Bent Gebert

Wettkampfkulturen


Скачать книгу

Dynamiken freisetzen. Einiges spricht also dafür, diese Spannung nicht als Defizit, sondern geradezu als Leistungsprofil von Wettkämpfen zu verbuchen: Sie bilden Formen von hoher Anziehungskraft, die fortlaufend Redundanzen aufwerfen, überprüfen und vereinfachen.6 Wettkämpfe verhandeln Identität, indem sie Relationen dynamisieren und Unterscheidungen aufs Spiel setzen – selbst dann, wenn dieses Spiel auf Ausschlüsse und Asymmetrien zielt.7 Diese Spannung prägt auch Wettkampfformen des Mittelalters. Einflussreiche religiöse Texte entwerfen Allegorien des Widerstreits, die Verhältnisse der Vielfalt zugleich als Gefahr der Zerstörung werten.8 Gott schmücke die Welt wie ein Gedicht mit unzähligen Gegensätzen (opposita), doch solle der Mensch diese Vielfalt auf die alles begründende Leitdifferenz von Gott und Welt zurückführen.9 Zwischen einfachen und komplexen Antworten changieren nicht zuletzt auch die Entwürfe kultureller Selbstbeschreibungen, die höfische Texte mittels Wettkampfformen erzählen. Man sieht sie genauer, wenn man von einseitigen Festlegungen und Entwicklungserwartungen ›von Einfachheit zu Komplexität‹ absieht.10

      1.6 Zwischenbilanz

      Das Arbeitsmodell ist damit im Kern umrissen. Die nachfolgenden Studien fragen danach, wie narrative Texte des deutschsprachigen Mittelalters Unterscheidungen produzieren, diese alternieren lassen und dabei komplexe Bezeichnungsräume organisieren. Auch Abgrenzungen sind damit gezogen: Nicht relevant für die Erzählgeschichte agonaler Pluralisierung sind solche Fälle, in denen Differenzen entweder nur vertieft oder nur entgrenzt werden. Ein zweites Ziel des Abschnitts bestand darin, mit Hilfe dieses formalen Wettkampfmodells heuristische Fragen anzuregen. In welche Richtungen entwickeln Wettkämpfe ihre Differenzen? Welche erzählerischen Mittel investieren sie, um Bezeichnungen zu dynamisieren? Welche Effekte, welche Stabilität rufen sie hervor? Und welche Arten von Unbestimmtheit gewinnen Wettkampferzählungen aus ihren formalen Arrangements? Die folgenden Analysen stellen diese Fragen an die Erzähltexte selbst.

      2 Komplexität

      […] ubi pluralitas ibi discordia […] (Wilhelm von Ockham)1

      Wettkämpfe, so lautet die Hauptthese der Arbeit, begünstigen die Entstehung von Komplexität selbst dann, wenn sie von einfachen Strukturen ausgehen oder einfachen Zuständen zustreben. Damit bleibt als letzter theoretischer Baustein zu sondieren, was unter Komplexität zu verstehen ist. Einschlägige Überblicke führen die Breite an Begriffsangeboten, aber auch deren Klärungsschwierigkeiten rasch vor Augen:2

      Komplexität ist nicht leicht zu definieren, zumal es zahlreiche miteinander konkurrierende Definitionen gibt. Bewährt sind die Definitionen von Komplexität als Überforderung des Beobachters durch ein Phänomen, das viele heterogene Elemente in wechselnden und sich im Zeitablauf ändernden Relationen untereinander aufweist, zugleich Einheit und Vielfalt, zugleich Unordnung und Regelmäßigkeit aufweist und offenbar dank Selbstorganisation in der Lage ist, Probleme seiner Reproduktion zu lösen, ohne dass der Beobachter in der Lage wäre, nachzuvollziehen, wie es das tut.3

      Eine solche Einschätzung ist charakteristisch für Untersuchungen, die sich auf den Komplexitätsbegriff einlassen. Einerseits lässt sich die Vielzahl »konkurrierende[r] Definitionen« kaum ignorieren. Andererseits zwingt dies oft zur pragmatischen Konzentration auf Gesichtspunkte, die sich im jeweiligen Forschungskontext »bewährt« haben – ob für Fragen soziologischer Netzwerkforschung, der Biologie adaptiver Systeme oder der Erforschung von ›artificial intelligence‹. Trotz hoher transdisziplinärer Anschlussfähigkeit werden dadurch selten die theoretischen Anregungen ausgeschöpft, die der Begriff der Komplexität aus verschiedenen Disziplinen gewinnt.

