Bent Gebert

Wettkampfkulturen


Скачать книгу

revolutionär erweitert.3 Wettkampf ist für diese Vergleichspraxis besonders produktiv, weil widerstreitende Formen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich konkurrierende Perspektiven, Wertungen und Ordnungen in ihrer Verschiedenheit entdecken: »Der Widerstreit macht Beobachter beobachtbar«, wie Dirk Baecker systemtheoretisch zuspitzt,4 woraus moderne Kulturtheorien den Schluss ziehen, die »Kontingenz«5 von Lebensformen und symbolischen Ordnungen in den Mittelpunkt zu stellen.

      Freilich: Erst die Neuzeit bringt dies auf solche Begriffe. Doch lassen sich Kulturperspektiven der Kontingenz bereits in frühesten Fällen volkssprachlicher Verschriftung im Mittelalter greifen, die neue, besonders irritationsfreudige Stufen für Vergleiche eröffnen.6 Das Hildebrandslied exponiert solche Kontingenz, indem es innerhalb weniger Verse Alternativen aufwirft, die sich nicht herunterkürzen lassen – selbst dann nicht, wenn man weiß, wer Recht oder welche Vorgeschichten hat, welche Kampfentscheidung stoffverwandte Texte favorisieren.7 Diese Wirkung wird zum einen von der Form des Dialogs getragen, der sich eben nicht normativ auf Einheit des Verstehens oder das Kommunikationsziel der Verständigung reduzieren lässt.8 Das verstärkt das Hildebrandslied zum anderen, indem beide Reden gezielt inkommensurabel werden. So hat etwa Hartmut Bleumer gezeigt, dass Ordnungskonkurrenz bis in die unterschiedlichen Erzählweisen und Auffassungen über Zeichen hineinstrahlt, die Hildebrand und Hadubrand trennen.9 Uta Störmer-Caysa hat ergänzt, dass auch in zeitlicher Hinsicht keinesfalls von einem »Kontinuum«, sondern allenfalls von »unterschiedliche[n] Blickpunkte[n]« zu sprechen ist, deren Wissenshorizonte bis zuletzt unverbunden bleiben.10 Höfische Zweikämpfe bahnen hier konvergentere Lösungen, die Figuren und Handlungswelten verbinden, wie Harald Haferland und Udo Friedrich in grundlegenden Studien unterstrichen haben:11 Für Zweikämpfer des Artusromans wäre es eine gâbe grôz zu wissen, wer der ander wære, so wird Hartmann programmatisch im Iwein formulieren.12 Das Hildebrandslied aber verzichtet auf solche Konvergenz. Statt eines Waffengangs oder heroischer Aristien kostet das Fragment aus, wie ein Dialog zwei Anordnungsmöglichkeiten des Kampfes – Täuschungskalküle und Kampf vor Gott – miteinander konfrontiert und für einen Moment in der Schwebe hält. Kulturperspektiven eröffnet das Hildebrandslied also nicht dadurch, dass zwei Figuren nach heroischen Regeln planvoll aneinander vorbeireden, sondern indem davon in doppelter Weise erzählt wird. Infrage gestellt wird damit zwar keineswegs die grundsätzliche Lösbarkeit des Konflikts, wohl aber die einfache Rahmbarkeit von Differenz.

      1.6 Vereinfachung

      Wie in einer Art Miniaturszenario experimentiert das Hildebrandslied mit grundlegenden Optionen, die für die Erzählgeschichte des Wettkampfs im Mittelalter leitend werden: Latenzen und Transzendenzen, Ein- und Auslagerungsstrategien, aber auch semantische Konzepte von List und Fügung prägen maßgeblich die Versuche, Differenz mit narrativen Mitteln zu vervielfältigen. Was das Heldenlied des 9. Jahrhunderts gleichsam als Vorspiel aufscheinen lässt, etabliert sich in Erzähltexten des Hochmittelalters zu stabileren und umfangreicheren Typen.

      Im älteren Hildebrandslied jedoch ist dieser Moment flüchtig, denn rasch löst sich die Konstellation in eine weitaus einfachere Form auf. Während der Verkennensdialog die Komplexität der Anerkennung steigert, bringt sie Hildebrands Reizrede (ab V. 50) auf das ungleich simplere Muster eines Rechtskampfes zwischen Alt und Jung.1 Dem sekundiert schließlich auch die Erzählinstanz, indem sie Akteure und Vorgänge im Kollektivplural verschmelzen lässt (V. 63–68): Lanzen und Schwerter fliegen, Schilde bersten. Der verwickelte Streitdialog weicht einer schematischen Handlungssequenz, die nichts mehr kontingent lässt: Unbestimmte Differenzen von Kalkülen und Kontexten werden gelöscht, Figuren kondensiert. Solcher Kampf experimentiert nicht länger mit Vielfalt, sondern kriecht in die formularische Poetik traditioneller Heldenepik zurück,2 welche die Grundform des Wettkampfs auf den gemeinsamen Rhythmus von Angriff und Verteidigung beschränkt.3 Hier, am Nullpunkt der Vereinfachung, bricht das Fragment denn auch ab. Offen bleibt zwar der Ausgang des Waffengangs, aber seine Möglichkeiten sind einfach strukturiert, wenn nicht sogar von Sagenerwartungen eindeutig bestimmt: Das ›sowohl als auch‹ zwischen den Heeren wird zum ›entweder oder‹ der Entscheidung.4 Die Erzählliteratur des hohen Mittelalters wird ihre Kampferzählungen zu längeren Formen ausbauen, in denen solche Zwischenräume wachsen, bevor Reduktionen greifen oder Entscheidungen fallen.

