Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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lassen.

      2.6 Formalisierung von Kultur?

      Solche Fragen betreten in der kulturwissenschaftlichen Wettkampfforschung wie in der mediävistischen Literaturwissenschaft Neuland. Spencer-Brown entwirft eine Differenztheorie, die sich auf kurze, prägnante Formeln beschränkt. Um sie aufschlussreich mit komplexen Erzählungen in Verbindung zu bringen, sind daher Übersetzungsleistungen erforderlich. Es kann somit weder darum gehen, Erzählungen auf Grundformeln zu bringen, noch kulturelle Phänomene auf Unterscheidungsmuster zu reduzieren. Angestrebt wird vielmehr eine Bezugsebene, auf der sich formale Aspekte von Erzählphänomenen prägnant hervorheben lassen, die unter den verschiedenen Vorzeichen ihrer Stoff-, Motiv- und Gattungszusammenhänge leicht aus dem Blick geraten könnten. Mit ihrer Hilfe lassen sich formale Aspekte agonaler Differenzstruktur bestimmen und vergleichend aufeinander beziehen, die in der hermeneutischen Erschließung von Einzeltexten oft isoliert bleiben.1 Betrachtet man Kultur als Frage nach den Erzeugungs- und Ordnungsformen von Vielfalt, bedarf es eines Arbeitsmodells, das ihre formalen Aspekte möglichst präzise erfasst. Im Rückblick auf bestehende Theorieangebote wird jedoch deutlich, wie schwer dies den Kulturwissenschaften besonders dann fiel, wenn es um die Kulturformen (historisch) fremder Gesellschaften geht.

      Dies zwingt keineswegs zu Reduktionismus. Die folgenden Textanalysen stellen weder die poetischen Fakturen und ästhetischen Wirkungspotentiale von Wettkampferzählungen in Abrede, noch leugnen sie ihre diskursiven Verflechtungen. Wenn die Poetik, Ästhetik und Diskurse von Wettkampftexten angesprochen werden, so konzentriert sich die Arbeit gleichwohl auf jene formalen Dimensionen, die für die vergleichende Frage nach kultureller Vielfalt im Mittelalter aufschlussreich sind.

      Zumindest im ersten Schritt führt ein Wettkampfmodell, das auf den Differenzkalkül Spencer-Browns zurückgreift, hierzu auf ungewohntes Terrain. Doch vielleicht kommt gerade dieser Ansatz den schwierigen Erzählphänomen ›zwischen Vielfalt und Einfachheit‹ näher, von denen die Arbeit ausging. Mittelalterliche Erzählungen beschreiben ihre Pluralisierung zumeist nicht als Überschreitung ihrer selbst, sondern als Eigenkomplexität und Vertiefung – noch die entschiedensten Variationen gelten als Entfaltung einer materia oder werden als Selbstmitteilung von Aventiure inszeniert, um nur an zwei prominente Semantiken des höfischen Romans zu erinnern. Die binäre Kontrastlogik des Strukturalismus stieß bei solchen Selbstbeschreibungen an Grenzen, insofern sie eindeutige Zurechnungen von Differenzen verlangte.2 Ihre Analyse erfordert stattdessen ein Instrumentarium, das Komplexität ebenfalls als Selbstvervielfältigung darstellen kann. Genau darauf zielt Spencer-Browns Versuch, komplexe Operationen ausgehend von nur einem symbolischen Basisoperator (›cross‹) herzuleiten.3 In Zusammenhängen der mathematischen Logik reagierte dies auf Probleme, die hier ebenso wenig aufzurollen sind wie die Fachrezeption von Spencer-Browns Angebot. Doch wäre ein Kalkül der Selbstdifferenz besonders aufschlussreich, wenn damit Affinitäten mittelalterlicher Kultur zu interner Komplexität genauer beschrieben werden könnten, die Verbindungen von Wettkämpfern so eindrücklich als Selbstverhältnisse entwirft.

III Studien

      1 Vorspiel der Vervielfältigung: Zum älteren Hildebrandslied1

      Die Frage nach literarischen Spielräumen der Pluralisierung setzt nicht erst bei Texten an, die soziale Vielfalt zum Thema machen oder repräsentieren – Reiseberichte, Ständelehren oder Religionsgespräche wirken sogar besonders reduktiv, sofern sie Komplexität mit schematischen Darstellungen und eingespielten Deutungsmustern begrenzen. Erzählungen vom Aufeinandertreffen der Religionen unterbieten dann nicht selten moderne Erwartungen an kulturelle Reflexion.2 Das nachfolgende Kapitel setzt daher diesseits von Semantiken und Themen der Pluralisierung an: Welche medialen und formalen Bedingungen ermöglichen grundlegend, Vielfalt zu entwickeln und literarisch auszustellen? Solche Möglichkeiten verdanken sich nicht erst Veränderungen sozialer Wirklichkeiten im Hochmittelalter, sondern fächern sich auf, sobald mündliche Erzähltraditionen in schriftlichen Speichermedien aufgezeichnet werden, die Alternativen festhalten und reflektieren. Dass besonders Wettkampferzählen solche Alternativen hervorlockt, entdeckt als einer der frühesten Texte in der deutschen Literatur das Hildebrandslied.3

