Bent Gebert

Wettkampfkulturen


Скачать книгу

eine Vielzahl von Leitdefinitionen aus Informatik, Sozial-, Natur- und Ingenieurswissenschaften ins Blickfeld, die sich keineswegs unbesehen importieren lassen. Denn je nach Gegenstandsbereich unterscheiden sich schon die Definienda erheblich: Ökonomie, Physik und Biologie etwa untersuchen die Dynamiken ›komplexer Systeme‹, »in which large networks of components with no central control and simple rules of operation give rise to complex collective behavior, sophisticated information processing, and adaptation via learning or evolution.«1 Selbstorganisation, Intelligenz und Effekte unvorhersagbarer Emergenz gehören zu den Kernmerkmalen, die auch Komplexitätstheoreme zur ›artificial intelligence‹ in den Mittelpunkt stellen.2 Die Informatik bezeichnet mit dem Komplexitätsbegriff »den Aufwand von Zeit, Beschreibung und Größe des Computerprogramms zur Berechnung einer Funktion bzw. eines Problems«,3 verwendet das Konzept also als Rechenmaß von Prozeduren. Netzwerkanalysen und Systemtheorie betrachten eine »Menge von Elementen« als »komplex«, »wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann«.4 Keine Basisdefinition ist jedoch bislang gefunden, die alle Felder der Komplexitätsforschung transdisziplinär umgreift.5 Allenfalls lassen sich verschiedene Typen von Komplexität greifen: Messen kann man etwa die Entropie komplexer Phänomene, ihren algorithmischen Informationsgehalt, ihre logische Struktur oder thermodynamische Tiefe, ihre Berechnungskapazität und statistische Eigenschaften, ihre fraktalen Dimensionen und Hierarchiegrade u.v.m.6 Folgt man diesen Ansätzen auf ihre jeweiligen Gebiete, wird rasch deutlich, dass der Komplexitätsbegriff nicht bloß auf unterschiedliche Größen angesetzt wird (z.B. auf Verhalten und Programme, auf strukturelle Kapazitäten und rechnerische Eigenschaften), sondern auch als Theorieinstrument höchst unterschiedlichen Aufgaben dient (z.B. der Rekonstruktion und Exploration, der Beschreibung und Bewertung). Trotz theoretischer Schärfung sind solche Begriffsverwendungen schwer in literaturwissenschaftliche Zusammenhänge zu übertragen, wenn man nicht zugleich die mathematischen, statistischen oder technischen Implikationen offenlegt, die solche Anregungen mit sich bringen. Ausgewiesene Komplexitätstheorien stellen dann vor die (neuen) Aufgaben, sich mit Rechnen und Statistik, empirischen Experimenten und künstlicher Intelligenz beschäftigen zu müssen, ohne dass ausgemacht wäre, dass ihre Epistemologien überhaupt auf literarische Objekte anwendbar sind. Keineswegs wird man jedenfalls Theoreme unbesehen übernehmen können, die an kollektiven intelligenten Systemen, biologischer Evolution oder Modellen des adaptiven Problemlösens entwickelt wurden.7

      Statt Definitionen zu übernehmen, könnte man dazu einen weiteren Schritt zurückgehen und prüfen, wie fruchtbar die grundsätzlichen Fragen für literaturwissenschaftliche Zwecke sind, auf die Komplexitätstheorien antworten. Seth Lloyd zufolge sind drei Dimensionen besonders einschlägig, um Komplexität zu bemessen: »1. How hard is it to describe? 2. How hard is it to create? 3. What is its degree of organization?«8 Zweifellos vereinfachen solche Fragen die Auseinandersetzung erheblich, indem sie den Komplexitätsbegriff überterminologisch handhabbar machen – doch geben sie für die Analysearbeit wenig an die Hand. Vielleicht empfiehlt sich daher, nach Anhaltspunkten zu suchen, die sich auf mittlerer Ebene konkretisieren lassen.9 In diesem Sinne könnte es fruchtbar sein, zu beschreiben, in welchem Maße Wettkämpfe

       reduzible oder irreduzible Differenzen erzeugen,10

       diese mit Bestimmungen versehen oder aber unbestimmt lassen,11

       ihre Ordnungen vertiefen oder aber neue Strukturen entwerfen12

       und inwiefern dieses Ergebnis messbar ist, d.h. inwiefern die Frage nach dem »Maß« von Komplexität auf bestimmbare Größen oder Funktionen führt.13

      Für die Untersuchung von Wettkampferzählungen liefert dies präzise Gesichtspunkte, an denen sich die nachfolgenden Analysen orientieren.

