Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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sie Wege der Lektüre und Interpretation. Komplexitätstheoretische Leitfragen können diesen Weg präziser abstecken, ändern aber nichts an seiner hermeneutischen Ausrichtung.

      2.4 Kulturelle Komplexität

      Welche kulturtheoretischen Einsichten kann man aus diesen methodischen Vorüberlegungen für Wettkampferzählungen des Mittelalters ableiten? Es scheint verführerisch, von dem skizzierten differenztheoretischen Verständnis von Vielfalt auf die »Komplexität des kulturellen Zusammenhangs« zu schließen,1 in den Texte »eingebettet« sind und der ihre spezifischen Selektionen und Konfigurationen wiederum »steuert«.2 Sozialhistorisch wie ethnographisch orientierte Ansätze führt dies von Texten zu Kontexten des »kulturelle[n] Umfeld[s]«,3 kultursemiotische Ansätze zur allgemein geteilten Grammatik von Zeichen.4 Ebenso bekannt sind jedoch die Verschiebungen, die direkte Kurzschlüsse zwischen Text- und Kulturbegriffen verwehren. Texte rufen nicht nur soziale Logiken ihres ›kulturellen Umfelds‹ in eigenen Arrangements ab,5 sondern selegieren, evaluieren und modifizieren diese anders als die »sog. ›wirkliche‹ Welt«.6

      Nicht nur Literatur- und Geschichtswissenschaft, auch Kultur- und Komplexitätstheorien betonen diese Differenz zwischen Einzelobjekten und größeren Ordnungen, versuchen sie aber gleichzeitig zu überbrücken. So dient etwa das Konzept der ›Selbstähnlichkeit‹ dazu, Beschreibungen komplexer Strukturen zwischen Mikro- und Makroebene zu vermitteln,7 und es wird ebenso ins Feld geführt, um Diskrepanzen zwischen kultureller Praxis und begrifflicher Analyse zu vermitteln.8 Rekursive Schleifen (›loops‹) und Muster (›patterns‹) sind beliebte Strukturen, um kognitive, mediale und soziale Komplexität zu verbinden.9 Da Wettkämpfe in hohem Maße auf Muster bezogen sind, wären sie privilegierte Ansatzpunkte, um an ihnen die formale Komplexität von Kultur zu bestimmen.

      Die bisherigen Vorüberlegungen stimmen jedoch vorsichtig. Wie diese Komplexität auszuwerten ist, steht und fällt mit dem Kulturbegriff, der weniger eine Prämisse als vielmehr den Erkenntnisgegenstand einer Kulturwissenschaft der Vormoderne darstellt. Zu bezweifeln ist darüber hinaus, dass sich »ästhetische Komplexität« analytisch eindeutig bestimmen ließe, wenn die »Verwebungsdichte möglicher oder aktualisierter Relationen zwischen den Elementen« gerade im Falle mittelalterlicher Texte von schwer zu rekonstruierenden Rahmen- und Rezeptionsbedingungen abhängt.10 Vorläufig festzuhalten ist lediglich, dass Aspekte des Unterscheidens und Vergleichens zu den weit geteilten (wenngleich nicht universalen) Merkmalen von Kulturkonzepten gehören. Wenn sich die Arbeit also offenhält, welche Formen von Kulturalität mittelalterliche Wettkampferzählungen zu erkennen geben, dann wäre nach den vorangegangenen Überlegungen allenfalls zu fragen, inwiefern diese Vergleichspraxis als (un)reduzierbar und (un)bestimmt entworfen wird, wie und wodurch sie Differenz und Abweichung kreiert, in welchem Maße Ergebnisse konstatiert oder (neu) kalkuliert werden. Nicht alle Aspekte von Wettkämpfen sind also relevant, um deren kulturelle Komplexität zu rekonstruieren, sondern im engeren Sinne nur die Eigenschaften von Unterscheidungen, die das Unterschiedene in Beziehung setzen.

      2.5 Komplexität durch Wettkampf

      Auch außerhalb der historischen Kulturwissenschaften sind zahlreiche Vorschläge zu finden, die Wettkampf und Kultur engführen. Man hat in »gutem (agonalem) Streit« einen »Motor von Kultur« gesehen,1 Kultur schlechthin als »Widerspruchsmuster«2 beschrieben oder paradox »als Widerstreit gegen die Gesellschaft in der Gesellschaft«.3 Will man Zusammenhänge zwischen Wettkampfformen und Komplexitätsbildung differenzierter beschreiben, könnte man auf Merkmale komplexer Systeme zurückgreifen, die ebenso viele Wettkämpfe charakterisieren:4 Sie (1.) aggregieren Aktanten, (2.) fokussieren bestimmte Dimensionen und heben hervor, (3.) bilden Konstellationen, die Anderes sind bzw. andere Eigenschaften besitzen als die Summe ihrer Akteure, (4.) vollziehen sich über wechselweisen Austausch, (5.) sorgen für Differenzen und Grenzen, (6.) erfordern oder erzeugen Strategien und (7.) rekombinieren oder erzeugen Handlungen. Gleichwohl sind solche und andere Merkmalslisten mit Vorsicht zu behandeln, sofern sie auf Komplexitätsmodelle für adaptives Problemlösen, soziale Interaktion usw. zurückgehen.

