vorschlag die Zahl seiner Variablen: Während zwei Aktanten typischerweise die Form von Zweikämpfen, Duellen oder ›Streitgedichten‹ ausfüllen, lässt sich die Form je nach Kontext mit weiteren Variablen anreichern, substituieren oder wieder reduzieren. Wenn Spencer-Brown darauf zielt, die allgemeinen Grundlagen von Formbildungsprozessen zu erfassen,36 gibt ein formales Wettkampfmodell allenfalls allgemeine Gesichtspunkte an die Hand, mit denen die konkrete Beschreibungs- und Interpretationsarbeit erst beginnt.

      Andererseits ist ein differenztheoretisches Formverständnis nicht zu weit gefasst – es ist in besonderer Weise geeignet, Zusammenhänge von Wettkampf und Kultur hervorzuheben, die auf paradoxen Unterscheidungslogiken basieren. So potenziert die Einlagerungsstruktur von Wettkämpfen die wechselseitige Bezugnahme von Beobachtern,37 die aufeinander reagieren, indem sie füreinander Spielräume bilden, diese verändern und fortlaufend mit Bestimmungen anreichern. Wettkämpfe machen dadurch auf Dynamiken der Re-Positionierung von Beobachtern aufmerksam, die sich fortlaufend aufeinander beziehen.38 Auch diese Beobachterreflexion begleitet die Diskursgeschichte des Wettkampfs von der Spätantike bis zum Spätmittelalter. Für frühchristliche Apologeten wie Tertullian sind Wettkampfpraktiken vor allem unter den Augen Gottes zu beurteilen.39 Mittelalterliche Turnier- und Rangstreiterzählungen motivieren Wettkämpfe ausgehend von markanten Beobachterfiguren,40 entwickeln sie vor Richtern, die von ihren Formen ergriffen und nicht selten überfordert sind.41 Gerade solche Beurteilungskrisen enthüllen mehrfache Ordnungen und unsichere Zurechnungen, wie sie moderne Kulturkonzepte programmatisch in Anspruch nehmen.

      Zweitens macht das Arbeitsmodell mit seinem räumlichen Verständnis von Unterscheidungen darauf aufmerksam, in welcher Richtung solche Komplexität entsteht.42 Welche Seiten werden vertieft, auf welche Alternativen ausgegriffen? Wie näher zu untersuchen ist, neigen viele Wettkampferzählungen eher dazu, umstrittene Kontexte zu vertiefen und Beobachter zu involvieren, als sich zu metaisierender Reflexion aufzuschwingen. Das schließt einerseits an Befunde an, nach denen Kampfdarstellungen als körpergebundene Reflexionsformen der Vormoderne lesbar sind,43 verweist andererseits aber auch auf die speziellen Tendenzen von Wettkämpfen, ihre Akteure zu verwickeln und Beobachter zu involvieren.44 Wettkampfszenen des höfischen Romans arbeiten sich so gesehen in ihre Medien und Kontexte förmlich hinein. Folgt man solchen Vorüberlegungen in Richtung formaler Kulturtheorie, klingen solche Reflexionswirkungen gelegentlich tautologisch: »Der Widerstreit macht Beobachter beobachtbar, wenn auch, nach wie vor, nur anhand ihrer Beobachtungen […]«.45 Mittelalterliche Streiterzählungen hingegen entdecken dies weder auf dem Wege begrifflicher Abstraktion noch durch Selbstreflexion von Beobachtern – sondern indem sie ihre Beobachter in jene Spielräume der Unterschiede hineinziehen, die sie eröffnen.

