Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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Streitsphären und Streitformen in vielfältiger Weise.20 So unterscheidet etwa die im gesamten Mittelalter einflussreiche Enzyklopädie Isidors von Sevilla im XVIII. Buch zwar zahlreiche Formen vom Krieg (bellum) bis zum spielerischen Wettkampf (ludus), schreitet dabei jedoch insgesamt ein lückenloses Kontinuum ab, das von Kriegen und Zweikämpfen über Bindeglieder wie Kampfspiele (ludicra) bis zu Brett- und Ballspielen reicht.21 Isidors kompendienartiger Überblick gilt somit einem durchaus differenzierten, aber eben nicht kategorisch getrennten Feld von Kampftypen, die miteinander in ›familienähnlicher‹ Beziehung verbunden sind. Ebenso demonstrieren literarische Inszenierungen gattungsübergreifend: Selbst wenn Kämpfe auf Leben und Tod ausgefochten werden, können sie als regelgeleitete Wettbewerbe gestaltet sein.22 Auch das Vokabular des Streitens volkssprachlicher Texte umfasst ein breites Spektrum von bewaffneten Konflikten über verbalen Schlagabtausch bis zum spielerischen Messen.23

      Daher suchen die nachfolgenden Studien nicht einzelne Sphären und Formen kategorisch abzugrenzen, sondern Typen der Komplexität zu bestimmen, die mittelalterliche Erzähltexte auf diesen eigentümlich überlappenden Feldern entwickeln. Nur bedingt helfen dafür Ordnungsvorschläge der modernen Streitsoziologie weiter, um diese Vielfalt in ihrer historischen Alterität zu erkunden. Erfordert ist vielmehr ein Ansatz, der einerseits die spezifisch ausgearbeiteten Arrangements von Wettkampferzählungen erschließt, andererseits aber auch typische Züge von Wettkampfkomplexität hervorhebt, die unter der anschaulichen Fülle wechselnder Motive, Semantiken und Gattungskonventionen andernfalls verdeckt blieben. Fasst man diese Züge als Formen mittelalterlicher ›Kampf‹-Kultur zusammen, könnte dies die falsche Erwartung wecken, es gehe damit vornehmlich um destruktive Interaktion. Spricht man hingegen von ›Wettkampfkultur‹, muss man sich von modernen Erwartungen lösen, die nach besonders kooperativen, regelgeleiteten Mustern fahnden. Unter diesem Titel wagen die nachfolgenden Studien also ein begriffliches Risiko, das aber aufschlussreich in der Sache sein könnte. Denn auch die zu untersuchenden Texte gehen es ein. Obwohl etwa mittelhochdeutsche Heldenepen zwischen blutigem Ernstkampf und reglementierten Schaukämpfen unterscheiden, werden beide Formen oft engstens miteinander verflochten: Was etwa im Rosengarten zu Worms als Wettkampfspiel inszeniert ist, bewerten seine Akteure selbst als Blutvergießen, Mord und Totschlag.24 Höfische Texte wie das Nibelungenlied oder Hartmanns Iwein unterscheiden ernste Konflikt- von spielerischen Kampfszenen, um ihre Grenze zu durchbrechen, unscharf zu machen oder ineinander umschlagen zu lassen. Wenn die folgenden Untersuchungen dies unter dem Begriff des ›Wettkampfs‹ versammeln, geht es somit vor allem um Aspekte dynamischer Relationierung, den die ›Wette‹ aufruft:25 In Frage stehen Praktiken des Vergleichens unter Differenzbedingungen, die Positionen aufs Spiel setzen, indem sie diese ins Spiel bringen.26 Und diese Praktiken prägen ein breites Spektrum, das vom »freundschaftlichen Austausch« bis zu »Formen offensiver Handlungen« reicht,27 spil und strît gemeinsam umfasst.

      1.3 Wettkampf als Form: Ein Arbeitsvorschlag

      Einen Ansatzpunkt für eine Arbeitsdefinition liefert die Beobachtung, dass selbst einfach strukturierte Wettkämpfe für Betrachter rasch komplex werden – darin liegt ihr allgemeines Faszinationspotential. Dennoch werden sie von Akteuren selbst oft als einfach beschrieben: Wettkämpfe fokussieren beispielsweise Aufmerksamkeit, intensivieren dadurch Erlebnisse, verdichten Raum und Zeit in intensiven Vollzügen und blenden vielerlei aus, was über das Wettkampfgeschehen hinaus sozial relevant sein könnte.1 Wettkämpfe drängen zu Fortsetzung und Wiederholung, indem sie in ihre Entfaltung hineinziehen: Wer bloß die Aufforderung zum Kampf zur Kenntnis nimmt, demonstriert etwa die Erzählung vom Rosengarten zu Worms, ist unversehens in den Wettkampf verstrickt.2 Dennoch werden sie durch einfache Logiken des Siegens und Verlierens vorangetrieben, die asymmetrische Endzustände anstreben: Krieg und Zweikampf, die größte wie die kleinste Gestalt von Wettkämpfen, führt z.B. Isidor von Sevilla schlicht auf »zwei Seiten von Kämpfenden« zurück, von denen »der eine Sieger wird, der andere besiegt«.3 Ein Modell, das solchen Zügen von Wettkämpfen Rechnung tragen will, ohne sich von vornherein auf spezifische Typen, Rahmen oder Akteure zu verlegen, muss somit komplexe Varianten zulassen. Potenziale zur Fortsetzung müssen ebenso berücksichtigt werden wie Faktoren, die Wettkämpfe stillstellen oder stabilisieren.