      1.1 Zwischen den Heeren

      Schwierige Lagen kennzeichnen bereits den medialen Ort des Heldenliedes in seinem Überlieferungskontext. Auf den Außenblättern der 830 / 840 in Fulda entstandenen Bibelhandschrift Ms. theol. 54, UB Kassel, fol. 1r und 76v, findet sich jener berühmte Streitdialog zweier Krieger überliefert, die sich anerkennen, ohne sich zu erkennen.1 Nach einem ganzen Lebensalter der Trennung stehen sich Hildebrand und Hadubrand, Vater und Sohn, als Vorkämpfer zwischen den Heeren unerkannt unter Waffen gegenüber.2 In dieser gespannten Lage voll »rituelle[m] Ernst«3 halten sich beide an heldenepischen Komment: Der Ältere fragt nach Namen und Herkunft, der Jüngere gibt Auskunft.4 Sein Vater sei mit Dietrich vor der Verfolgung durch Odoaker geflohen, während die Familie zurückblieb; nach allen Berichten, die dem jungen Hadubrand zu Ohren gekommen sind, sei der Vater jedoch nicht mehr am Leben. Hildebrand hingegen ruft Gott zum Zeugen – niemals hätten sich Verwandte derart nah gegenübergestanden – und bietet dem Sohn Ringe an, um den Kampf versöhnlich abzuwenden. Der aber weist das Geschenk argwöhnisch ab: Der List eines alten Hunnen werde er nicht verfallen, schließlich wisse er doch, dass sein Vater tot sei. Wieder wendet sich Hildebrand zu Gott und beklagt das Geschick, das ihm alternativlos scheint: Entweder muss er nun seinen Sohn oder dieser ihn selbst töten. In der Kampfschilderung bricht das Liedfragment nach 68 Versen ab.

      Doch nicht nur die äußere Handlungssituation führt die Vorkämpfer in eine Zwischenlage. Zwischenlagen spiegelt auch die Form ihrer Reden selbst, welche die Wettkampferzählung entwickelt.5 Denn das Hildebrandslied spaltet und verdoppelt den Streitdialog zwischen Vater und Sohn in komplexer Weise. Obwohl Figurenreden und Erzählinstanz auf kollektives Sagenwissen zurückgreifen, finden sie keinen einfachen Verständigungshorizont. Wettkampf entpuppt sich dadurch als dynamische Form der Vervielfältigung, die unaufgelöste Kontingenz produziert.

      1.2 Vermutungswissen und Unterstellung: Hadubrands Latenzen

      Liest man die Begegnung als Kampf von Verwandten, die sich trotz größter Nähe höchstens asymmetrisch erkennen und infolgedessen nicht anerkennen können, so mochte dies die ältere germanistische Forschung zwar tragisch stimmen,1 vereinfacht aber alle Fragen, die den kurzen Text so befremdlich machen. In der Begegnung zwischen Vater und Sohn scheinen nämlich sichere Antworten zunächst zu fehlen. Hadubrand misstraut dem Fremden, der vorgibt, sein engster Verwandter zu sein. Wissen über seinen Vater, dessen Flucht vor Odoaker an der Seite des Ostgotenkönigs Theoderich und dessen Tod besitzt der Sohn nur aus dem Mund des kommunikativen Gedächtnisses: dat sagetun mi usere liuti, / alte anti frote, dea erhina warun (V. 15f.). Diese »Autoritätsinstanz des Stammes« aber schwankt,2 denn Hadubrand ergänzt sein persönliches Nichtwissen über den abwesenden Vater auch mit Nachrichten von Seefahrern aus der Ferne. Dass solche »Anreihung fremden Wissens […] zweifelhaft [bleibt]«,3 gibt Hadubrand selbst mit schwankenden Modi der Gewissheit zu erkennen. Hält er dem Fremden zunächst mit indikativischer Überzeugung entgegen, dass Dietrich ja an seinem Vater einen treuen Gefolgsmann verlor (V. 23f.), so nimmt er solche Gewissheit sogleich zur bloßen Vermutung zurück: ni waniu ih, iu lib habbe (V. 29) – »Nicht glaube ich, daß er noch lebt.« Autoptische Überzeugung oder die Evidenz verlässlicher Zeugen aber bleiben dem Sohn, unter allen Schichten von Heldenberichten, verborgen.4 Statt kollektiv verbindlichem Wissen akzentuiert der Text das Vermutungswissen des Sohnes.

      Auch bei seinem Gegner vermutet Hadubrand verborgene Schichten. Den goldenen Armreif, den ihm der Fremde möglicherweise zur Bekräftigung verwandtschaftlicher Nähe darbietet, verspottet er als täuschenden Köder:

       du bist dir alter Hun, ummet spaher,

       spenis mih mit dinem wortun, wili mih dinu speru werpan.

       pist also gialtet man, so du ewin inwit fortos.

      (V. 39–41)

      Du bist, alter Hunne, voller Tücke,

      willst mich