Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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zurück, die eher disziplinären und theoretischen Einordnungen als analytischen Aufgaben dient.

      Dieser Befund ist weder neu noch kontrovers, sondern spiegelt eine normalisierte Begriffspraxis der Kulturwissenschaften, die ihre Begründungsdebatten weit hinter sich gelassen hat. Wozu leistet sich die mediävistische Literaturwissenschaft dann aber (weiterhin) ein derart vielgestaltiges Konzept wie Kultur, wenn konkrete Textanalysen zumeist davon Abstand nehmen? Wozu investiert die Mediävistik differenzierte Aufmerksamkeit für anzitierte Kulturbegriffe, wenn sie diese kaum interpretativ ausmünzt? Das Argument der Kultur hat dadurch einen geisterhaften Status bekommen: Aufdringlich und ungreifbar, vielbeschworen und selten genutzt, scheint der Kulturbegriff auf eigentümliche Weise unverzichtbar und überschüssig zugleich geworden.

      5.4 Angebote allgemeiner Kulturtheorien

      Fraglich ist mehr denn je, wie sich das Pluralisierungspotential von Kulturkonzepten methodisch in die Beschreibung vormoderner Texte einbringen lässt. Wenig deutet derzeit darauf hin, dass Vorschläge hierzu aus dem Kreis allgemeiner Kulturtheorie zu erwarten sind. Begriffsgeschichtliche Bestandsaufnahmen und Überblicke zu Leitkonzepten der Kulturwissenschaften fallen meist ernüchternd aus – auch über die bereits betrachteten Darstellungen (s.o. Kap. I.5.1) hinaus. Mediävistisch einschlägige Stichworte werden in der Regel ohne Hinweise zur Vormoderne umrissen.1 Wo historische Perspektiven angedeutet werden, beschränken sich diese, teilweise mit Rückgriffen auf antike Grundlagen, vorzugsweise auf die Neuzeit.2 Begriffsgeschichten von »Kultur« setzen vorzugsweise seit dem 16. Jahrhundert an3 oder richten ihr Augenmerk auf das »Zeitalter von Globalisierung«.4 Wird die »Notwendigkeit einer transparenten Bestimmung des zugrunde gelegten [Kulturbegriff]s« betont, bleibt in der Regel offen, welche Vorläuferkonzepte in Gesellschaften vor dem 18. Jahrhundert zur Verfügung stehen.5 Gelegentlich werden Kontinuitäten unterstellt, deren Entwicklung oder Lücken jedoch nicht genauer beleuchtet werden: Theorien kultureller Semiotik ließen sich etwa »bis Cicero zurückverfolgen«, setzten aber »im engeren Sinn […] bei E. Cassirer« ein;6 Semantiken der ›Pflege‹ reichten von religiösen Kulten der Antike bis zu neuzeitlichen Praktiken der Kultivierung.7 Kulturperspektiven der Vielfalt werden der mittelalterlichen Gesellschaft sogar pauschal abgesprochen, wenn man allein auf die (vermeintliche) Dominanz religiöser Normen verweist oder umgekehrt den Buchdruck zur Epochentechnologie überhöht, welche erst ab dem 16. Jahrhundert die »Vielfalt der Kulturen explodieren« lasse.8 Unschwer ist hinter solchen Argumentationen vor allem das Interesse an modernen Umgangsweisen mit Differenz zu erkennen (was auch immer ›modern‹ im jeweiligen Zusammenhang heißen mag).9 Kulturtheoretisch ist das Mittelalter jedoch weitgehend in ein Dunkelfeld gewandert, das entweder marginalisiert wird oder im Namen alter Großthesen Erwähnung findet.10

      Insgesamt erweckt dies nicht nur den Eindruck ungleicher Aufmerksamkeit, sondern bezeugt gravierende Verschiebungen zwischen Kulturtheorie und historischer Erforschung. So sehr Arbeiten der kulturwissenschaftlichen Mediävistik bestrebt sind, Ideen und Begriffe der allgemeinen Kulturtheorie zu importieren, so wenig scheint diese interessiert, ihre Ansätze zu historisieren. Umgekehrt käme keiner mediävistischen Untersuchung in den Sinn, ihre Gegenstände nicht als kulturelle Größen zu betrachten – doch was ›kulturell‹ dabei präzise heißt, erhellt sich allenfalls im Rahmen von Einzelstudien, kaum jedoch in übergreifender Reflexion. Wie vergangene Kulturen zu beschreiben sind, die sich selbst nicht mit generalisierten Kulturbegriffen belegen, wird demnach weder vom Theoriediskurs der Mediävistik noch von Kulturtheorien zufriedenstellend beantwortet. Anhand von mittelalterlichen Erzählformen des Wettkampfs wollen die vorliegenden Studien einen Vorschlag in diese Richtung erarbeiten.

      6 Zielsetzungen: Wettkampfkulturen – Formen der Pluralisierung

      Das Thema der Arbeit lässt sich einfach benennen: Es geht um narrative Vervielfältigung einfacher Formen des Wettkampfs. Doch zeigten die Vorsondierungen zugleich eine Reihe von Schwierigkeiten, die einfache Fragen und Antworten verwehren:

      1 Einfachheit und Vielfalt besitzen nicht nur weitverzweigte Begriffsgeschichten und lassen sich auf verschiedenste Dimensionen von Erzähltexten beziehen, sondern können Formen auf unterschiedlichste Weise bestimmen. Während klassische Komplexitätsannahmen Einfachheit und Vielfalt als Pole gegenüberstellen oder als Skalierungsstufen verstehen, erzeugen mittelalterliche Erzählungen vielfach Phänomene, die auf seltsame Weise einfach und vielfältig zugleich erscheinen.