      1.4 Grenzen des Wettkampfs

      Trotz aller Dynamik: Wettkämpfe gelangen aus den verschiedensten Gründen an ihr Ende. Ressourcen, Kapazitäten und Motivation für Fortsetzungen können sich erschöpfen;1 materielle Infrastrukturen können überfordert zusammenbrechen;2 Gewalt kann Formbildung jäh unterbrechen, institutionalisierte Regeln können die Verkettungsdynamik von Kämpfen stoppen.3 Auch vor dem formalen Abschluss von Wettkämpfen können sich alternative Ausweichmöglichkeiten anbieten, um aus Wettkämpfen auszuscheren. Solche Abbruchbedingungen sind stets in Rechnung zu stellen. Jedes Interesse an der Komplexität von Wettkämpfen stößt auf solche einfachen Zustände.4

      Aus ihrer formalen Anlage heraus scheinen Wettkämpfe jedoch Fortsetzbarkeit zu begünstigen, nicht fixierte Unterschiede.5 Oder pointiert gesagt: Wenn Wettkämpfe von Potenzierungsstrukturen vorangetrieben werden, können sie nicht ›einfach‹ enden – sie benötigen begrenzende Abbruchprozeduren. Auch dies ist aus alltäglichen Kommunikationszusammenhängen bekannt: Man beharrt auf einer Position, einigt sich auf ein Ergebnis oder verweigert nächste Schritte – und muss dafür weitere Einsätze investieren. Je nach Kontext und Streittypik bieten sich dafür unterschiedliche Lösungen, doch gehen sie auf wenige Operationen zurück:

      (1.) Insistieren: Wettkämpfe können abbrechen, indem sie ihre Werte wiederholen, ohne Differenzen erneut umzubesetzen. In diesem Fall schrumpfen Wettkämpfe zu einfachen Formen, die keine weiteren Kontexte erschließen, indem sie alternative Hervorhebungen und Seitenwechsel aktiv ausschließen. Insistieren bedeutet nach dieser Transformation: Die Form wird zwar rekursiv fortgeführt, bleibt so gesehen produktiv, doch erlischt ihre Wettkampfstruktur.

      (2.) Blockieren: Umgekehrt enden Wettkampfformen, die den Zustand ihrer Variablen festhalten, ohne diese erneut zu reproduzieren. Während insistierende Verhaltensweisen rasch die Wettkampfform auflösen und mit repetitivem Aufwand vergessen machen, bewahren Blockaden einen Strukturzustand der Wettkampfrelation. Siege basieren in diesem landläufigen Sinne auf formalen Blockaden.

      (3.) Stabilisieren: Eine dritte Art der Begrenzung entwickeln Wettkämpfe, die ihre Form auf Gedächtniseffekte umstellen, also die Werte ihrer Variablen festhalten und wiederholen. Formal betrachtet kombinieren sie Momente des Insistierens (indem sie die Form reproduzieren) mit Momenten des Blockierens (indem sie Werte festhalten). Stabilisierte Wettkämpfe sichern dadurch nicht bloß Relationen als Ergebnisse, sondern stellen diese für weitere Formbildung zur Verfügung. Das Ende des Kampfes wird dadurch beispielsweise zum Beginn von Tradition.

      1.5 Reduktion oder Steigerung von Komplexität?

      Siegen, so bemerkt schon Aristoteles lapidar über das Streitgespräch, »kann nicht mehr als einer«.1 Scholastische Disputationen bieten eine Vielzahl an Argumenten auf, um schließlich eine eindeutige Antwort festzusetzen.2 Für Thomas Hobbes zielen Wettkämpfe darauf, den anderen zu töten, zu unterwerfen und gesellschaftlich auszulöschen.3 Neigen Wettkämpfe also nicht eher dazu, Differenz gewaltsam zu vereinfachen statt zu vervielfältigen? Sind Vergleichsperspektiven nicht allenfalls Nebeneffekte von Strategien, die eigentlich auf Dominanz und Ausschluss des anderen zielen?4 Weshalb sollten sich dann ausgerechnet Wettkampfformen für Experimente der Pluralisierung anbieten?

      Diese Ambivalenz lässt sich so wenig ausräumen, dass man geradezu von ihr ausgehen sollte.5 Denn einerseits wirken Wettkämpfe reduktiv, insofern sie Differenz in gemeinsamen Formzusammenhängen integrieren und unterwerfen. Darin tritt ein grundsätzlich zerstörerischer Zug zutage. Andererseits wirken Wettkämpfe der Reduktion von Differenz entgegen, insofern sie fortgesetzt Asymmetrien unterwandern, Bezeichnungen