Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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786) verhöhnt, zugleich aber die Abhängigkeit des Menschen im Rahmen rechtlicher Vertretung akzentuiert: des hilf du mir, threhten, / daz ich armer an im gesige (V. 736f., Herv. B.G.; vgl. auch V. 731).

      Im Vergleich zur Psychomachia werden damit grundsätzliche Kontinuitäten des Leitmodells der Externalisierung erkennbar, aber auch Umbesetzungen. Schon Prudentius wendet sich in Eingangs- und Schlussgebeten an den Beistand Christi; wie sein Kampfszenario von Tugenden und Lastern überträgt auch die Sündenklage mit der Wendung an Maria als vogedinne (V. 250) bzw. an Gott als höchstem voget (V. 731) eine Selbstanklage in ein Außenverhältnis; in beiden Fällen wird der Kampf um die Ordnung im Menschen zum Kampf um den Menschen ausgelagert und um tragende Instanzen erweitert.2 Auch die Sündenklage prägt somit ein markanter »Formtrieb«,3 der von innen nach außen greift. Doch werden dabei sowohl Verfahren als auch Bezugsrahmen umbesetzt, die diese Externalisierung prägen: Statt allegorischer Bildintensität und Distinktionsverschärfung verlagert die Rechtslogik der Sündenklage eine Selbstklage (lamentatio) zur Fremdanklage (accusatio) des Teufels; statt latente Selbstverhältnisse in kosmische oder politische Umwelten zu projizieren, überträgt das Selbst dabei die Unordnung des Kampfes an seinen Vormund. Transzendenzorientierte Rückübertragungen stützen sich dabei maßgeblich auf rechtliche Logik.

      2.3 Internalisierung auf Zeit: Das Traumodell der Visio Philiberti

      Diese Ausrichtung von Streitkommunikation kehren Erzählungen um, die Seelenkämpfe weniger als Ordnung sondern vielmehr als Verstrickung des Selbst entwerfen. Damit entstehen neue Konsistenzen, aber auch neue Komplexitätsformen, die statt auf Außen- in Innenseiten entwickelt werden. Sie erschließen damit das Wettkampfsubjekt als Raum komplexer Selbstverhältnisse.

      Von Entwicklungen zu sprechen, wäre aus mehreren Gründen vorschnell. Zum einen bedarf es weiterer überlieferungs- und diskursgeschichtlicher Grundlagenstudien, um die Traditionsübergänge von lateinischen und volkssprachlichen Seelenkampf-Texten umfassend zu rekonstruieren. Zum anderen scheint die Frage nach Entwicklungslinien problematisch, weil einige der fruchtbarsten Experimente zugleich längste Dauer und größte Verbreitung zeigen.

      Das in der lateinischen Literatur des Mittelalters prominenteste, von über 166 Handschriften bezeugte und in zahlreiche Sprachen übersetzte Experiment dieser Art bildet ein kurzer Streitdialog des 12. Jahrhunderts, in dem die Seele eines kürzlich Verstorbenen vor dessen Körper tritt. Nach seinem Erzählrahmen ist der Visionsbericht als Visio Philiberti bekannt.1 Eine Seele beschuldigt darin den mit ihr zeitlebens verbundenen Körper, beide durch üble Neigungen (V. 36: ad scelera)2 drohenden Höllenqualen ausgeliefert zu haben: Per te nobis misera est in inferno sedes (V. 24). Was immer den Körper in der Welt verlockt habe – materieller Besitz, Ansehen bei Freunden und Verwandten –, all dies sei mit dem Tod hinfällig. Der Körper antwortet mit einem Gegenvorwurf: Wenn Gott ihn zur Dienerin der Seele erschaffen habe, weshalb habe diese dann ihre Führungsrolle als domina vernachlässigt und so viele Übertretungen gestattet?3 Nichts vermöge der Körper ohne die belebende Seele (V. 122: Caro sine spiritu nihil operatur); wenn diese ihn zu züchtigen versäumt habe (V. 120: caro nam per spiritum debet edomari), trage sie daher Mitschuld (V. 132f.). Dies räumt die Seele zwar ein (V. 159), doch nicht ohne dem Körper seine Schwäche vorzuhalten: Allen Disziplinierungsversuchen durch die Seele habe er sich widersetzt, um desto bereitwilliger den Verlockungen der Welt nachzugeben (V. 151–154). So lange ringen die Streitpartner um Fragen der (Mit-)Verantwortung und (Teil-)Schuld und verwünschen einander, bis die Seele schließlich von zwei gehörnten Dämonen gefangen und in die Hölle gezerrt wird. Verspätete Reue verfängt nicht – schreckerfüllt erwacht das Ich aus seiner Traumvision und schwört allen materiellen und sozialen Verlockungen der vergänglichen Welt ab (V. 305–312).

