Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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durchziehen, finden sich eingehendere Antworten als bloße Schwüre – von der Fredegar-Chronik bis zur Heldenepik des Spätmittelalters.8 Es betrifft drittens alternative Wirkungen der Dinge: Gaben können vor der Schlacht abgelehnt werden, aber auch symbolischen Ausgleich oder Unterwerfung herbeiführen und dadurch gemeinsame Ordnung (ganz gleich welcher Form) stiften. Zahlreiche Wege zur Vereinfachung wären also denkbar. Wodurch werden die Wettkampfprinzipien der Latenz und der Transzendenz dann aber voneinander unterschieden und miteinander in Geltung gehalten? Wodurch ermöglicht und provoziert das Hildebrandslied diese doppelte Formbildung? Die wenigen überlieferten Verse diskutieren diesen Punkt nicht explizit. Doch kann man ihn mit jenem heuristischen Argument rekonstruieren, das Jan-Dirk Müller als ›Spielregel‹ von Texten beschrieb, die widersprüchliche oder unwahrscheinliche Ordnungen miteinander konfrontieren, ohne sie in stimmiger Handlungsführung oder einheitlichen Darstellungsnormen aufzulösen.9 Fragt man also danach, was das Hildebrandslied ausschließen muss, um seine Konfrontation derart abzustimmen, lassen sich zwei Regeln entziffern, die das Geben und Nehmen regulieren. Erstens: Gemäß heroischem Komment gibt der Ältere nie zuerst seinen Namen preis.10 Zweitens: Vom Gegner nimmt man keine Geschenke an.11 Während die erste Beschränkung verhindert, dass Hildebrand sich bereits zu früherem Zeitpunkt und unabhängig von schillernden hunnischen Armreifen als Sippenmitglied ausweist, unterdrückt die zweite Beschränkung eine friedliche Aussöhnung im Medium der Gabe. Gedächtnis und Gaben, die doch so aufdringlich hervortreten, müssen also auf Figurenebene geradezu ostentativ zurückgehalten und begrenzt werden. Das Lied erweckt dadurch den Eindruck, Hildebrand und Hadubrand verkennten einander gezielt, indem sie Identifizierungsangebote eröffnen und verweigern.12

      Auch das hat formale Aspekte. Das betrifft zum einen Latenzen, die sich prinzipiell aufdecken lassen.13 Doch auffälligerweise hält Hildebrand die Möglichkeit ausgeschlossen, latentes Sippenwissen aufzudecken, über das er durchaus detaillierter verfügt, wie er unterstreicht. Hadubrand möge ihm nur einen Namen nennen, so wisse er alle anderen zu nennen, denn er kenne jedermann:

       ibu du mi ęnan sages, ik mi de odre uuet,

       chind, in chunincriche: chud ist mir al irmindeot.

      (V. 12f.)

      Wenn du mir einen nennst, kenn ich die andern;

      in diesem Königreich, junger Mann, sind mir alle Großen bekannt.

      (Übers. Haug)

      Genau dies aber tut der Vater nicht: Das Versprechen vollkommenen Erkennens bleibt uneingelöst.14 Statt mit Auskünften zum ausgedehnten Sippennetz antwortet Hildebrand mit einem kompakten Geschenk, das seine huldi (V. 35) vor Gott bezeugen soll. Angedeutet und abgewiesen wird damit die Alternative, sich mit genealogischem Vorwissen zu akkreditieren.15 Auch Hildebrands zweite Apostrophe wiederholt dies: Zwar erinnert ihn die Rüstung seines Sohnes kurz an seine eigene Vasallengeschichte, doch bricht Hildebrand erneut ab. Angedeutet wird ein zweites Mal die Möglichkeit, latentes Wissen aufzudecken und direkt zu beantworten, was ein zweites Mal auf Transzendenz ausgelegt wird.

      Umgekehrt verwehrt der junge Hadubrand Transzendenz – im strukturellen Sinne also alles, was unerwartet auf ihn hereinbricht. Gaben soll man mit dem Speer empfangen, Spitze gegen Spitze, wie er »verblendet« in V. 37f. entgegenhält.16 Weder die Transzendenz der Gabe lässt dies kommen,17 noch gewährt es irgendeine Atempause, in der sich die mehrschichtige Verknüpfung von Schenkendem und Empfangendem überhaupt näher verhandeln ließe, die da auf ihn hereinbricht.18

      Einen derart profilierten Kontrast von angedeuteten Alternativen und Ausschluss wird man zwar als planvoll, aber kaum mehr als tragisch auffassen können.19 Anders als vergleichbare indoeuropäische Wandersagen vom Vater-Sohn-Kampf aus Unwissen stellt das Hildebrandslied somit überdeutlich die Kontingenz der Streitkommunikation heraus,20 in der das eigenartige Verkennen der Figuren nur durch selektive Beschränkungen gewonnen wird,21 die für heldenepische Konfrontationen keineswegs üblich sind. Formal betrachtet kann man die Wettkampfbedingungen des Hildebrandsliedes also vielleicht noch prägnanter fassen: Latenz und Transzendenz dürfen im Streit zwar nebeneinander treten, nicht aber ineinander greifen, um das labile Strukturgleichgewicht nicht aufzulösen. Während der Vater nichts aufdecken darf, kann der Sohn nichts annehmen. Das Hildebrandslied unternimmt alles, um solche Kurzschlüsse zu verhindern.