      2.1 Mediävistische Perspektiven

      Wenn Studien der mediävistischen Literaturwissenschaft von Komplexität sprechen, stehen zumeist Abgrenzungen gegenüber einfacher strukturierten Phänomenen zur Diskussion. Romane wie Kurzerzählungen stützen sich auf ›einfache Formen‹, stereotype Elemente und narrative Schemata, kombinieren, variieren und hybridisieren diese jedoch zu Strukturen, die Handlungsverknüpfungen mehrdeutig und Figuren brüchig machen, Alternativen ausstellen oder gar für unentscheidbare Zurechnungsmöglichkeiten sorgen.1 ›Komplexität‹ liefert eine hermeneutische Vokabel, um »Überlagerung der Bedeutungen« zu bezeichnen, die etwa in höfischen Romanen den Eindruck von »Uneindeutigkeit des Sinns«2 verstärkt oder in zyklischen Reihen von Heldenepen zur »Sinnkomplexion«3 einfacher Basisplots führt. Kombination und Wiederholung werden als Verfahren komplexen Erzählens gehandelt.4 Dialoge gelten als komplex, wenn sie »ein gesteuertes und zugleich unkalkulierbares Wechselspiel« inszenieren und damit für Emergenzeffekte sorgen.5 Auch religiöse Textsorten wie Legenden pendeln zwischen einfacher Pragmatik und rhetorischen Überschüssen des Erzählens,6 geistliche Spiele changieren zwischen liturgischer Heilsvermittlung und wuchernden Abweichungen.7 In allen diesen Fällen sind Zuschreibungen von Komplexität prominent, wie eine ausführlichere Bestandsaufnahme nachweisen könnte.

      Dass viele Texte komplex sind, gilt als ausgemacht. Selten ist dabei jedoch geklärt, was ›komplex‹ in analytischer Hinsicht genau heißt. Obwohl seit langem alteritäre Logiken mittelalterlichen Erzählens erforscht werden,8 hat die Mediävistik ausgewiesene Komplexitätstheorien kaum aufgenommen. Wo ausdrückliche Stichwortgeber in Anspruch genommen werden – von André Jolles’ »Einfachen Formen« bis zur Systemtheorie Niklas Luhmanns –, werden Komplexitätsbegriffe zwar zitiert, doch meist ohne deren Prämissen zu diskutieren, im Hinblick auf spezifische Gegenstandsbereiche mittelalterlicher Literatur zu modifizieren und im Kontext jüngerer Debatten zu aktualisieren.9 Dass ein Text ›komplex‹ sei, liefert also seltener ein analytisches Argument, häufiger dafür ein normatives Wertprädikat: Erzählungen gelten dann als besonders interessant, wenn sie zu einer »komplexeren Textordnung« führen als andere Fälle;10 diskussionswürdig wird eine Wiedererzählung im Vergleich zu anderen Adaptationen, wenn sie eine besonders »komplexe Verhandlung« ihres Themas anregt.11 Auch im Verhältnis von Objekt- und Beobachtungsebene bezeichnet der Komplexitätsbegriff vor allem schwierige Konstellationen, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen.12 Doch wodurch sich diese Komplexität genauer auszeichnet, darüber besteht – jenseits von Hinweisen auf Schemata und Muster – gründlicher Dissens und viele Einzelantworten.13

      Oberflächlich betrachtet scheint die literaturwissenschaftliche Rede von Komplexität somit oft ähnlich unscharf wie der Begriff der Kultur. Doch während dieser häufiger überbestimmt wird, d.h. in verschiedenartigsten Varianten aufgerufen und mit verschiedenartigsten Aspekten besetzt wird, bleibt das Argument der Komplexität öfter unterbestimmt. Es stellt weder den Rahmen für Textanalysen noch ein geschärftes Analysewerkzeug bereit, sondern beschließt häufig Argumentationszüge, statt diese weiter zu erhellen. Nicht selten artikuliert das Stichwort der Komplexität gewissermaßen »Seufzer« über die Grenzen der Beschreibbarkeit – oder beschwört ein solches »Flair der Intransparenz und der Unbestimmbarkeit« geradezu als Auszeichnung.14

      Mit starken Wertungen ausgestattet, aber mit schwachen Analyseaufgaben belastet, wirken Komplexitätszuschreibungen dadurch auf eigentümliche Weise programmatisch und vage zugleich. Selbstverständlich ist die Mediävistik damit im Kreis der Kulturwissenschaften nicht allein.15 Präferenzen für ›komplexe Texte‹ wurzeln allgemein in normativen Wertungen, die literarischen Texten ein erhöhtes Maß an »Vielschichtigkeit und Komplexität« zuschreiben.16 Und selbstverständlich benötigt jede Wissenschaft solche geltungsstarken, aber unsauberen Begriffe, um Forschungsfelder mit Relevanz auszuzeichnen und gleichzeitig ihre Zugriffsmöglichkeiten zu begrenzen. Problematisch wird es jedoch, wenn zentrale Phänomene zu unterbelichteten Stellen werden. Für die Frage nach narrativer Vervielfältigung bezeichnet der Komplexitätsbegriff keine periphere, sondern eine solche zentrale Leerstelle in der mediävistischen Diskussion. Welche Anregungen könnten helfen, diese Leerstelle zu füllen?

      2.2 Transdisziplinäre Komplexitätsforschung: Anregungen und Risiken

      Ein möglicher Weg wäre, Verhältnisse von Komplexität und Einfachheit auf Kernfragen zu literarischen Gattungen, Epochen und Medien zurückzubeziehen – und schillernde Wertzuschreibungen konsequent auszuklammern. Ein riskanterer, aber möglicherweise lohnenderer Schritt wäre es, über die literaturwissenschaftliche