      2 Formen von Einfachheit und Vielfalt unterliegen dabei historischem Wandel und reflektieren ihrerseits den historischen Wandel von Differenzierungspraktiken. Wenn die Organisation von Vielfalt in der Neuzeit mit Kulturbegriffen gebündelt wird, zeichnet sich an Verhältnissen von Einfachheit und Vielfalt zugleich die Genese von Kulturalität ab. Während kulturwissenschaftliche Forschungen diese Prozesse häufig an Diversitäts- und Kontingenzperspektiven messen, drohen dahinter die Vervielfältigungsformate vormoderner Kulturalität zu verschwinden.

      3 Die Frage nach den Selbstbeschreibungen mittelalterlicher Kulturalität führt damit unweigerlich zur Frage, inwiefern die Neigungen der modernen Kulturwissenschaften zu offenem Pluralismus und irreduzibler Vielfalt gerade die historischen Spielräume solcher Vervielfältigung verdecken, wenn nicht sogar verzerren. Auch in der Mediävistik verführt die Frage nach Einfachheit und Vielfalt zu unbehaglichen Übertragungen, die vormoderne Literatur entweder auf implizite Modernisierungsperspektiven verpflichten oder umgekehrt zur (oft ebenso pauschalen) Überzeichnung ihrer Alterität führen.

      4 Einfachheit und Vielfalt verschränken und potenzieren sich in Formen, unter denen Wettkämpfe in der mittelalterlichen Literatur besonders prominent sind. Ihr Verhältnis ist in vielen Fällen paradox: Einfache Oppositionsstrukturen verbinden sich in Schleifen, Rekursionen, Verschiebungen und Wiederholungen zu schwierigen Komplexen, die sich in unterschiedlichsten Gattungszusammenhängen finden. Wie sich im Blick auf klassische Ansätze der Streitsoziologie, aber auch angesichts der mediävistischen Forschung zu Agonalität zeigte, bereiten jedoch gerade diese paradoxen Umschläge von Einfachheit in Komplexität, von klar bestimmter in unbestimmte Ordnung hartnäckige Theorieprobleme.

      Daraus ergeben sich neue Wege. Wenn viele Kulturbegriffe Bedingungsrahmen oder Praktiken des Vergleichens bezeichnen – wo lassen sich diese Bedingungen und Praktiken auch diesseits der Begriffe finden? Methodisch suchen die nachfolgenden Studien nach Antworten, indem sie mit sorgfältigen Beschreibungen von Einzeltexten und ihren Erzählformen ansetzen, ihre formalen Züge schrittweise abstrahieren und diese Einzelbefunde vergleichen. Die Analysen verfolgen dabei drei aufeinander aufbauende Fragen:

      1 Wettkampfanalytische Fragestellung: Welche Formen von Vielfalt produzieren Erzählungen, die mit der Erzählform des Wettkampfs experimentieren?Wenngleich Wettkämpfe besonders eindrückliche Motive und Semantiken darbieten, lässt sich ihre funktionale Leistung der Vervielfältigung eher an ihren Formen ablesen, die viele Ebenen prägen. Die folgenden Untersuchungen legen dafür ein formales Verständnis zugrunde, das Wettkampf als einfache Potenzierungsstruktur versteht, die zwischen Einheit und Differenz oszilliert und dabei Komplexität aufbaut.1 In textnahen Analysen ist zu untersuchen, zu welchen Gestalten volkssprachige Erzähltexte diese allgemeine Form konkretisieren und modifizieren, auf welchen narrativen Ebenen diese Formen wirksam werden (Handlungsstrukturen und Figuren, Erzählinstanzen und Diskursebene),2 welche Reichweiten diese Formen im Textzusammenhang entfalten und schließlich, welche Stabilität sie dabei entwickeln oder welche Transformationen sie dabei durchlaufen. Im ersten Schritt werden damit Wettkampfnarrative erschlossen, die sich nach den genannten Parametern höchst unterschiedlich zeigen – von den Wettkämpfen heldenepischer Texte und Artusromane bis zu Heiligenlegenden und religiösen Erzähltraditionen vom Seelenkampf, von ›artes‹-Dichtungen im Umfeld scholastischer Disputation bis zum Erzählwettstreit mittels Exempeln. Höchst unterschiedlich sind auch die narrativen Effekte zu bestimmen, die im Einzelnen aus der Spannung von Wettkampfformen hervorgehen: Paradoxien von Divergenz und Konvergenz können offen hervorgetrieben werden und in Krisen und Blockaden, Auflösungen oder Abbrüche münden – aber ebenso verdeckt und überlagert werden, auf verschiedene Erzählebenen oder andere Kontexte verschoben werden. Solche und andere Möglichkeiten, die den Umgang mit Differenzzusammenhängen vielfältiger machen, gilt es an prägnanten Fallbeispielen zu erkunden.

      2 Komplexitätstheoretische