      Dazu greife ich erstens ein grundlegendes Muster auf, das der Philosoph und Ethnologe Marcel Hénaff als »Prinzip der Alternanz« beschreibt. Es ist der Rechtsgeschichte4 oder der Literaturwissenschaft als »agonale Struktur von Schlag und Gegenschlag«5 vertraut:

      Es besteht eine doppelte Dynamik der Reaktion. Einerseits handelt man, nachdem man einen Schlag erhalten hat, oder einfach als Antwort auf die Handlung des anderen. Beim Spiel führt dies zur Regel des Jeder der Reihe nach (so heißt beim Schachspiel zweimal hintereinander ziehen soviel wie betrügen). Andererseits enthält die Logik der Aufeinanderfolge Aktion / Reaktion die Fähigkeit zur unendlichen Erzeugung von Bewegung: Die Vendetta könnte nie aufhören, das Ballspiel bis zur Erschöpfung weitergehen, der Krieg sich unablässig von Neuem entzünden.6

      Dass dies nicht nur Interaktions-, sondern auch Kommunikationsmuster vieler Wettkämpfe prägt, liegt auf der Hand.7 Einerseits ordnen viele mittelalterliche Streitdialoge ihre Redeabfolge nach dem Alternanzprinzip:8 »Also seczt der clager je ein cappittel vnd der Tot das ander bis an das ende«, wie Johannes von Tepl seinem Rede-krieg zwischen Bauer und Tod vorausschickt.9 Das Alternanzprinzip formiert die Dilemmastruktur von Gattungen wie dem altfranzösischen ›jeu-parti‹,10 die zwei Streitpartner im Wechsel gegeneinander verbindet. Andererseits beschränkt sich Alternanz als Grundprinzip keineswegs auf den regelmäßigen Wechsel bloß zweier Seiten: Viele Wettkämpfe vollziehen sich natürlich weniger geordnet, weniger abgestimmt und weniger einfach rhythmisiert, als es Hénaffs Paradigma des regelgebundenen Schachspiels nahelegt.

      Um diese Beobachtungen in einem Modell zu verbinden, das konkrete Textanalysen und kulturtheoretische Abstraktion vermittelt, greife ich zweitens auf die formale Theorie des Unterscheidens zurück, die George Spencer-Brown 1969 unter dem Titel »Laws of Form« skizzierte. Außerhalb ihrer mathematisch-logischen Theoriezusammenhänge ist sie durch Niklas Luhmann bekannt geworden, der sie als maßgeblichen Baustein seiner Theorie sozialer Systeme einfügte, doch scheint mir ihr Anregungspotential vor allem diesseits systemtheoretischer Anverwandlung wertvoll und neu bedenkenswert. Für die vorliegende Untersuchung genügt es, ihre wichtigsten Grundzüge zu vergegenwärtigen.11 Allgemein gilt: Wer beobachtet, trifft eine Unterscheidung (›distinction‹), wobei aktual je eine Seite dieser Unterscheidung im Unterschied zur anderen Seite hervorgehoben wird (›indication‹). Jeder Akt des Bezeichnens erzeugt somit eine Form in einem zugehörigen Kontext, einem Raum, in dem Verschiedenes beobachtet werden kann, während von allem anderen abgesehen wird. Für diese dreistellige Operation, die Unterscheidung, Bezeichnung und Raum verbindet, führt Spencer-Brown das berühmt-berüchtigte Hakensymbol () ein. Es fasst in symbolischer Abstraktion die Aufforderung zusammen, zum Zweck des Bezeichnens eine Unterscheidung in einen (andernfalls unmarkierten, unverletzten) Raum einzutragen und auf dessen Innenseite (also in den Kontext der etablierten Unterscheidung) hinein zu überschreiten, zu ›kreuzen‹; Spencer-Brown nennt daher das Operationssymbol von Unterscheidung und Bezeichnung insgesamt ›cross‹.12 Damit entsteht eine zweiseitige Form, deren Außenseite im Akt der Unterscheidung selbst unmarkiert bleiben muss – auch wenn sie natürlich zum Anlass neuer Anschlussoperationen werden kann, die gerade diese Außenseiten hervorheben und damit bezeichnen.

      Sowohl im Hinblick auf Wettkämpfe als auch im Hinblick auf kulturelle Vergleichsformen ist dies ein wichtiger Gedanke, verdeutlicht Spencer-Brown damit doch die kontextbildende Kraft von Differenz. Bezeichnungen etikettieren nicht einfach vorgängige Verhältnisse, sondern rufen Relationen zuallererst hervor und kartieren ihr Terrain. Wann immer in den nachfolgenden Textanalysen also von ›Seiten‹ oder ›Kontexten‹ einer Unterscheidung die Rede ist, die Wettkämpfe konstituieren oder überschreiten, macht dieser Grundgedanke darauf aufmerksam, dass Erzählakte nicht einfach bestehende semantische Kontexte abrufen, sondern aktiv skizzieren, heranziehen und ordnen. Spencer-Browns Unterscheidungstheorie versucht somit, eine pragmatische Konstruktionsaufforderung schrittweise zu entfalten: »Draw a distinction.«13 Unterscheiden vollzieht eine Handlung, die zuallererst