      Dies gilt auch für die Streitsoziologie, aus der sich weitere Leitmotive wie etwa die strukturelle Unterscheidung von Subordination und Koordination gewinnen lassen. Schon Georg Simmels »Soziologie des Streits« bietet feinsinnige Strukturbeschreibungen agonaler ›Verwebung‹. So fänden sich in Hofgesellschaften des 13. Jahrhunderts etwa »Versammlungen von Edelleuten«, die nicht nur dem Interesse des Fürsten z.B. in Verwaltungsaufgaben dienten, sondern auch selbständige Interessen »gegen den Fürsten« verfolgten; »Interessengemeinschaft« und »oppositionelle Bewahrung […] fanden sich in diesen Gebilden nicht nur ungesondert nebeneinander, sondern ineinander«.5 Während Simmel die verschiedenen Sphären des Streits sonst zumeist als Dynamiken von Näherung und Distanzierung charakterisiert (»Konvergenz und Divergenz in den menschlichen Beziehungen«6), hebt er damit horizontale und vertikale Strukturmöglichkeiten sozialer Komplexität hervor, die einander überlagern können. Für eine formale Betrachtung von Wettkämpfen könnte es fruchtbar sein, diesen Gedanken über Simmels Fallbeschreibung hinaus zu tragen: Wettkämpfe allgemein vervielfältigen ihre Form, indem sie zwei Arten von Differenzstrukturen kombinieren und variieren, die unterordnende (subordinierende) und nebenordnende (koordinierende) Beziehungen aufbauen. Das ist auch der Forschung zu Streitgedichten bekannt, die Relationen untergeordneter bzw. gleichrangiger Sprecher inszenieren.7 Doch führt es meines Erachtens weiter, damit nicht einzelne soziale Sphären oder Kommunikationstypen zu unterscheiden, sondern ›vertikalisierende‹ und ›horizontalisierende‹ Züge, mit denen jede Streitform operiert. Subordinationen entstehen, sobald Bezeichnungen dem Kontext einer konkurrierenden Bezeichnung unterstellt werden, d.h. in deren Raum eingetragen werden; dynamisch reproduziert wird diese subordinierende Struktur, wenn Wettkampfformen zu fortlaufenden Umbesetzungen veranlassen, die konkurrierende Bezeichnungen wiederum in den Kontext der Gegenseite eintragen usw. Auch mehrgliedrige Unterscheidungsgefüge, die durch ›re-entries‹ den Wettkampf potenzieren, folgen so gesehen subordinierender Logik. Wettkämpfe vervielfältigen und rekontextualisieren damit solange Unter- und Überordnungen, bis diese in einfachen Werten festgehalten werden – sei es in Gestalt von Entscheidungen und Rangfolgen, Siegen und Auszeichnungen, Einschlüssen und Ausgrenzungen. Koordinierende Strukturen entstehen hingegen durch Reihung von Bezeichnungen oder Teilformen, die nicht in unterschiedene Räume eingelagert werden, sondern identische Kontexte besetzen. Koordinationen können Wettkämpfe auf diese Weise stabilisieren und begrenzen, aber auch mit Positionen anreichern und durch serielle Wiederholung vervielfältigen.

      Diese Prinzipien von subordinierender Differenzierung und koordinierender Kontextuierung, so einfach sie sind, machen Wettkampf nicht nur zur anspruchsvollen Beobachtungsform für Interaktion. Auch kognitive Prozesse greifen auf sie zurück: Intelligente Systeme verdanken ihre Fähigkeit, komplexe Muster zu erkennen, einerseits einem hierarchischen Funktionsaufbau, andererseits der Prozessierung von Informationen mittels Wiederholungsschleifen.8 Reflexive Kognitionseffekte wie Bewusstsein setzen ebenfalls hierarchische Ordnungen voraus, mit denen Feedback-Strukturen kategorisiert werden können, während sie zugleich Operationen aneinanderreihen.9 So weit sich dies auf den ersten Blick von literarischen Wettkämpfen entfernt – es könnte neues Licht auf jene seltsamen Fälle werfen, in denen z.B. die Zweikampfdarstellungen höfischer Romane ausgeprägte Asymmetrien zwischen Kontrahenten herstellen, die einander zu unterwerfen suchen. Formale Parallelen zu kognitiven Strukturen könnten damit eine weitergehende Hypothese anregen: Könnten schleifenförmige Wettkämpfe darauf hinweisen, dass mittelalterliche Texte ihre Kampfdarstellungen nicht nur als Reflexionsmedium nutzen,10 sondern mittels Wettkampfkomplexität im kognitiven Sinne rechnen?11 In diese Richtung weisen nicht zuletzt auch die ausdrücklichen (bisweilen sogar exzessiven) Berechnungen mittelalterlicher Wettkämpfe. Sie beschränken sich keineswegs auf Schach- oder Zahlenkampfspiele, die Differenzen von Macht- und Wissensansprüchen ins Spiel bringen,12 oder auf das Aufrechnen und Gegenrechnen von Fehdeerzählungen. Wenn Romane und Epen ihre Kampfsequenzen häufig mit Metaphern des Zoll- oder Zinsengebens, des Zahlens, Zurückzahlens oder Überzahlens mittels Kampf oder sogar als Prozentrechnung beschreiben,13 dann kommt in solchen Metaphern ein kalkulatorischer Zug zum Vorschein, der über höfische Distinktion oder talionistische Buchhaltung weit hinausgeht.14 Wettkämpfe errechnen und verhandeln