      Wie die Zusammenfassung spiegelt, ist der Dialog einfach strukturiert. Innerhalb der Rahmenverse des Visionsberichts vervielfältigt der Streitdialog die Wettkampfform durch ingesamt fünf Wechsel von Anklage-, Verteidigungs- und Schmeichelreden zwischen Seele und Körper.4 Abgesetzt durch den erzählten Auftritt der Dämonen fügt sich daran ein weiterer einfacher Wechsel von Gebet und Verhöhnung zwischen Seele und Teufeln, bevor sich mit dem Visionsrahmen die gesamte Erzählform schließt. Die Visio Philiberti fügt somit in eine Erzählform der einfachen Ein- und Auslagerung (Visionsrahmen – Binnendialog – Visionsrahmen) eine potenzierte Form der Einlagerung (Streitdialog) und eine nebengeordnete Teilform (Invektive von Dämonen und Seele) ein. Vor dem Hintergrund der zuvor betrachteten Fälle besteht somit ein diskursgeschichtlich neuer Schritt darin, den Konflikt vor allem auf der Innenseite der Form des Subjekts zu vervielfältigen.

      Gleichwohl steigert die Visio wirkungsvoll ihre Komplexität, indem sie die Teile ihrer Wettkampfform sowohl miteinander koppelt als auch voneinander löst. Die Abfolge von Schlafen, Träumen und Erwachen ruft ein psychonarratives Leitmodell auf, das diese Dynamisierung des Selbst paradox rahmt: Wer schläft, wird zum inaktiven Objekt der Wahrnehmung, doch wer dabei träumt, ist als mentales Subjekt der Imaginationsarbeit aktiv gefordert.5 Gerade dadurch begünstigt der Traum eine »Vielfalt imaginativer Variationen«: Zwar bleibt der Schläfer derselbe, doch entwirft er sich selbst als ein anderer.6

      Dieses Widerspiel und seine produktiven Effekte möchte ich anhand einer Bearbeitung der Visio näher beleuchten, die der Wiener Arzt und Dichter Heinrich von Neustadt um die Wende zum 14. Jahrhundert anfertigte.7 Sie belegt nicht nur die Resonanz des Visionstextes in der deutschsprachigen Literatur des Spätmittelalters, sondern verstärkt insbesondere durch erweiternde Bearbeitung das Verstrickungspotential des inneren Wettkampfs.

      (1.) Entkopplungen. Einerseits berichtet die Visio Philiberti von zahlreichen Ablösungen. Zu Beginn löst sich der Geist geradezu sprunghaft aus dem schlafenden Körper: Der geist wart im verzuecket, / Daz er quam in einen twalm (V. 8f.). Im Traum wiederum hört dieser einen geist, der sich vom Körper gelöst hat und wider kehrt (V. 17).8 Auch im Streitdialog steht diese Trennung zur Debatte, wenn die Seele nach ihrer ersten Rede mit Aufbruch droht und der Körper dies bekräftigt:

      [Seele zum Körper:]9

       Ich mag niht lenger mich gesparn,

       Ich m uo z ietze von hinnen varn.

      (V. 171f.)

      [Körper zur Seele:]

       Ich wil nit reden me mit dir:

       Sele min, nuo var von mir!

      (V. 247f.)

      Auch die Bezeichnungen der Wahrnehmungs- bzw. Sprecherinstanzen tragen dazu bei, Erzählrahmen und Binnendialog tendenziell zu entkoppeln und in ein unbestimmtes Schwebeverhältnis zu bringen. Berichtet der narrative Visionsrahmen zunächst, wie ein geist (lat. spiritus) die Klage eines geistes beobachtet habe, so löst sich der Streitdialog von seinem Rahmenbegriff: Ab der Doppelformel lip und sele (V. 163) adressieren sich die Konfliktpartner als sele (lat. anima) und lip, corper und fleisch (für lat. corpus).10 Auch den anthropologischen Entwurf prägt in seinem thematischen Kern ein Problem der Ablösung. Körper und Seele sind zwar in Schuld verbunden, aber nicht in der drohenden Strafe. Anders als bei Tieren habe Gott die menschliche Seele gerade nicht unlöslich mit dem Körper verbunden, wodurch sie auch mit diesem zusammen vergehen müsste, sondern vielmehr ablösbar geschaffen, weshalb sie Qualen in der helle loch (V. 430) zu fürchten habe. Das Argument der Unabhängigkeit der Seele richtet sich damit in provokanter Weise gegen deren Schöpfer: Nu we mir, daz ich ie wart / Gotes geschepfede nach der art / Daz ich mensche bin gewesen! (V. 415–417). Ablösung befördern, inhaltlich wie formal, schließlich auch die intervenierenden Teufel am Ende des Dialogs, indem sie die Streitpartner, zuvor in mehrfachen Wiederholungen verstrickt, jäh trennen und den Streitdialog begrenzen.

      (2.) Kopplungen. Andererseits verstärkt der Text verschiedene Kopplungen, welche Erzählform und Instanzen durchgängig verbinden. Dies zeigt gleich zu Beginn die Rahmenerzählung, die erzählendes Ich und Selbstinstanzen des Streitdialogs