Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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statt den Weg der Kommunikation über die ungewisheit epistemischer Diastase laufen zu lassen, eröffnet literarische Psychonarration den Blick in den vermeintlich unerreichbaren muot.29 Beides ist paradox: Inszeniert werden sowohl der »Ausfall der Kommunikation« als auch der »Prozess der unmittelbaren Artikulation des muotes«.30 Diskursgeschichtlich betrachtet verändert sich damit das Herz von einer Gesamtrepräsentation des inneren Menschen zu einem Du, zum ›alter‹ im ›ego‹, mit dem sich autokommunizieren lässt.31 Formal betrachtet entwirft Hartmann mit dem Herzen eine Differenz, die sich selbst ausschaltet, indem sie in ihrem eigenen Raum wieder auftaucht – Herz und Körper verstehen einander und reden zugleich aneinander vorbei.

      Es ist also im Prinzip zutreffend, der Klage eine gezielte Komplexitätssteigerung zu attestieren, aber wenig erhellend, dies hermeneutisch als »zunehmende Vertiefung der Einsicht in das Problem [der höfischen Liebe]« zu verstehen.32 Denn der Problemkreislauf – doppelte Kontingenz von Kommunikation, Differenz und Einheit des Selbst – wird nicht eingesehen, sondern nur ein- und ausgefaltet. Latenz verdoppelt sich und »vertieft« dadurch die Form des Erzählens.

      (2.) Konsistenz aus Kontingenz: zur Wettkampfform des Dialogs. Der Streitdialog faltet dieses Problem zunächst in die mentale Innensphäre des Rahmen-Ich hinein (›in‹ den muot) und häuft auf diesem Weg paradoxe Binnendifferenzen an, was sowohl für die Modellperson als auch für die Struktur des Gesamttextes gilt. Für die Streitpartner heißt dies konkret, dass sich Herz und Körper nicht argumentativ ausweichen, sondern in wechselseitigen Anklagen, Zuschreibungen und Forderungen ineinander verwickeln und unterlaufen.33 Für den Textaufbau heißt dies: Achtmal lässt Hartmann ausgedehntere Reden von Körper und Herz alternieren, wobei dieser Raum in seinem strukturellen Zentrum nochmals durch weitere 53 (hemi-)stichomythische Redewechsel untergliedert wird (V. 1168–1268).34 Korrespondierend zum Prolog und zum Erzählrahmen (V. 1–16; 17–32) beschließt die Klage eine strophische Ich-Rede (V. 1645–1914), die sich als Werbungsrede eines Unglücklichen (V. 1739) an seine Frouwe (V. 1845) mit deutlichen Rückbezügen zum ersten Rahmenteil ausweist, aber ebenso Bezeichnungen35 und Bilder36 der Latenz aus dem Streitdialog aufgreift.37 Insgesamt setzt Hartmann also die dreiteilige umschließende Form fort, wie sie von der Psychomachia bis zur Visio Philiberti die Erzähltradition des Seelenkampfes prägt, überträgt jedoch erstens Wettkampfdifferenzen der erzählten bzw. beschriebenen Interaktion in das Kommunikationsmedium des Dialogs. Zweitens staffelt sich dieser Streitdialog höchst differenziert in die Form des muot hinein.

      Der Widerstreit entwickelt zugleich Strukturen, um die Konsistenz dieser komplexeren Form zu erhöhen, indem er propositionale Äußerungen und phatische Signale überkreuzt.38 Symmetrieachse dieser Struktur bildet die erste stichomythische Passage der Klage (ab V. 1168). In einer ersten Serie von Anklagen werfen Körper und Herz einander vor, ihre Aufgabenbereiche verletzt zu haben: Durch Fehlurteile und trügerische Zukunftshoffnungen habe das Herz als Ratgeber versagt (V. 75–86), während der Körper auf eigene Faust handle und unbelehrbar nur kurzwîle (V. 673) und Bequemlichkeiten suche (V. 860), statt beharrliche Mühen des Minnedienstes auf sich zu nehmen. Im Rahmen der Rechtsfiktion, die Hartmanns (An-)Klagedialog mit aufruft,39 verstricken sich beide in Vorwürfen und Schuldzurechnungen: Ob der Körper grundsätzlich auf die Urteilskraft des Herzens angewiesen und damit verleitet worden sei oder ob umgekehrt die Weisungskompetenz des Herzens von der Vitalität, den Sinnesdaten und der physischen Handlungsmacht des Körpers abhänge – darüber besteht gründlicher Dissens. Dennoch wird ihr Streit von phatischem Konsens getragen: Trotz aller Vorwürfe reden sich Herz und Körper mit partnerschaftlichen Zueignungsformeln an,40 demonstrieren einander ihr Interesse, Dialog und Kooperation fortzusetzen.41 Selbst Beschimpfungen und Rachephantasien erweisen sich als symmetrisch, wenn nicht nur der Körper androht, mit einem Messerstich beider Leben zu beenden (V. 67–71), sondern sich auch das Herz wünscht, sein Recht in einem Faustkampf gewaltsam durchzusetzen:

       wære ich gewaltic über dich

       sô dû bist über mich,

       daz ich hende hæte,

       dîn leben wære unstæte;

       ich tæte dir vil schiere schîn

       daz ich unschuldic welle sîn

       des kumbers den ich von dir hân.

       der müese dir ze leide ergân.