      Dazu ist es nötig, andere Regeln der Heldenepik außer Kraft zu setzen. Um es lapidar zu sagen: Helden erkennen einander sofort, spätestens im Kampf – verglichen mit Täuschungs- und Verkleidungshandlungen höfischer Erzählungen verlangen Heldenepen jedenfalls weitaus anspruchslosere Schritte der Identifizierung.22 Verkennen wird dann zur unwahrscheinlicheren, künstlicheren Gattungsoption, die rasch zusammenfallen kann. Die Hildebrand-Figur ist für solche Markierung von Künstlichkeit und ihrer Auflösung ein besonders beliebter Kandidat der Heldenepik, wie das Epos von Alpharts Tod in einer ähnlichen Situation illustriert. Auch hier begegnen sich unerkannt Verwandte im Zweikampf. Ähnliche Vorzeichen – Ausweglosigkeit auf der einen Seite, Täuschungsvorwürfe auf der anderen Seite – finden jedoch rasche Auflösung:

       »Du salt mych laßen leben! Ich bins, din ohem Hilbrant.«

      […]

       »Solt ich den hye finden? Das yst nit war und yst gelogen.

       Du wylt dich da myt frysten, drutgeselle myn,

       dych hylffet nit din lyste, ys muß dyn ende sin,

      der großen ungenoden«, sprach der rytter gut[.]

      […]

       »Neyn ich, uff myn truwe«, sprach Hyldebrant,

       »es must dych umber ruwen, slug mych din hant.

       Bynt myr den helm von den augen so zuhant

       und syech myr under dye augen, so werde ich dyr bekant!« 23

      Genau dieser Aufforderung kommt der Junge nach: Er sach im under die augen, er wart im schyer bekant (V. 533.). Weder insistiert der Jüngere auf Verdacht und Täuschungsvorwürfen, noch hält der Ältere am heroischen Komment fest – in nur einem Vers schaltet das Heldenepos des 13. Jahrhunderts auf heroisches Erkennen. Auch das jüngere Hildebrandslied bevorzugt im 15. Jahrhundert einen Kurzschluss zum ›happy ending‹ der Anerkennung. Im literaturgeschichtlichen Rückblick wird an solchen Beispielen sichtbar, wie das frühmittelalterliche Heldenliedfragment solche Lösungen gerade zu vermeiden sucht.

      Das ältere Hildebrandslied bevorzugt andere Möglichkeiten, um die Differenz von Latenz und Transzendenz aufrechtzuerhalten. Nicht der Horizont von Figuren – etwa ihr Wissen: was ahnen bzw. verdrängen beide voneinander? – ist dafür entscheidend.24 Ihre Einheit verdichtet sich vielmehr dingsymbolisch in Gestalt goldener Armreifen, die Hildebrand dem Sohn bietet, ohne dass sie die Seiten wechseln, sondern auf der Grenze bleiben. Auch formal fungieren sie als Grenzobjekt mit gegenläufigen Verweisungsrichtungen: Als Hunnenschmuck halten sie für Hadubrand latent eine fehlende Geschichte bereit; als Freundschaftsgabe oder Unterwerfungsaufforderung25 begleitet sie Hildebrand mit einem transzendenzorientierten Schwur. Aber weder die Gaben dürfen die Seite wechseln, noch die Formen, in denen der Wettkampf die Gegner gegenüberstellt. Zwischen den Heeren und zwischen den Speerspitzen bleiben die Armreifen somit im wahrsten Sinne des Wortes ›Zwischen-Dinge‹, die den Raum der Differenz in zwei Richtungen offenhalten.26 Die abgewiesenen Alternativen der Konfliktauflösung finden in den abgewiesenen Gaben ihr Pendant. Beide akzentuieren Kontingenz als Möglichkeitsüberschuss, der zwischen den Heeren entsteht, ohne ineinanderzufallen, harmonisiert oder aufgelöst zu werden, so flüchtig auch von ihnen nur die Rede ist.

      1.5 Die doppelte Form des Wettkampfs

      Welche kulturtheoretischen Einsichten lassen sich daraus gewinnen? Die Frage verführt zum begriffsgeschichtlichen Sprung. Etwas als kulturell zu begreifen, heißt spätestens seit dem 18. Jahrhundert explizit, stets mehr als nur eine Perspektive, mehr als nur einen Wertungsmaßstab, mehr als nur eine Ordnung in Rechnung zu stellen, sobald es zu vergleichen