      2.3 Flechten und Falten

      Lassen sich damit auch die Erwartungen schärfen, worin die Vielfalt von Wettkampfkulturen bestehen könnte, als nur von bloßer Vielzahl möglicher Unterschiede auszugehen? Die vorliegende Arbeit schlägt dazu vor, den Begriff der Komplexität beim Wort zu nehmen, wie die Informatikerin Melanie Mitchell erinnert: »The word complex comes from the Latin root plectere: to weave, entwine. In complex systems, many simple parts are irreducibly entwined, and the field of complexity is itself an entwining of many different fields.«1 Com-plexio meint dementsprechend, Teile in einem Zusammenhang zu verweben oder zu flechten, ohne deren Elemente und Relationen reduzieren zu können (»irreducibly«). Wenn Mitchell auch die Forschungspraxis als ›verflochtene‹ Felder betrachtet, wird das assoziative Übertragungspotential der vestimentären Metapher offenkundig. Es erschöpft sich nicht im Wortspiel, sondern verweist auf eine reiche Begriffsgeschichte, die Komplexität als ›Verknüpfen‹ und ›Verweben‹ beschreibt.2 Ihr entspringt auch der Begriff der ›Faltung‹, der auf »Unterscheidungen« zielt, »die das Unterschiedene gleichzeitig als Identisches kennzeichnen«.3 Wie das ›Verweben‹ akzentuieren ›Falten‹ nicht nur Differenz, sondern setzen einen Stoffbegriff voraus, der auf mediale Einheit aufmerksam macht. Soziologische Konflikttheorien sprechen so zum Beispiel von ›Einfaltung‹ (›folding-in‹), wenn sie die Assimilation außenstehender Personen in eine Gruppe bezeichnen.4 Aber auch Streit kann ein Interaktionsmedium sein, in dem sich Streitende »[v]erweben«.5

      Man muss also keineswegs die Emphase poststrukturalistischer Philosophien für irritierende Faltungen (›pli‹) teilen, um den analytischen Wert von Komplexitätsmetaphern anzuerkennen. Denn: »Bei Faltungen muß gefragt werden, wie die Entfaltung jeweils vonstattengeht, wie also die Unterschiedenheit des Identischen oder die Identität des Unterschiedenen gehandhabt werden soll.«6 Wenn Wettkämpfe solche formalen Einheiten des Unterschiedenen erzeugen, wäre ihre Komplexität darin zu bestimmen, wie diese gefaltet, d.h. unterschieden wird.

      Wie ergiebig sind diese Gesichtspunkte für mittelalterliche Wettkampfkulturen? Nur kurz ist daran zu erinnern, dass sie sich keineswegs auf Differenzdenken und Sozialtheorien der Moderne beschränken. Sie sind schon dem Mittelalter geläufig, und dies nicht nur auf dem Höhenkamm spekulativer Theologie, sondern selbst in einfachsten Texten. Jacobus de Voragine etwa greift die Metapher des Faltens u.a. in seiner Silvester-Legende auf, um die interne Komplexität der Trinität handgreiflich zu veranschaulichen:

       Et accipiens purpuram imperatoris tres ibi plicas fecit dicens: »Ecce uidete tres plicas«. Et explicans ait: »Ecce quia tres plice sunt unus pannus, ita tres persone sunt unus deus.« 7

      (Und er nahm den Purpurmantel des Kaisers, faltete ihn dreimal und sprach: »Seht hier die drei Falten.« Daraufhin erläuterte er: »Seht, dass die drei Falten ein einziges Tuch sind. So sind auch die drei Personen ein Gott.«)

      Theologische Differenzspekulationen setzen auf die Metapher des Faltens, um ein komplexes Modell substantieller Einheit zu illustrieren. Anders als im Falle Gottes gilt für Wettkampfformen jedoch keineswegs, dass diese Komplexität nur auf interne Differenz verweist: Werfen Falten grundsätzlich Seiten auf, stehen prinzipiell zwei Richtungen offen, um weitere Differenzen aufzuwerfen; ziehen Wettkämpfe prinzipiell an, können ebenso unterschiedliche Stoffe verwoben werden. Daher fragen die nachfolgenden Analysen sowohl nach Einfaltungen (Formen interner Differenzierung) als auch nach Ausfaltungen (Formen externer Differenzierung) und damit nach der Pluralisierung grundsätzlicher Richtungen, in denen Komplexität anwachsen kann.

      Offen ist ebenfalls, in welchen ›Stoffen‹ literarische Wettkämpfe diese Differenzen produzieren, wenn damit nicht nur Themen und Motive, sondern Kontexte und Medien im weiten Sinne gemeint sind. Wie die untersuchten Texte demonstrieren, reichen solche Kontexte und Medien von konkreten bis zu abstrakten Einheiten, von Wettkämpfen in Seelen, Körpern und Herzen über Kampfplätze und Arenen bis zu allegorischen Zeichenräumen und narrativen Stimmen. Sie alle werden von Wettkämpfen formal bearbeitet: Entsprechend bemisst sich die Komplexität agonaler Seelen und Herzen, Arenen und Allegorien daran, wie viele Unterscheidungen diese auf welchen Seiten einsetzen; und die spezifischen Qualitäten solcher Entwürfe lassen sich danach genauer beschreiben, inwiefern diese durch literarische Mittel als (un)reduzierbar, (un)bestimmt oder (un)gerichtet ausgewiesen werden.

      Zugleich hält die Leitmetapher des Faltens aber