      (V. 527–534)

      Hartmann verstärkt Anreden und Appelle, bis ihr phatischer Konsens auf die propositionale Ebene durchzugreifen beginnt: Überraschend erinnert der Körper an das Band der Seele als gottgeschaffenem Grund unauflöslicher Einheit (V. 1025–1060, wiederum gipfelnd in einer Zueignungsformel: wan mîn dinc ist daz dîn), wofür das Herz im Gegenzug die vil guote wandelunge (V. 1154) des zuvor als unbelehrbar Gescholtenen lobt. Herz und Körper, Richter und Vollstrecker, scheinen sich damit »auf einen Konsens einzupendeln«,42 der den Wettkampf beendet.43

      Bei diesem Einverständnis über wechselseitige funktionale Angewiesenheit von Körper und Herz bleibt die Klage indes nicht stehen. Vielmehr »entzündet sich die Diskussion aufs Neue«.44 Wurde der thematische Dissens der Auftaktreden von Kooperations- und Konsenssignalen getragen, so stülpt das stichomythische Wechselspiel von Frage und Antwort nun Aussage- und Äußerungsbeziehung um. Statt eines harmonischen Musterdialogs replizieren Herz und Körper einander bissig, z.B.

      [Körper:] herze, waz gap dir den gewalt?

      [Herz:] ›lîp, dîn üppic frâge tuot mich alt.‹

      (V. 1175f.)

      [Herz:] ›waz ist daz dir unsanfte tuot?‹

      [Körper:] dû maht wol selbe wizzen waz.

      (V. 1178f.)

      [Herz:] ›kunde ich, lîp, ich hulfe dir.‹

      [Körper:] dû solt âne dige helfen mir.

      (V. 1185f.)

      Konsens im Sachproblem – körperlichem Liebesleiden ist durch Rat des Herzens abzuhelfen – wird also in einer Redeform verhandelt, die wiederum ihren phatischen Dissens bewusst inszeniert. In chiastischer Umkehrung von propositionalem Zusammenspiel und kommunikativem Gegenspiel bildet der Dialog neuerlich Streitkonsistenz.

      Umgekehrt zur früheren Umschlagsbewegung verstärkt sich auch dieser kommunikative Dissens wieder und durchdringt Konsenssignale (V. 1264–1268), bis das zuvor Erreichte aufgelöst wird. Dies veranschaulicht die allegorische zouberlist (V. 1275), zu der das Herz unmittelbar im Anschluss ermuntert.45 Beliebt bei Gott und der ganzen Welt (V. 1346) könne sich der Körper machen, wenn er acht Kräuterarten in einem Gefäß mische – nämlich die Tugenden der Freigebigkeit, Beherrschung, Bescheidenheit, Treue und Beständigkeit, Sanftmut und Zurückhaltung sowie Tapferkeit, die ohne jeden Vorbehalt oder Zwietracht (V. 1322: âne haz) ›innen‹ im Herzen zu tragen seien.46 Gezielt greift der Kräuterzauber des Herzens also zu jenem vaz, das auch Hartmanns Iwein zum zentralen metaphorischen Modell latenter Differenz erhebt. Doch in der Klage scheitert eine Latenz-Metapher, die jegliche Differenz auszuräumen sucht. Kaum ausgesprochen, wird sie sogleich kassiert. Da sie Seelenheil und Leben gefährdeten, seien Zauber grundsätzlich abzulehnen –

       durch daz suln wir in lâzen;

       daz er sî verwâzen!

       und sül dir gelingen,

       daz erwirp mit rehten dingen.

      (V. 1367–1370)

      Zurecht hat die Forschung über den Sinn eines Tugendrezepts gerätselt, das mit großem ernest (V. 1263) vorgetragen, doch in seiner semiotischen Konstruktion entwertet wird.47 Entscheidend scheint mir, dass die ›revocatio‹ nicht bei der vermeintlichen Zauberempfehlung Halt macht. An den Grenzen des Sagbaren lässt sie nämlich selbst den beredten Ratgeber verstummen: ich