      2 Seelenkämpfe

      Vervielfältigung prägt nicht bloß äußere Konfrontationen oder Verhältnisse zur Außenwelt. Auch Innensphären und Selbstverhältnisse nutzt die volkssprachliche Erzählliteratur zur »Ich-Vervielfältigung«,1 als Bearbeitungsfeld pluraler Ordnungsmöglichkeiten von Selbstbezügen. Unbestimmtheit fungiert dabei nicht nur als Herausforderung für stabile Abgrenzungen oder als Gefährdung von eindeutiger Zugehörigkeit, sondern oftmals als produktive Konstitutionsbedingung von Identität. Im Rahmen seiner allgemeinen Netzwerktheorie beschreibt Harrison White diesen Zusammenhang als Turbulenz: »Identities emerge from turbulence seeking control from within social footings that can mitigate uncertainty.«2 Im Hinblick auf Wettkampferzählungen erweisen sich agonale Selbstverhältnisse als besonders turbulent, wenn mittelalterliche Texte dafür die Seele des Menschen aufs Spiel setzen.

      Ihre Anordnungen sind keineswegs voraussetzungslos. Schon die stoische Ethik und die (neu)platonische Anthropologie betrachten den Menschen vom Widerstreit zwischen Körper und Psyche geprägt, in permanentem Kampf gegen Vorurteile und affektive Verstrickungen. Schon die Antike favorisiert einen Habitus besonnener Selbstkontrolle, der sich auf dem Wege agonistischer Übungen »zwischen sich und sich« gewinnen und festigen lasse.3 Unter christlichen Vorzeichen schließt das lateinische Mittelalter an diese Vorgaben an und interpretiert das Leben als umfassenden Wettkampf (1 Cor 9, 24–27; ebenso einflussreich auch 2 Tim 2,5).4 Einflussreich für die Sünden- und Bußordnungen beschreibt etwa Gregor der Große in seinem Hiob-Kommentar das Herz des Menschen belagert von Lastern, die sich sogleich vervielfältigten (multitudinem proferunt), indem sie – einmal hineingelangt – weitere ›Heere‹ (exercitus) hineinließen.5 Militärische Metaphern des Kampfes und der Belagerung dienen Gregor dazu, eine Sündenordnung zu arrangieren, deren geordnete Reihe zu Wucherung und Vervielfältigung neigt. Das ganze Leben verwandele sich in einen geistigen Ringkampf vor den Richteraugen Gottes, wie Hrabanus Maurus in seiner Allegorese der Wettkampfpraxis der Antike festhält.6

      Volkssprachliche Literaturen knüpfen an solche Modelle und ihre agonalen Leitmetaphern nicht nur an,7 sondern entwickeln deren Streitordnungen experimentell weiter.8 Diese Experimente werden besonders greifbar, wenn Kämpfe um bzw. in der Seele mit narrativen, imaginativen und dialogischen Mitteln verstärkt werden. Wie die Forschung bislang aufgewiesen hat, zeigen volkssprachliche Texte jedoch insgesamt wenig Interesse, das Begriffsfeld lateinischer Seelenlehre systematisch zu übernehmen oder anthropologische Probleme stringent auszudiskutieren. Wo mittelhochdeutsche Texte vom Kampf in der Seele erzählen, kommen zwar Figuren mit »komplexe[m] und vielgestaltige[m] Innenleben« in den Blick, doch mit »ambivalente[m] Ergebnis«. So nachdrücklich sie den Diskurs über innere Ordnung vertiefen, so schwach scheint die Ordnungsleistung ihrer Begriffe: »Warum bildet die mittelhochdeutsche Literatur eine ganze Fülle von Begriffen zur Bezeichnung innerer Vorgänge und Sachverhalte aus, die in ihrer Verwendung aber kaum differenziert und oft sogar gegeneinander austauschbar sind?«9

      Wenn man dies nicht bloß als Begriffsschwäche volkssprachlicher Literatur ankreidet, welche positiven Angebote lassen sich in Seelenkampftexten greifen, die Formen des Selbstbezugs organisieren? Welche erzählerische Arbeit setzt dort an, wo begriffliche Systematisierungen des Selbst enden? Ausgehend von diesen Fragen setzt sich das folgende Kapitel zum Ziel, zwei Transformationen herauszuarbeiten, die für die Vervielfältigung von Selbstverhältnissen entscheidende neue Wege eröffnen. Von Anthropologien der Spätantike, die Selbstverhältnisse strikt an externe Ordnungen rückbinden, entkoppeln sich im Mittelalter Latenzmodelle innerer Kämpfe, die auf paradoxe Weise als unzugänglich, intransparent und in bemerkenswertem Maße unbestimmt erscheinen, während sie gleichzeitig kommunikativ vermittelt, intensiviert und in Dialogformen verhandelt werden, die unter extremen Bestimmungsszwängen stehen. Formen »der Nicht-Identität, der Differenz, des Widerspruchs« lockern dabei Rückkopplungen an religiöse oder soziale Zurechnung, ohne sich deshalb außerhalb dieser Rahmen zu stellen.10